Автор: PohikeAnnette   Pohike Reinhard  

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ISBN: 3-7608-1967-2

Год: 2001

Текст
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Deutsche Redewendungen
aus dem Lateinischen


Alle Wege führen nach Rom
Annette und Reinhard Pohlke Alle Wege führen nach rom Deutsche Redewendungen aus dem Lateinischen Mit 15 Illustrationen von Margarete Moos Artemis & Winkler
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Pohlke, Annette: Alle Wege führen nach Rom: Deutsche Redewendungen aus dem Lateinischen / Annette Pohlke / Reinhard Pohlke. - Düsseldorf; Zürich: Artemis und Winkler, 2001 ISBN 3-7608-1967-2 ©2001 Patmos Verlag GmbH & Co. KG Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf/Zürich Alle Rechte, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks sowie der fotomechanischen und elektronischen Wiedergabe, vorbehalten. Umschlagmotiv: Marc Aurel als Triumphator hält Einzug in Rom. Relief vom Ehrenbogen des Marc Aurel (um 1 70-180 n. Chr.). Rom, Palazzo dei Conservatori © E. Thiem, Lotus Film, Kaufbeuren Umschlaggestaltung: Groothuis & Consorten, Hamburg Satz: Fotosatz Moers, Mönchengladbach Druck und Verarbeitung: Wiener Verlag, A-Himberg ISBN 3-7608-1967-2 www.patmos.de
Inhalt Vorwort 7 Abkürzungsverzeichnis 12 Lexikonteil • von »ad absurdum führen« bis »Im Zweifel für den Angeklagten« 13 Literaturhinweise 179
Vorwort Alltägliches Latein Als gesprochene Sprache mag Latein für uns »tot« sein - als Bestandteil unserer Sprache ist es ein höchst lebendiger Teil unserer Alltagskultur. Hier ist nicht nur an die Fülle von Lehn- und Fremdwörtern lateinischer Herkunft zu denken (z.B. »Pflanze«, »Küche«, »Kaiser«, »multikulturell«, »sensibel«), sondern auch an deutsche Wendungen, die lateinische Wörter enthalten (z. B. -> das Fazit ziehen, -> im Orkus verschwinden, -> Usus sein). Hinzu kommen jedoch auch - und darum geht es vornehmlich in diesem Buch - gut deutsche Redensarten wie -> »sich mit Händen und Füßen wehren«, -> »den Nagel auf den Kopf treffen« oder -> »in den Tag hinein leben«, die keine lateinischen Wörter oder Eigennamen enthalten, aber doch lateinischen Ursprungs sind. -> »Hand und Fuß haben«, -> »dümmer als dumm«, -> »das Hemd ist mir näher als der Rock«, -> »mit Zuckerbrot und Peitsche« - all dies existierte entweder bereits lateinisch oder geht auf sehr ähnliche lateinische Vorlagen zurück. Bezeichnenderweise sind es oft gerade umgangssprachliche Wendungen (auffindbar schon in der lateinischen Komödiendichtung oder Briefprosa), die sich bis heute erhalten haben: Sie dürften weiter verbreitet und fester verwurzelt gewesen sein als manche gelehrte Ausdrucksweise, so daß sie unterhalb der literarischen Oberfläche in den romanischen Sprachen und auch im Deutschen ihren Niederschlag fanden. Ein Großteil lateinischer Wendungen hat bereits im Mittelalter (seit der Christianisierung auf dem Wege der lateinischen Amts- und Kirchensprache) oder im Humanismus, dem Zeitalter der Wiederentdeckung der Antike um 1500, auf das Deutsche eingewirkt. Wegen der vielen damals modischen lateinischen »Stilblüten« (»flores Latini«) sprach der Humanist Jakob Wimpfeling (1450-1528) von einem »verbliemten Dutsch« (verblümten Deutsch). Maßgeblicher Förderer dieser Tendenz war Erasmus von Rotterdam: In seinem Werk »Adagia« (»Sprichwörter«; in mehreren Auflagen, zuerst Paris 1500 erschienen) stellte er mehrere tausend lateinische und griechische Sprichwörter mit gelehrter Erklärung ihrer antiken Bedeu- 7
tung und Entstehung samt Anmerkungen über ihren zeitgenössischen Gebrauch zusammen; durch die Fülle des dargebotenen literarischen Materials wie durch den Charme und Humor der Darstellung hat diese Sammlung breite Wirkung entfaltet. Später haben vor allem die deutschen »Klassiker« (-> klassisch) wie Goethe und Schiller, aber auch die Antikenbegeisterung des 19. Jahrhunderts lateinische Wörter, Ausdrucks weisen oder Sprichwörter aufgenommen, bekannt gemacht oder eingedeutscht.1 Heute findet sich Lateinisches in unserer gesamten Kultur: in Literatur und Musik, in Rundfunk und Fernsehen (auch außerhalb von »Viva«, »Vox«, »Pro« 7 und »Super« RTL), Zeitungen und Zeitschriften, in Namen von Produkten, Firmen und Organisationen. Wenn sich beispielsweise eine Versicherung »Agrippina« nennt, kann einem fast mulmig werden, wird doch über Agrippina die Jüngere (16-59 n. Chr.) berichtet, daß ihr eine ganze Reihe absurder »Unfälle« zustieß - allesamt inszeniert von ihrem Sohn Nero, der so ihr Ableben zu beschleunigen suchte; ein näherer Blick auf den Firmensitz Köln (das lateinisch nach Agrippina als »Colonia Claudia Ära Agrip- pinensium« benannt war) enthüllt allerdings den tatsächlichen Zusammenhang. Daß neben all diesem auch vieles, was ein fester Bestandteil des Deutschen geworden und nicht gleich auf den ersten Blick als Latein erkennbar ist, auf das alte Rom zurückgeht - dafür möchte dieses Buch den Blick schärfen und Hintergründe beleuchten. Zum Inhalt Alle Stichworte dieser Sammlung haben gemeinsam, daß es sich um idiomatische, also bildhafte Redewendungen handelt. Mit ihnen ist in der Regel etwas Übertragenes gemeint, d.h. etwas anderes, als es der bloße Wortlaut sagt: Wenn wir zum Beispiel einen -> »Triumph« feiern, nehmen wir nicht tatsächlich an einem altrömischen Ritual teil, sondern wollen damit zum 1 Die breite und stetige Wirkung der römischen Antike und des Lateinischen auf die europäische Kultur soll hier nicht ausführlicher beleuchtet werden. Als Einführung empfehlen wir dazu: Latein und Europa. Traditionen und Renaissancen, hg. von Karl Büchner, Stuttgart 1978, sowie: Christoph Höcker, DuMont Schnellkurs Antikes Rom, Köln 1997, S. 124 ff. 8
Ausdruck bringen, daß wir einen ebenso großen Erfolg errungen haben und ebenso deutlich Anerkennung dafür finden wie ein römischer Triumphator an seinem Ehrentag. Bildhafte Rede ist durch verschiedene Gruppen von Redensarten möglich, die im Lexikonteil dieser Sammlung alphabetisch ineinander sortiert sind: a) bildkräftige Einzelwörter, d. h. Begriffe aus der lateinischen Literatur, Mythologie, Geschichte oder Kulturgeschichte, die im Deutschen übertragen gebraucht werden (z. B. -> »Mäzen«, -> »Plebs«, -> »Volkstribun«, -> »Brot und Spiele«); b) deutsche sprichwörtliche Redensarten, die lateinische Wörter oder Begriffe aus der römischen Welt enthalten (z. B. -> »ad acta legen«, -> »jemanden Mores lehren«, -> »unter den Auspizien«) oder bereits in gleichem oder ähnlichem Wortlaut im Lateinischen existiert haben (z. B. -> »vor Neid platzen«, -> »Gleiches mit Gleichem vergelten«, -> »im gleichen Boot sitzen«, -> »nicht bis fünf zählen können«); c) »echte« Sprichwörter, also Sätze, die eine feste Formulierung aufweisen (z. B. -> »Die Würfel sind gefallen«, »Ein Unglück kommt selten allein«). Bei allen drei Arten wird stets vom Deutschen ausgegangen, so daß lateinische Sentenzen und Wahlsprüche, deren deutsche Fassung nicht sprichwörtlich ist, hier fehlen müssen (z. B. »Dum Spiro, spero« - »Solange ich lebe, hoffe ich«). Ebenso fließen rein lateinische Floskeln und Phrasen (»nolens volens«, »cura posterior«, »ad libitum«) zwar durchaus häufig in deutsche Sätze ein; doch hätte es den Rahmen dieses Bandes bei weitem gesprengt, auch sie noch aufzunehmen. Hierfür seien andere Werke empfohlen.2 Der Übergang von sprichwörtlichen Redensarten zu Sprichwörtern ist bekanntlich recht fließend. -> »Aus der Not eine Tugend machen« ist beispielsweise eine Redensart, da die Worte in verschiedenen Zusammenhängen unterschiedlich gestaltet und ausgeformt werden können, etwa: »Ich habe damit aus der Not eine Tugend gemacht.« oder: »Laßt uns aus der Not der zu Hause vergessenen Kreditkarte eine Tugend des Sparens machen!« Sobald man jedoch sagt: »Man muß aus der Not eine Tu- 2 Im Anhang zusammengestellt sind diese Phrasen und Floskeln bei Bartels (siehe die Literaturhinweise) sowie bei B. Kytzler/L. Redemund, Unser tägliches Latein. Lexikon des lateinischen Spracherbes, Mainz 1992 u. ö. 9
gend machen!«, liegt ein Sprichwort vor, da man nun eine allgemeingültige Erfahrung und Einsicht ausspricht. Die dann gewählte Formulierung ist erstarrt und kann nicht nach Belieben verändert werden. Formeln und Ausrufe wie -> »Euch werd' ich...« oder -> »Das Spiel ist aus!« sind zwar ebenfalls starr, aber wiederum eng in unterschiedliche Zusammenhänge eingebettet und damit als Redensarten anzusehen. Auch das Zitat an passender Stelle (z.B. »Ich kam, sah und siegte«, »Teile und herrsche!«) ist eine Art der übertragenen Rede, da mit der Zitierung eine bestimmte Botschaft an den Gesprächspartner verbunden ist. Doch da Zitate kaum zur alltäglichen Art zu reden gehören, soll auf sie hier bewußt verzichtet werden und nur auf die gängigen Zitatenlexika verwiesen werden.3 Allerdings sind auch Aussprüche in dem Falle aufgenommen worden, daß sie im Deutschen nicht mehr als Zitat empfunden werden und damit wieder zu einer Redensart oder einem Sprichwort geworden sind (z. B. -> »Das sieht sogar ein Blinder!«, -> »Die Würfel sind gefallen«, -> »Die Gedanken sind frei«, -> »Das Hemd ist mir näher als der Rock«).4 Sehr häufig ergab sich das Problem, daß nicht alles, was lateinisch und deutsch überliefert ist (z. B. »dum ferrum candet, tundendum est« - »Man muß das Eisen schmieden, solange es heiß ist«), auch der Herkunft nach tatsächlich eine lateinische Redensart ist. Da Latein bis vor gut 100 Jahren eine häufig genutzte Sprache und darüber hinaus ein hochgeschätztes Bildungsgut war, wurde auch eine ganze Reihe deutscher Sprichwörter früher oder später ins Lateinische übersetzt und fand so ihren Weg in verschiedene Spruchsammlungen. Aus dieser besonderen Stellung des Lateinischen erklärt sich auch der bemerkenswerte Umstand, daß lateinische Redewendungen sogar in umgangssprachliche Redewendungen Eingang gefunden haben (z. B. -> »intus haben«, -» »Tabula rasa machen«). Schließlich wird man manches, was gemeinhin als deutsches 3 Karl Bayer, Expressis verbis. Lateinische Zitate für alle Lebenslagen, Zürich/Düsseldorf 1 996; Hubertus Kudla (Hg.)/ Lexikon der lateinischen Zitate. 3500 Originale mit Übersetzungen und Belegstellen, München 1999. 4 Zur Entstehung einer sprichwörtlichen Redensart (oder eines Sprichworts) aus einem Zitat sagt Röhrich 1,29 treffend: »Ein Zitat wird dann zu einer Redensart, wenn es anonym, verfügbar geworden ist, wenn eben nicht mehr >zitiert< wird. In dem Augenblick, wo bei einem Zitat der literarische Urheber vergessen wird, ist der Schritt zur Redensart schon getan.« 10
Sprichwort aus dem Lateinischen gilt (z. B. »Eine Hand wäscht die andere« - »manus manum lavat«), vergeblich suchen, da es eigentlich griechischer Herkunft ist und deshalb bereits in dem entsprechenden Band über Redensarten aus dem Griechischen Aufnahme gefunden hat, der im Jahr 2000 bei Artemis & Winkler erschienen ist.5 Hilfreiche Hinweise Die hier alphabetisch aufgelisteten Begriffe und Wendungen sind im heutigen Deutsch zumeist noch gang und gäbe; wenn sie hingegen nur noch selten oder fast gar nicht mehr gebraucht werden, sind sie mit einem Stern (*) markiert. Der kleiner gesetzte Teil am Ende jedes Artikels enthält Stellennachweise und verschiedene Hinweise auf benutzte oder weiterführende Literatur, auf literarische Nachwirkung oder Verwendungsbeispiele sowie auf Entsprechungen in anderen Sprachen (vgl. das folgende AbkürzungsVerzeichnis, dort findet sich auch ein Hinweis bezüglich der Abkürzungen der antiken und mittelalterlichen Quellen sowie der Textsammlungen). Vollständigkeit ist bei all diesen Anmerkungen verständlicherweise weder jemals erreichbar noch überhaupt beabsichtigt, weshalb auch mehrfach nur auf weiterführende Werke verwiesen wird. Für Ergänzungsvorschläge sind wir - ebenso wie für Kommentare und Hinweise aller Art - dem mitdenkenden Leser jederzeit dankbar und bitten um Mitteilung unter der E-Mail-Adresse reinhard@pohlke. de. Nun wollen wir aber die Sache für sich selbst sprechen lassen (-> Die Sache spricht für sich). Wir wünschen dem Leser oder der Leserin, bei der Lektüre keinesfalls -> Blut, Schweiß und Tränen zu vergießen, sondern einige neue Einblicke in die deutsche Sprache wie auch in die römische Welt zu gewinnen, die es hoffentlich oft ermöglichen, -> das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. 5 Reinhard Pohlke, Das wissen nur die Götter. Deutsche Redensarten aus dem Griechischen, Düsseldorf/Zürich 2000. 11
Abkürzungsverzeichnis Zum Anmerkungsapparat L Nachweise in der neuzeitlichen Literatur zu den sprachlichen Ausführungen des Stichworts; daneben ggf. spezielle historische, religionsgeschichtliche, kunstgeschichtliche etc. Literatur zu den verwendeten antiken Motiven 1,2... Nachweise zu einzelnen Details der Ausführungen B Ausgewählte Textbeispiele für die Verwendung des Wortes oder der Wendung in der Literatur; daneben Beispiele für die Rezeption eines Motivs in der Literaturgeschichte, d. h. Nennung von Dramen, Gedichten, Opern etc. S Entsprechungen in anderen Sprachen Sonstige Abkürzungen * a ä Abb. Adj. ahd. altind. Bez. dän. dass. ders. dt. ed. Einl. engl. Fr. frz. griech. hebr. ital. Kap. lat. wenig oder fast nicht mehr in Gebrauch lang ausgesprochener Vokal (z. B. hier langes a) betonter Vokal (z. B. Gany- med) Abbildung(en) Adjektiv (Eigenschaftswort) althochdeutsch altindisch Bezeichnung dänisch dasselbe derselbe deutsch [editus =] herausgegeben von... Einleitung englisch Fragment(e) französisch griechisch hebräisch italienisch Kapitel lateinisch Lit. mhd. ndl. 0. o.g. o.j- o.O. o.Z. PI. Pt. Schol. sg- S. 0. sog. Sp. Subst. s.v. Taf. u. u. ö. V. v. a. Z. Literatur mittelhochdeutsch niederländisch oder oben genannt ohne Jahr ohne Ort ohne Zählung Plural (Mehrzahl) Partizip (Mittelwort) Scholien (antike Textkommentare) Singular (Einzahl) siehe oben sogenannt Spalte(n) Substantiv (Hauptwort) [sub voce] unter dem Stichwort ... Tafel(n) und und öfter Vers(e) vor allem Zeile(n) Antike Autoren und ihre Werke werden in der allgemein üblichen Weise abgekürzt zitiert, desgleichen Sammelwerke und Lexika (vgl. die Verzeichnisse im Kleinen Pauly, Bd. 1). 12
A AD ABSURDUM FÜHREN (»zum Sinnlosen« / bis zum Widersinn führen) etwas durch Überspitzung kritisieren, die Unsinnigkeit einer Sache aufzeigen. Die Wendung enthält das lateinische Adjektiv »absurdus« (»mißtönend, sinnlos«), von dem auch das deutsche Lehnwort »absurd« kommt. »Ad absurdum geführt« ist eine Sache also dann, wenn ihre Widersinnigkeit deutlich vor Augen steht. Beispielsweise sagt in Johannes Mario Simmeis Roman »Der Stoff, aus dem die Träume sind« der Erzähler, der bisher nur seinen Sinneswahrnehmungen traute:1 »Heute weiß ich, daß es sich in der Tat andersherum verhält: Was ich (und das gilt für alle Menschen) sehe, sage, höre, wird vom nächsten Moment bereits überholt und ad absurdum geführt.« L: Bartels 196; Duden 11,27; Mletzko 140. 1: München 1971, S. 361. durch (seine) Abwesenheit glänzen auffällig abwesend sein. Im alten Rom war es üblich, bei Leichenbegängnissen der adligen Familien die Bilder der Vorfahren (imagines maiorum) der Leiche voranzutragen. Der römische Historiker Tacitus berichtet nun, daß im Jahre 22 n. Chr. Iunia Tertulla, die Witwe des Cassius und Schwester des Brutus, mit allen Ehren bestattet werden durfte, obwohl sie den amtierenden Kaiser Tiberius in ihrem Testament nicht bedacht hatte. Die Bildnisse des Brutus und des Cassius durften aber - entgegen der üblichen Sitte - nicht im Leichenzug mitgeführt werden, da diese im Jahre 44 v. Chr. C. Iulius Caesar, den Begründer des iulisch-claudi- schen Kaiserhauses, ermordet hatten (vgl. -> Auch du, mein Sohn Brutus!). Tacitus bemerkt dazu am Schluß seines Berichts: »Aber Cas- 13
sius und Brutus leuchteten gerade dadurch hervor, daß ihre Bildnisse nicht zu sehen waren.«1 Der französische Revolutionsdichter Marie-Joseph de Che- nier (1764-1811) hat diese Stelle in seiner Tragödie »Tibere« (1819) so wiedergegeben:2 »Brutus et Cassius brillaient par leur absence«. Von dort ist die Wendung ins Deutsche eingegangen. L: Borchardt-Wustmann-Schoppe 24; Böttcher 340-341 (Nr. 2141-2142); Duden 11,25 und 12,135; Macrone 180-181. 1: Tac. Ann. 3,76: »Sed praefulgebant Cassius atque Brutus eo ipso quod effigies eorum non visebantur.« 2: 1,1. S: Engl. »Conspi- cuous by his absence« (zuerst durch Lord john Russell 1859: Macrone 180); frz. »briller par son absence«. AD ACTA LEGEN auf etwas nicht mehr eingehen, etwas nicht weiter bearbeiten, als erledigt betrachten. Das Gegenteil davon ist (amtlich:) * von einer Sache Akt nehmen: von etwas Kenntnis nehmen. Vgl.: Darüber sind die Akten noch nicht geschlossen: die Sache läuft noch. Die Wendung stammt aus der lateinischen Amtssprache: Wenn eine Behörde sich auf ein Gesuch oder anderes Schreiben nicht einließ und es nicht berücksichtigte, erhielt es den Vermerk »ad acta«, d.h. »zu den Akten«. Die »Akte« (lat. »actum«: »Verhandeltes«) enthält alles in einer Sache bereits Angefallene. Die übertragene Redensart »ad acta legen« erscheint seit der 2. Hälfte des 18. Jh. - Die zu allen Zeiten große Bedeutung der »Akten« wird auch durch ein nachantikes Sprichwort erhellt: »Was nicht in den Akten ist, ist auch nicht auf der Welt« (lat.: »Quod non est in actis, non est in mundo«).1 L: Bartels 196; Borchardt-Wustmann-Schoppe 26; Duden 11,27. 1: Reichert 51. Altweibergeschwätz albernes Gerede (auch: Altweibergewäsch); * altweibisch: albern, kindisch. Offenbar gaben schon die Römer so wenig auf Geschichten, die von alten Frauen erzählt werden, daß sie auch bei ihnen für Unglaubhaftes sprichwörtlich wurden: So spricht Cicero in be- zug auf sagenhafte Taten der göttlichen Zwillingsbrüder Kastor und Pollux von »altweiberhaften Geschichtchen« (»fabellae 14
aniles«),1 womit er soviel meint wie »Märchen« oder »erfundene Geschichten ohne Wahrheitsgehalt«. Auch Apuleius verwendet denselben Ausdruck im Sinne von »Lügengeschichten«.2 Im Deutschen erscheint das Adjektiv »altweibisch« seit dem 16. Jh., doch verwendet man heute nur noch das später unter Einbindung des »Geschwätzes« gebildete Substantiv.3 L: Grimm 1,275; Otto 28 (Nr. 121). 1: Cic. nat. 3,5,12. 2: Apul. apol. 25: »per nescio quas anilis fabulas«; weitere Beispiele nennt Otto 28 (Nr. 121). 3: Belege bei Grimm 1,275. aller Anfang ist schwer Alle Dinge fallen zu Beginn schwer, bald darauf aber leichter. Der lateinische Satz »Omne initium difficile« (»Aller Anfang ist schwierig«)1 ist nicht antik und wohl nur eine Latinisierung des gleichlautenden deutschen Sprichworts. Doch begegnet der Grundsatz in ähnlicher Formulierung schon in der Spätantike: Der Hl. Petrus Chrysologus, Erzbischof von Ravenna im 5. Jh., schreibt zu Beginn einer Rede von der jungfräulichen Geburt der Maria: »Von allen Dingen zwar sind die Anfänge hart, aber härter als alles sind die Anfänge einer Gebärenden.«2 Hier scheint der Gedanke bereits als Sprichwort im Hintergrund zu stehen, was von dem Philosophen und Politiker Boethius um 500 noch deutlicher gesagt wird: »Denn das Größte vielleicht von allem ist, wie man sagt, der Anfang, und daher auch das Schwierigste.«3 Eine ältere gleichbedeutende Redensart wird von dem Grammatiker Varro im 1. Jh. überliefert: »Die Tür ist beim Weg das Schwierigste«, d.h. das Losgehen.4 Goethe stellte die Gültigkeit des im Deutschen früh eingebürgerten Satzes in Frage und deutete an, daß es viel schwieriger sein kann, etwas fortzuführen und zu beenden als zu beginnen: »Aller Anfang ist schwer, das mag in einem gewissen Sinne wahr sein, allgemeiner aber kann man sagen, aller Anfang ist leicht.«5 Eine jüngere und noch hintergründigere Variante stammt von Fred Reinke: »Aller Anfang ist nur dann schwer, wenn man ihn sich zu leicht macht.«6 L: Fritsch 369; Grimm 1,324; Mletzko 8. 107; Otto 287 (Nr. 1472); Wander 1,80 (Anfang 1-8). 1: Wander 1,80 nennt auch die Varianten »Omne principium grave« (»Aller 15
Anfang ist schwer«) und »Omnibus in rebus gravis est inceptio prima« (»In allen Dingen ist der erste Anfang schwer«). 2: Petr. Chrysol. (PL 52,656): »Omnium quidem rerum primordia sunt dura, sed duriora sunt omnibus primordia generantis.« 3: Boeth. com- ment. in Cic. top. (Migne 64 col. 1040): »Maximum enim fortasse omnium, ut dicitur, principium, quare et difficillimum.« Eine sehr ähnliche griechische Fassung ist im Mittelalter überliefert: Append. prov. 1,41: »Der Anfang jeder Sache ist doch wohl recht schwer« (Äpxil 6t\ko\j naviöc, epyov xateJWikepöv eoii). 4: Varro rust. 1,2,2: »Portam itineri... longissimum esse«. 5: 21,50 nach Grimm 1,324. 6: Mieder, Antisprichwörter 3 mit Beleg. B: Die Erzählung »Vom schweren Anfang« (1950) von Eduard Claudius (1911-1974) wirbt um Produktionssteigerung in der jungen DDR. S: Engl. »The begin- nings are always hard«; ital. »Ogni principio e difficile«; ndl. »Het begin is altijd 't zwaar- ste«. Wehre den Anfängen! Schreite sofort ein, bevor das Problem größer wird! Vgl. das Sprichwort: * Wer will der Krankheit bald entgehn, der muß dem Anfang widerstehn. In seinen »Heilmitteln gegen die Liebe« vergleicht der römische Dichter Ovid die Liebe mit einem Baum, der aus kleinen Anfängen schließlich kräftig und unverrückbar wird; daher empfiehlt er: »Wie beschaffen es sei, was du liebst, blick dich raschen Sinnes um / und entziehe deinen Hals dem Joch (vgl. -> Caudinisches Joch), das dich verletzen will. / Wehre den Anfängen! Zu spät wird Medizin bereitet, / wenn die Übel über lange Zeit stark geworden sind.«1 Der Philosoph Seneca spielt auf diese Verse an, wenn er am Ende eines Briefes schreibt, daß sich ein weiser Mensch von keiner belastenden Beschäftigung in Anspruch nehmen lassen dürfe: »Den Anfängen jener wollen wir wehren!«2 In seiner »Trostschrift an Marcia«, der er mit philosophischen Ratschlägen über den Tod ihres Vaters hinweghelfen möchte, führt er den Gedanken weiter aus: »Wie alle Fehler sich tief festsetzen, wenn sie nicht, solange sie sich noch entwickeln, unterdrückt worden sind, so nähren sich auch diese trüben, unseligen und gegen sich wütenden Empfindungen zuletzt gerade aus der Verbitterung, und der Schmerz wird zu einer verkehrten Freude einer unglücklichen Seele. Ich hätte es daher gewünscht, in der ersten Zeit an diese Behandlung gehen zu können...«3 L: Bartels 140; Böttcher 76-77 (Nr. 433-434); Büchmann 334; Duden 11,38 und 12,514; Fritsch 41 7; Mletzko 8.15. 137. 140; Otto 287 (Nr. 1470); Reichert 231; Wander 1,80-82 (Anfang 31. 51. 55). 1: Ovid, rem. am. 89-92: »Quäle sit id, quod amas, celeri circymspice mgnte, / £t tua lassuro. sybtrahe cojla iugQ. / Principüs obsta; serQ mediana paratur, / Cum mala per longas CQnvalue/e moras.« Vgl. auch V. 81 und her. 16
Aller Anfang ist schwer.
17,190. 2: Sen. ep. 72,11: »principiis illarum obstemus«; vgl. ep. 116,3; dial. 5,10,2-3. 3: Sen. ad Marc, de consol. 1,7-8; vgl. allgemein Cic. Phil. 5,31,1: »Omne malum nas- cens facile opprimitur, inveteratum fit plerumque robustius« (Jedes Übel wird leicht unterdrückt, wenn es entsteht, gealtert wird es meistens kräftiger); Cato dist. 4,9. Griechische Vorläufer nennt Otto 287 (Nr. 1470). S: Frz. »II faut veiller aux commencements«. das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden sich oder anderen bei einer Pflicht oder Arbeit auch etwas Spaß gönnen. Der römische Dichter Horaz schreibt in seiner »Dichtkunst«: »Jede Stimme hat derjenige davongetragen, der das Nützliche mit dem Angenehmen gemischt hat, indem er den Leser zugleich erfreut und ermahnt.«1 In der griechischen Literaturtheorie wurden beide Forderungen nach Unterhaltung und Belehrung seit langem erwogen. Daher hat der Gedanke inhaltlich bereits griechische Vorläufer.2 Einige Verse zuvor formuliert Horaz die Polarität der Begriffe: »Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter / oder zugleich Vergnügliches und auch fürs Leben Brauchbares sagen« (lat.: Aut prodesse volunt aut delectare pogtae / aut simul £t iucunda et idQnea dicere v^ tae).3 Seit der Renaissance wurden diese zwei Grundfunktionen der Kunst erneut diskutiert. Goethe wandelte in der horazi- schen Formulierung »nützen oder erfreuen« das »oder« in ein »sowohl als auch« um und stellte sie als Motto dem Prolog »Neueröffnetes moralisch-politisches Puppenspiel« (1774) voran: »Et prodesse et delectare.« Noch heute kann man - auch ganz losgelöst vom Bereich der Dichtung - auf allen möglichen Gebieten das »Angenehme mit dem Nützlichen verbinden«. L: Bartels 126-127; Böttcher 75 (Nr. 420-^21); Büchmann 332; Duden 11,39 und 12,44; Mletzko 9. 91.1: Hör. ars 343-344: »Qmne tuHt punctum, qui miscuit utile dulci / Igctorgm delgctandQ parite/que mongndo«; »punctum« ist der Punkt, der bei der Auszählung der Stimmen hinter dem Kandidatennamen auf dem Wachstäfelchen eingestochen wird. 2: Siehe Büchmann 332. 3: Hör. ars 333-334. 18
einen Animus haben eine Vermutung haben. Diese umgangssprachliche Redewendung ist von lat. »animus« (»Geist, Gemüt«) abgeleitet; sie dürfte auf den gleichen lautlichen Beginn der Wörter »Ahnung« und »animus« (unkorrekt mit langem a gesprochen) zurückgehen, die wohl dazu animierte, in »eine Ahnung haben« die »Ahnung« auf scherzhaftgelehrte Weise durch die lateinische Vokabel zu ersetzen. in die Annalen eingehen in die Geschichte eingehen, unvergessen bleiben. »Annalen« (lat. »annales«: »Jahrbücher, Jahreslisten«, von lat. »annus«: »Jahr«) waren im antiken Rom die nach Jahren geordneten staatlichen Aufzeichnungen verschiedenster Ereignisse. Mit dem Aufkommen der Geschichtsschreibung ab etwa 200 v. Chr. wurde der Begriff »Annales« oft auch als Titel geschichtlicher Werke verwendet (z.B. von Tacitus). Auch im Mittelalter wurden von Klöstern und Domstiften Annalen geführt, die sich später zu Geschichtsschreibung weiterentwickelten und mit den Gattungen der Chronik und der Historie verschmolzen. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird »in die Annalen eingehen« anstelle von »in Erinnerung bleiben« verwendet, wenn man der betreffenden Sache Bedeutung, Erhabenheit oder offiziellen Charakter verleihen möchte. So schrieb z. B. Karl Marx im »Kapital«: »Und die Geschichte dieser ihrer Expropriation [d. h. die Ausbeutung durch die Bourgeoisie] ist in die Annalen der Menschheit eingeschrieben mit Zügen von Blut und Feuer.«1 L: Böttcher 520 (Nr. 3438); Duden 11,42.1: Marx-Engels, Werke 23,743 nach Böttcher 520. EINEN LANGEN ARM HABEN weitreichende Macht, großen Einfluß besitzen. In seinen »Heroides« (»Heldinnen«, geschrieben um 5 v. Chr.) fingiert der römische Dichter Ovid Briefe berühmter Frauen zumeist an ihre Männer oder Liebhaber, so auch eine Antwort der 19
schönen Helena an den Königssohn Paris, der sie nach Troja entführen will. Darin warnt sie ihn vor ihrem Ehemann, dem spartanischen König Menelaos: »Jener hat zwar die Segel gesetzt mit günstigem Wind nach Kreta, / du aber glaube daher nicht, daß alles erlaubt sei! / Mein Mann ist in der Weise abwesend, daß er mich auch abwesend noch bewacht - / oder weißt du nicht, daß Könige lange Arme haben?«1 Die Wendung war zu Ovids Zeit vielleicht schon sprichwörtlich, möglicherweise sogar im Griechischen, wo sie jedoch erst im Mittelalter als Sprichwort belegt ist.2 In Rom verwendet noch der Philosoph Seneca das Motiv in einem Brief, in dem er die Unangreifbarkeit der Seele beschreibt, die - von der Philosophie geschützt - jedem Schicksal standhalten könne: »Nicht hat, wie wir meinen, das Schicksal lange Arme: Niemanden überwältigt es, wenn er sich nicht an es klammert.«3 Erasmus von Rotterdam überliefert in seiner Sprichwörtersammlung »Adagia«, daß es geläufig sei zu sagen: »Vor Königen muß man sich hüten, da sie sehr lange Arme haben.« »Kein Wunder«, erläutert er, »da sie durch ihre Leute, derer sie sich anstelle ihrer Arme bedienen, auch weit Verstreute niederschlagen können.«4 Heute kann »einen langen Arm haben« auf Mächtige und Einflußreiche jeder Art bezogen werden. So läßt Max von der Grün in seinem Roman »Stellenweise Glatteis« einen Angestellten zu dem Erzähler Maiwald sagen, als dieser sich gegen seine fristlose Kündigung durch die Betriebsleitung auflehnt: »Laß das doch, du ziehst nur den Kürzeren, ich kenn das, die haben einen langen Arm.«5 L: Böttcher 77 (Nr. 435); Büchmann 334; Duden 12,292; Grimm 1,553; Otto 210 (Nr. 1037); Wander 1,128 (Arm 8.12.14. 29. 34). 1: Ov. her. 17,163-166; V. 166 lautet lat: »An nescis longas rggibus esse manys?« 2: Apost. 11,7a; vgl. bereits im 3. Jh. Herod. 8,440. 3: Sen. ep. 82,5: »Non habet, ut putamus, Fortuna longas manus: neminem occupat, nisi haerentem sibi.« 4: Er. ad. 1,2,3: »Nimirum, quod per suos, quibus bra- chiorum vice utuntur, possint etiam procul dissitos affligere.« 5: Max von der Grün, Stellenweise Glatteis, Darmstadt 1973, Sonderausgabe 1986, S. 307-308. Armutszeugnis Erweis mangelnder Fähigkeit; Blöße; v. a.: ein A. für jdn. sein, sich ein A. ausstellen; auch * Armutsschein. Der römische Gelehrte Varro leitete im 1. Jh. v. Chr. den Begriff »paupertas« (»Armut«; etymologisch von »paucus«: »wenig« 20
und »parere«: »schaffen«) vom Adjektiv »parvus« (klein, gering) ab: »Und das Geld war gering: Daher wird bei demjenigen von >Geringheit< gesprochen, bei dem ein großes Zeugnis von Armut ist.«1 Vielleicht durch diesen Wortgebrauch angeregt, bezeichnete man seit der Neuzeit als »testimonium paupertatis« (»Armutszeugnis«) eine behördliche Bescheinigung der Bedürftigkeit für denjenigen, der das Armenrecht (d.h. Prozeßkostenhilfe und Stellung eines Anwalts) in Anspruch nehmen möchte. Im übertragenen Sinne wurde es anschließend zur Bezeichnung für eine Offenbarung geistiger Mittellosigkeit. L: Bartels 208; Duden 11,52; Grimm 1,563. 1: Varro, De vita populi Romani, fr. 10 (bei Non. 43 M.): »pecuniaque erat parva: ab eo paupertas dicta, cuius paupertatis ma- gnum testimonium est.« Arzt, heile dich selbst! Wende deine Fähigkeiten zuerst an dir selbst an, bevor du sie anderen anbietest! Um den Ruf von Ärzten war es schon in der Antike nicht zum Besten gestellt: »Ein Arzt ist nichts weiter als eine Tröstung fürs Gemüt«1 - aber keine echte Hilfe. Das Motiv des Arztes, der zwar andere zu heilen behauptet, sich selbst aber nicht helfen kann, ist in der Antike offenbar geläufig gewesen. Es begegnet uns 45 v. Chr. in einem Brief an Cicero, in dem ihn sein Freund Servius Sulpicius Rufus aufzumuntern sucht:2 »Vergiß schließlich nicht, daß du Cicero bist und derjenige, der anderen Lehren und Rat zu erteilen gewohnt ist, und ahme nicht die schlechten Ärzte nach, die bei fremden Krankheiten verkünden, sie besäßen die Kunst der Medizin, sich selbst aber nicht behandeln können, sondern bringe das, was du andere zu lehren pflegst, auch dir nahe und nimm es dir zu Herzen!« Daß es auch ein entsprechendes lateinisches oder griechisches Sprichwort gegeben haben muß, wird im Lukasevangelium bezeugt: Als Jesus in Nazareth predigte und wußte, daß die Menschen dort Gewaltiges von ihm erwarteten, »sprach er zu ihnen: Ihr werdet freilich zu mir sagen dies Sprichwort: Arzt, hilf dir selbst! Denn wie große Dinge haben wir gehört, zu Kapernaum geschehen! Tu so auch hier in deiner Vaterstadt!«3 Die lateinische Übersetzung in der Vulgata (»Medice, cura te ipsum!«) hat 21
das deutsche Sprichwort entstehen lassen und wird heute bisweilen auch lateinisch zitiert. L: Macrone 207-208; Otto 216 (Nr. 1077); Wander 1,151. 1: Petron. 42,5: »medicus enim nihil aliud est quam animi consolatio.« 2: Cic. fam. 4,5,5: »Denique noli te obli- visci Ciceronem esse et eum qui aliis consueris praecipere et dare consilium, neque imi- tare malos medicos, qui in alienis morbis profitentur tenere se medicinae scientiam, ipsi se curare non possunt, sed potius quae aliis tute praecipere soles ea tute tibi subiace at- que apud animum propone.« 3: Lk. 4,23. S: Dan. »Loege, hjelp dig selv«; engl. »Physi- cian, heal thyselfU; frz. »Mediän, gueris-toi, toi-meme«; ndl. »Geneesmeester, heel u zelven«. Auch du, mein Sohn (Brutus)! (Ausruf des Entsetzens, oft scherzhaft:) Auch du hast dich gegen mich verschworen! Auch du läßt mich im Stich! Auch: Auch du, (mein [Sohn]) Brutus! Gaius Iulius Caesar soll, als er 44 v. Chr. von seinem Schützling Marcus Brutus1 und anderen Verschwörern erdolcht wurde, dem Brutus auf Griechisch »Auch du, mein Kind!« zugerufen haben,2 d.h. ergänzt: »Auch du gesellst dich du diesen Verschwörern und Mördern?« Die Herkunft dieses Satzes, den Caesar offenkundig als Zitat äußerte, läßt sich jedoch nicht nachweisen. Nach Sueton selbst sprach Caesar kein Wort, doch, so sagt er, gebe es Autoren, die von dem griechischen Ausruf erzählten. Auch Cassius Dio hält ein Schweigen Caesars für am sichersten verbürgt, berichtet aber ebenso von dem Wort an Brutus,3 im selben Wortlaut wie Sueton es tut. Das genannte Zitat hat übrigens dazu beigetragen, Spekulationen am Leben zu erhalten, Brutus sei der leibliche Sohn Caesars gewesen. Tatsächlich schreibt Sueton, Caesar habe Servilia, die Mutter des Brutus, »vor allen anderen geliebt«,4 und es war allgemein bekannt, daß Caesar eine Affäre mit ihr hatte. Allerdings war Caesar bei der Geburt des Brutus (85 v. Chr) fast noch ein Teenager (da er vermutlich 100 v. Chr geboren wurde); seine Affäre mit Servilia, die man vor allem durch reiche Geschenke bewiesen sah, datiert aber in seine späteren Lebensjahre. Shakespeare läßt in seinem »Julius Caesar« (1599) diesen lateinisch »Et tu, Brüte«5 sagen und wechselt damit ebenso vom Englischen ins Lateinische wie Caesar bei Plutarch vom Lateinischen ins Griechische. Dies läßt vermuten, daß die lateini- 22
sehen Worte auch zu dieser Zeit allgemein bekannt und daher dem englischen Publikum vertraut waren. Zuvor bereits (und zudem außerhalb der Caesar-Geschichte) findet sich das Zitat in »The True Tragedy of Richard Duke of York« (1595), einer Bearbeitung des 3. Teils von Shakespeares »Henry VI« (um 1591).6 In Deutschland machte Schiller die deutsche Version in seinen »Räubern« bekannt, in denen er den Räuberhauptmann Moor im »Römerlied« über Caesar und Brutus singen läßt: »O ein Todesstoß von Brutus Schwerte! / Auch du - Brutus - du?«7 Heute ist die Floskel seltener ein echter Entsetzensruf als ein scherzhaft gemeinter Ausdruck des Erstaunens. In humoristischer Abwandlung des Zitats sagt man gelegentlich von seinem zu geringen Lohn oder Gehalt: »Auch du, mein Lohn brutto!« L: Bartels 74; Böttcher 65-66 (Nr. 339); Büchmann 369; Duden 11,133 und 12,50; Grimm 1,599; Macrone 178; Reichert 75-76.1: 47 v. Chr. übertrug Caesar dem Brutus die Provinz Callia Cisalpina, ließ ihn 44 zum Prätor wählen und stellte ihm für 41 das Konsulat in Aussicht. 2: Suet. Caesar 82,2: »Auch du, mein Kind (Kai a\) tekvov)?« 3: Cass. Dio 44,19,5. 4: Suet. Caes. 50. 5: 3. Akt, 1. Szene. 6: Macrone 178. 7: Räuber 4. Akt, 5. Szene, 4. Strophe. S: Engl, wird nach Shakespeare gern lat. zitiert: »Et tu, Brüte?« (üt. siehe bei Mieder, Investigations 40). EIN AUFGEBLASENER FROSCH Angeber, dünkelhafter Mensch. Auch nur: aufgeblasen, für angeberisch, überheblich, dünkelhaft. -♦ Vor Neid platzen: äußerst neidisch sein. Während das einfache »aufgeblasen« für »angeberisch, hochtrabend« bereits alttestamentlich ist,1 geht der »aufgeblasene Frosch« auf den lateinischen Fabeldichter Phaedrus (frühes 1. Jh. n. Chr.) zurück: In dessen Fabel »Der geplatzte Frosch und der Ochse« (»rana rupta et bos«)2 bläst sich ein Frosch vor Neid auf die Größe des Ochsen so lange auf, bis er platzt: »Als er zuletzt in vollem Zorne noch versuchte, / Sich mehr zu blähen, stürzt' er mit zerplatztem Körper.« In Anspielung auf diese Geschichte hat der Epigrammdichter Martial auch die lateinische Redewendung »invidia rumpere« (-* vor Neid platzen) geprägt,3 die wörtlich ins Deutsche übernommen worden ist. Mit den Worten »Sie bläst sich auf wie ein Frosch« beschwert sich in Petrons »Satyrica« der neureiche Trimalchio über seine undankbare Frau Fortunata und sagt ihr damit indirekt, daß sie doch keine Chance hat, ihm an Größe 23
gleichzukommen (mehr über diese Fortunata unter -> jemanden in den Himmel heben).4 Immanuel Kant definierte im 18. Jh. sachlich: »Der Aufgeblasene ist ein Hochmütiger, der Verachtung anderer in seinem Verhalten äußert.«5 Umgangssprachlich existieren heutzutage neben dem »aufgeblasenen Frosch« auch gleichbedeutende Abwandlungen wie »aufgeblasenes Nachthemd« oder »aufgeblasener Fatzke«. L: Böttcher 78 (Nr. 445); Büchmann 338-339; Duden 11,502; Otto 294 (Nr. 1504); Wander 1,159. 1228-1232 (Frosch 4. 71f.). 1: Belege bei Grimm 1,652. 2: Phaedr. 1, 24. 3: Martial. 9,97 (zwölfmal in 6 Distichen); auch Martial. 10,79,9 und Hör. s. 2,3,314-320 spielen auf die Fabel an. 4: Petron. 74,13: »Inflat se tamquam rana.« 5: Kant 7,431 nach Grimm 1,652. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben Etwas wird zwar später, aber doch mit Sicherheit nachgeholt; (drohend:) die Strafe / die Abrechnung kommt noch. Variante: Besser aufgeschoben als aufgehoben. Der lateinische Schriftsteller und Mönch Arnobius d. J. (um 430) schreibt in seinem Kommentar zum 36. Psalm: »Was aufgeschoben wird, wird nicht aufgehoben« (lat.: »Quod differtur, non aufertur«).1 Der gleiche Auslaut der verwendeten Verben »differtur/aufertur« ist in der deutschen Fassung, die vermutlich ins Mittelalter zurückreicht, durch »-schoben/-hoben« nachgebildet worden. Der Grundgedanke erscheint jedoch schon im 1. Jh. bei dem Philosophen Seneca, der sich in seinem Dialog »Über die Vorsehung« der Frage widmet, warum das Unglück gute Männer zu treffen und schlechte zu verschonen scheint: »Die also, die der Gott gelten läßt, die er liebt, härtet er ab, prüft er, beschäftigt er; die aber, denen er scheinbar gewogen ist, die er zu schonen scheint, spart er ungehärtet für künftiges Unglück auf. Ihr irrt nämlich, wenn ihr irgendeinen ausgenommen wähnt: Kommen wird zu jenem lange Glücklichen sein angemessener Teil; wer immer unbehelligt entlassen scheint, hat nur Aufschub erhalten.«2 - Der Literaturkritiker und Philosoph Ludwig Marcuse (1894-1971) hielt das Sprichwort für eine Beschwörung durch Negation: »aufgeschoben ist nicht aufgehobene weil man es besser weiß, verneint man die Problematik des Aufschiebens emphatisch.«3 24
Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.
L: Böttcher 89 (Nr. 516); Büchmann 350; Duden 11,58 und 12,57; Fritsch 473; Grimm 1,720; Mletzko 11; Otto 114 (Nr. 540); Wander 1,164 (Aufschieben 2-3). 1: PL53,375. 2: Sen. dial. 1,4,7: »...quisquisvideturdimissusesse, dilatusest.« 3: Mieder, Antisprich- wörter 7 mit Beleg. B: Engl. »All is not lost, that is delayed«; frz. »Ce qui est differe n'est pas perdu«; ndl. »Uitstel is geen afstel«. Aus den Augen, aus dem Sinn! Entfernung schwächt Bekanntschaft und Freundschaft, ohne persönliche Begegnungen reißt der Kontakt ab; was man nicht mehr sieht, daran denkt man nicht mehr. Auch: Aus den Augen, aus dem Herzen. Lateinisch erscheint diese Wendung bei dem Dichter Properz, der auf einer Reise nach Athen von seiner Geliebten Cynthia getrennt ist und sich damit über seine Sehnsucht hinwegtröstet: »So sehr wie die Liebe aus den Augen geht, so weit wird sie aus dem Sinn gehen.«1 Im Deutschen findet sich der Satz in Luthers Sprichwörtersammlung in der Form: »Aus den Augen, aus dem Herzen.«2 Der »Sinn« herrscht im zweiten Teil seit Goethe vor, der dichtete: »Ja, aus den Augen, aus dem Sinn!«3 Die Redewendung wird heute zuweilen auch als praktische Handlungsmaxime verwendet: Man soll sich von dem trennen, wovon man emotional nicht mehr belastet werden möchte. L: Duden 11,65; Grimm 1,795; Macrone 207; Mletzko 12. 110; Otto 250-251 (Nr. 1271); Reichert 131; Wander 1,170 (Auge 25-26). 1: Prop. 3,21,10: »Quantum oculis, animQ tarn procul ibit amo/.« Vgl. Ov. ars am. 2,358; Prop. 1,12,11. Auf sinnähnliche griechische Sprichwörter verweist Otto 250-251 (Nr. 1271). 2: Nr. 165 Dithmar. 3: 12,161 nach Grimm 1,795. S: Engl. »Out of sight, out of mind« (seit Mitte des 15. Jh.); frz. »Loin des yeux, loin du coeur«; ital. »Lontano degli occhi, lontano dal cuore«; ndl. »Uit het oog, uit het hart«; ung. »A mit a szem nem lelt, a sziv hamar felejt«. vor Augen haben deutlich wahrnehmen; etwas vor Augen stellen/halten/ führen: aufzeigen, klar machen; vgl. * ad oculos demonstrieren: vor Augen führen, deutlich aufzeigen. In seiner Schrift »Über den Zorn« beschreibt der Philosoph Seneca die menschliche Neigung, sich über Fehler anderer zu entrüsten, die eigenen aber nicht sehen zu wollen: »Die fremden Fehler haben wir vor Augen [lat.: »in oculis«, eigentlich »in den Augen«], unsere eigenen auf dem Rücken.«1 Er nimmt hier vermutlich auf eine Fabel des Äsop Bezug, in der ein Mann 26
einen Sack mit fremden Fehlern auf der Brust, einen mit den eigenen Fehlern aber auf dem Rücken trägt.2 Entsprechend bedeutet noch das deutsche »vor Augen halten« (u. ä.) eine bewußte Kenntnisnahme, die man bei anderen oder sich selbst bewirkt. Die heute kaum mehr gebrauchte Wendung »ad oculos demonstrieren« enthält lat. »ad oculos« (»zu den Augen hin«) und im Verb »demonstrieren« noch lat. »demonstrare« (»aufzeigen«). L: Bartels 196; Fritsch 225; Zanoner 1 3-14 (Nr. 83). 1: Sen. dial. 4,28,8: »Aliena vitia in oculis habemus, a tergo nostra sunt.« Vgl. ep. 78,29. 2: Aisop. Nr. 228 Hausrath. Augurenlächeln überlegenes, überhebliches, spöttisches Lächeln (des Wissens und Einverständnisses unter Eingeweihten über Nichtwissen oder Leichtgläubigkeit der Menge); * Augur: Prophet, Weissager. Die Auguren (lat.: »augures«, Sg. »augur«) waren Priester, die bei wichtigen Staatshandlungen durch Beobachtung von Himmelszeichen (v. a. des Vogelfluges und des Freß- und Schreiverhaltens der Vögel) den Willen der Götter erkundeten und dazu in der Regel jedem hochrangigen Amtsträger als Assistenten beigegeben waren. Bei der Einrichtung von Kulten grenzten sie mit ihrem Krummstab den heiligen Bezirk für einen Tempel ab und holten die Zustimmung der betreffenden Gottheit ein. Dieser Kunst wurde schon früh von »aufgeklärten« Geistern Argwohn entgegengebracht. Nach Cicero, der selbst das Amt des Auguren bekleidete, habe sich Cato der Ältere »gewundert, daß ein Haruspex [d.h. ein Priester, der aus Eingeweiden las] nicht lache, wenn er einen [anderen] Haruspex sehe«1 - da er doch wissen müsse, wie viel von ihren Vorhersagen nicht eintreffe und wie sehr sie beide dem leichtgläubigen Publikum etwas vormachen. Auf dieses Wort geht - unter Ersetzung der Haruspices durch die Auguren - das überlegene »Augurenlächeln« unter Eingeweihten zurück. L: Büchmann 367-368; Böttcher 63 (Nr. 319); Duden 12,60; Reichert 80-82. 1: Cic. div. 2,24,51: »mirari se aiebat, quod non rideret haruspex, haruspicem cum vidisset.« Vgl. Cic. nat. 1,26,71. 27
* EIN AUGUSTEISCHES ZEITALTER eine Zeit, in der Kunst und Literatur sehr gefördert werden. Nach dem verheerenden Zeitalter der Bürgerkriege brachte die lange Regierungszeit des Kaisers Augustus (31 v. - 14 n. Chr.) eine lange Phase des Friedens und der Stabilität (-> pax Augu- sta), die zugleich als kulturelle Blüte erlebt wurde. In der Literatur ist sie durch das Wirken namhafter Dichter wie Vergil, Horaz und Ovid unter dem Schutz ebenso namhafter Gönner (-> Mäzen) gekennzeichnet. Gleichzeitig ließ Augustus Rom zur prachtvollen Hauptstadt eines Weltreiches ausbauen. Zu den teilweise noch heute erhaltenen Bauten jener Zeit gehören das Forum Augustum, das Marcellustheater und vor allem die Ära Pacis als Teil eines umfangreicheren Baukonzeptes für das Marsfeld. L: Duden 11,69. UNTER DEN AUSPIZIEN DES/VON ... unter jemandes Einfluß/Schutz/Schirmherrschaft. Staatsakte aller Art durften in Rom nur vorgenommen werden, wenn zuvor die Auspizien eingeholt wurden. Darunter verstand man die Gesamtheit der Vorzeichen, die die Zustimmung oder Ablehnung der Götter zu der beabsichtigten Handlung erkennen ließen.1 - Die praktische Durchführung und Deutung der Auspizien war Sache der Auguren (-» Augurenlächeln), die Verantwortung für die Einholung der Auspizien oblag aber dem jeweils zuständigen Beamten. Wenn es Zweifel darüber geben konnte, welchem von mehreren Beamten hinterher der Lohn für eine Tat zuzuerkennen war (etwa in Form eines -♦ Triumphes nach einem militärischen Sieg), so kam es darauf an, welcher Beamte die Auspizien eingeholt hatte. Führten zum Beispiel beide Konsuln im Krieg gemeinsam das Kommando, so wechselten sie sich täglich mit der Einholung der Auspizien ab. Wurde eine Schlacht gewonnen, triumphierte der Konsul, der an diesem Tag die Auspizien eingeholt hatte. In der Kaiserzeit wurde es üblich, daß sämtliche Feldzüge unter den Auspizien des Kaisers stattfanden und somit auch sämtliche Triumphe dem Kaiser zufielen. 28
Entsprechend deutet die Redensart »unter den Auspizien« an, daß die genannte Person an der Initiierung eines Projektes beteiligt war, Leitlinien vorgegeben hat und an den Verdiensten Anteil hat, ohne aber zur praktischen Arbeit nennenswert beigetragen zu haben. L: Otto 50 (Nr. 223). 1: »Bono auspicio« (»unter gutem Vorzeichen«) war entsprechend als Redewendung üblich: Hieron. praefat. in reg. Pachom. (col. 53 Vall.): »(ut) et bono, quod aiunt, auspicio longum silentium rumperem« (»und um unter gutem Vorzeichen, wie man sagt, ein langes Schweigen zu brechen«). B auf der Bärenhaut liegen faulenzen; * Bärenhäuter: Faulenzer; * bärenhäuterisch: faul, tatenlos; * Die Bärenhaut ist sein Unterbett / * Er muß die Bärenhaut umhängen: er führt ein tatenloses Leben. Diese Redensart geht auf das Geschichtswerk »Germania« des Historikers Tacitus (um 55- nach 115) zurück, in dem dieser über die Germanen schreibt: »Immer wenn sie nicht auf Kriegszüge gehen, bringen sie nicht viel Zeit mit Jagden zu, mehr dagegen mit Nichtstun, dem Schlaf und dem Essen hingegeben, wobei gerade jeder Tapferste und Kriegerischste nichts betreibt...«1 Die Schrift wurde Anfang des 16. Jh. in humanistischen Kreisen neu entdeckt und rezipiert. Daß die alten Germanen bei ihrem Nichtstun auf der »Bärenhaut« gelegen hätten, ist allerdings zuerst 1509 bei Heinrich Bebel in seinen Facetien (1509), dann im Tagebuch des Ritters Hans von Schweinichen (1579) und in Johann Fischarts »Geschichtsklitterung« (1575) belegt. Die aus diesem Motiv abgeleitete Bezeichnung »Bärenhäuter« für einen Faulenzer und Taugenichts war seit dem 16. bis ins 29
18. Jh. sehr gebräuchlich.2 Zum Beispiel sagt Basko in Goethes Schauspiel »Claudine von Villa Bella«: »Ich, der ich sonst herumschwärme den ganzen Tag und plane wie ein Raubvogel, muß heut den ganzen Nachmittag hier auf der Bärenhaut liegen.«3 Bei den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm ist der Titelheld des Märchens »Der Bärenhäuter« (Nr. 101) ein armer Soldat, der selbst in der Hölle nicht zu gebrauchen ist und fortgeschickt wird. Zur weiteren Verbreitung hat im 19. Jh. das Studentenlied von »Tacitus und den alten Deutschen« beigetragen, das Wilhelm Ruer 1872 für die Bierzeitung der Leipziger Burschenschaft Dres- densia schrieb4 und in dem es heißt: »An einem Sommerabend, / Im Schatten des heiligen Hains, / Da lagen auf Bärenhäuten / Zu beiden Ufern des Rheins / Verschiedene alte Germanen /... / Sie liegen auf Bärenhäuten / Und trinken immer noch eins.« L: Borchardt-Wustmann-Schoppe 52; Böttcher 393 (Nr. 2548); Duden 11,84 und 12,53; Grimm 1,1128; Röhrich 1,148-149. 1:Tac. Germ. 15: »Quotiens bella non ine- unt, non multum venatibus, plus per otium transigunt, dediti somno ciboque, fortissi- mus quisque ac bellicosissimus nihil agens...« 2: Vgl. die Belege bei Grimm 1,1128. 3: Goethe 38,137 WA. B: August von Kotzebue, »Bäbbel oder aus zwei Übeln das kleinste. Historische Posse in Einem Akt« (Werkausgabe Stuttgart 1822), Bd. 7,51 (Seine Frau Suse zu dem Zollvisitator Bäbbel, der sie als seine Frau gerade verleugnet hat): »Na du Bärenhäuter! Sind wir endlich allein, daß ich meine Wuth an dir auslassen kann!« Sim- plicissimus 1,256; 2,81: »auf der faulen Bärenhaut liegen«; Scherzhaft jean Paul, Titan 1,43: »...ebenso sind unsere Statuen keine müßigen Staatsbürger auf der Bärenhaut.« Weiteres findet sich ausführlich bei Röhrich 1,148-149. 4: In: Fliegende Blätter Nr. 56,1872. Basiliskenblick vernichtender, stechender, tötender Blick. Basiliskeneier ausbrüten: sich Böses ausdenken, Schlimmes im Schilde führen; Basiliskenei: Geschenk, das in böser Absicht gegeben wird. Der Basilisk (lat.: »basiliscus«) ist ein fabelhaftes Mischwesen aus Schlange, Drache und Hahn mit giftigem Atem, das von einer Schlange oder Kröte aus einem Hühnerei ausgebrütet wird. Üblicherweise wird er als Hahn mit einem Schlangenschwanz dargestellt, wie sich dies zuerst im Alten Orient findet. Der römische Gelehrte Plinius der Ältere berichtet im 1. Jh. n. Chr. in seiner »Naturgeschichte«, daß der Basilisk, von einer Kröte aus einem Hühnerei ausgebrütet, einen Menschen 30
allein durch seinen Blick töten könne.1 Entsprechend charakterisiert der Historiker Ammianus Marcellinus den kaiserlichen Günstling Flavius Maximinus, der 370/371 römischer Präfekt für die Getreideversorgung war, als »schädlich wie Basiliskenschlangen«.2 Die Vorstellung der gefährlichen Basiliskeneier geht dagegen auf Jes. 59,5 zurück: »Sie [d. h. die Bösen und Trügerischen] brüten Basiliskeneier und wirken Spinnweben. Ißt man von ihren Eiern, so muß man sterben; zertritt mans aber, so fährt eine Otter heraus.«3 Über Kirchenväter und Tierbücher des hohen Mittelalters hielt sich das Basiliskenmotiv noch bis ins 17. Jh.; in neuester Zeit erlebt der Basilisk als Fabelwesen im Fantasy-Bereich eine Art Auferstehung. Heute verwendet man den Begriff des »Basiliskenblickes« noch, wenn jemand einen stechenden oder unheimlichen Blick hat, der nichts Gutes erwarten läßt. L: Büchmann 340; Duden 12,64-65; Otto 53 (Nr. 240). 1: Plin. nat. 29,66; vgl. seine Beschreibung in 8,78. 2: Amm. 28,1,41: »nocens ut basilisci serpentes«. 3: Vgl. die Höhle des Basilisken in jes. 11,8. Ein voller Bauch studiert nicht gern Sättigung verhindert das Nachdenken; wer geistige Arbeit verrichten will, sollte den Körper nicht verwöhnen. Die ebenfalls gern benutzte lateinische Reimfassung »plenus venter non studet libenter« ist wohl mittelalterlich und in ihrer Entstehung nicht nachweisbar. Das Motiv jedoch hat seinen Ursprung in einem griechischen Tragikervers von ähnlicher Bedeutung: »Ein dicker Bauch bringt keinen feinen Sinn hervor« (griech.: riaxeia yaotfip tenxöv ay xiKiei vöov, sprich: pachgia gastär lgpton u tiktei noQn)1. Der Kirchenvater Hieronymus übertrug dies um 400 n. Chr. wortgetreu ins Lateinische: »Pinguis venter non gignit sensum tenuem.«2 Das Phänomen des Essens, das den Geist behindert, war aber auch anderen lateinischen Autoren geläufig. So lesen wir z. B. bei Horaz: »Beladen drückt mit den gestrigen Lastern der Leib auch nieder die Seele, schmiedet am Erdboden an sein Teilchen des göttlichen Geistes.«3 Ebenfalls von Hieronymus stammt übrigens der Satz »Ein voller Bauch lobt das Fasten« (lat.: »Plenus venter facile de ieiuniis disputat«)4 - während es dem leeren bekanntlich nicht ganz so leicht fällt. 31
L: Bartels 138-139; Duden 11,86; Fritsch 404; Mletzko 14. 31. 76. 117. 134; Otto 363-364 (Nr. 1860-1861). 1: Ohne Herkunftsangabe bei Galen, Utrum medicinae sit an gymnastices hygieine 5,878 Kühn; nach Otto 363 (Nr. 1860) geht dies auf ein Sprichwort zurück, vgl. Apost. 5,22A ( CPC 2,337). 2: Hör. s. 2,2,76-78; vgl. Sen. ep. 15,3. 3: Hieron. ep. 52,11: »Auf schöne Weise sagt man bei den Griechen - und ich weiß nicht, ob es bei uns angemessen klingt -: >Ein fetter Bauch bringt keinen feinen Sinn hervor.<« (»pulchre dicitur apud Graecos et nescio an apud nos aeque resonet: >Pinguis venter non gignit sensum tenuenv«); vgl. Schol. Pers. 1,56. 4: Hieron. ep. 58,2 nach Otto 364 (Nr. 1861). über den Berg sein das Schlimmste hinter sich haben, eine Krise überstanden haben. Der Berg oder Hügel wurde schon von den Römern als Sinnbild für eine Mühe oder Schwierigkeit verwendet. »Mitten auf der Anhöhe« zu schwitzen oder sich abzumühen waren Wendungen für eine noch lange nicht überwundene Anstrengung.1 Der Philosoph Seneca kritisiert in einem Brief den angestrengten Eifer bei Unwichtigem, zollt aber dem um Ehrenhaftes Bemühten solchen Respekt, daß er zu ihm sagt: »Steh auf, hol Atem und überwinde diese Anhöhe (d. h. diese Schwierigkeit) in einem einzigen Atemzug, wenn du kannst!«2 Der Dichter Silius Italicus spricht mit demselben Bild Ende des 1. Jh. n. Chr. von der »Tugend, die vor der Anhöhe unerschrocken ist«.3 Im Deutschen begegnet in diesem Sinne ein »über den Berg kommen« oder »über den Berg sein« zuerst bei Luther: »Wir bleiben dennoch leider allzu faul und laß und sind noch nicht mit jenen 99 Gerechten4 so fern über den Berg kommen, als sie sich lassen dünken.«5 Da bei der Mühe an eine eilige Flucht gedacht werden kann, entstand die ebenfalls seit Luther belegte Redewendung »über alle Berge sein« oder »über Berg und Zaun sein« im Sinne von »entkommen sein«.6 L: Duden 11,99; Grimm 1,1505; Mletzko 16 mit falscher Zitierung Senecas; Otto 86 (Nr. 399). 1: Ov. her. 20,41: »Tausend Tücken sind übrig, wir schwitzen noch ganz unten auf der Anhöhe« (»Mille doli restant, cIi'vq sudamus in imo«); Petron. 47,8: »Und wir wußten bis dahin noch nicht, daß wir uns bei den (Tafel)freuden erst, wie man sagt, mitten auf der Anhöhe mühten« (»nee adhuc sciebamus nos in medio lautitiarum, ut ai- unt, clivo laborare«). 2: Sen. ep. 31,4: »clivum istum uno, si potes, spiritu exsupera.« 3: Sil. Ital. 4,604: »virtus interrita clivo«. 4: Nach Lk. 15,7 diejenigen, die glücklicherweise keine Umkehr nötig haben und über die im Himmel weniger Freude sein wird als über einen einzigen bekehrten Sünder. 5: Luther 4,435a nach Grimm 1,1505; vgl. 5,90a. 6: Diverse Belege von Luther bis Goethe bei Grimm 1,1505. 32
Neue Besen kehren gut jemand ist besonders eifrig, wenn er in seinem Aufgabengebiet neu ist. Bei diesem mittelalterlichen Sprichwort ist schwer zu entscheiden, ob es lateinischen oder deutschen Ursprungs ist: Zuerst belegt ist es in lateinischer Form in den Seftlarner Sprüchen des 12. Jh., doch mag es sich dort um die Übersetzung eines schon früher bestehenden deutschen Satzes handeln.1 Die deutsche Fassung erscheint zuerst in der »Bescheidenheit« Freidanks (um 1200), einer Spruchsammlung zur Unterweisung und Urteils- findung zwischen Gut und Böse: »Der niuwe beseme kert wol, / e daz er stoubes werde vol« (»Der neue Besen kehrt gut, auf daß er des Staubes werde voll«).2 Der Dichter Hans Sachs erwähnt das Sprichwort im 16. Jh.: »Wie das alt Sprichwort sagen sol, die newen Besen kehren wol.«1 Seitdem ist der Satz im Deutschen sehr geläufig. L: Böttcher 164-165 (Nr. 1010); Duden 11,101; Grimm 1,1615; Mletzko 17. 88; Wander 1,323-324 (Besen 33). 1: Samuel Singer, Sprichwörter des Mittelalters, Bern 1944, S. 18-19. Die üblicherweise zitierte lateinische Form lautet: »Scopae recentiores semper meliores.« 2: Vom Dienste 50,12f. 3: Hans Sachs 5,358a nach Grimm 1,1615. B: »Neue Besen aber kehren gut, und Konvertiten übertreffen die Altgläubigen zumeist an Eifer« (Werfel, Himmel 164, nach Duden 11,101). S: Engl.: »New brooms sweep clean« (Mieder, Proverbs 20). BESSER SEIN ALS SEIN RUF besser sein als man allgemein glaubt. »Selbst besser als ihr Ruf« (lat.: »ipsa sua melior fama«) sagt der römische Dichter Ovid in einem Brief aus seinem Verbannungsort;1 er meint damit Claudia Quinta (wohl Enkelin des Zensors Appius Claudius Caecus), der es durch ihre maßgebliche Teilnahme am feierlichen Empfang des Standbildes der Göttin Kybele im Jahre 204 v. Chr. gelang, ihren äußerst schlechten Ruf in der römischen Gesellschaft wieder zu heben.2 Die Wendung taucht im 18. Jh. wieder auf bei Beaumarchais (»Und wenn ich nun besser wäre als mein Ruf?«),3 Goethe4 und Schiller: Maria Stuart, die ihre Rivalin Elisabeth vergeblich zu rühren sucht (-> ein Schatten seiner Selbst sein), bricht »von Zorn glühend, doch mit edler Würde« in die Worte aus: »Das 33
Ärgste weiß die Welt von mir, und ich / Kann sagen, ich bin besser als mein Ruf.«5 L: Böttcher 364 (Nr. 2342); Büchmann 336; Duden 12,70-71; Grimm 1,1645 Nr. 3. 1: Ov. ex Pont. 1,2,141. 2: RE 3,2,2899 Nr. 435; Liv. 29,14,12. 3: Hochzeit des Figaro, 1784, 3, 5: »Et si je vaux mieux quelle?« 4: »Dichtung und Wahrheit«, Ende von Buch 7. 5: Maria Stuart (1801; uraufgeführt Weimar 14.6.1800), 4,4 V. 2425-2426. Bete und arbeite! (lat. Qra et labgra!) Sei gottesfürchtig und tu deine Arbeit! Diese Aufforderung wird üblicherweise auf den Mönch Benedikt von Nursia (480 - nach 543) zurückgeführt, der um 530 das Kloster Monte Cassino gründete, mit dem Benediktinerorden eine Neuorganisation des Mönchswesens schuf und so die Grundlage zu dessen Blüte bis ins hohe Mittelalter legte. In seiner »Regel« (Regula Benedicti) verpflichtete er die Mönche zu Seßhaftigkeit in einem Kloster, Verzicht auf Eigentum, Keuschheit, Gehorsam und Arbeit. Die körperliche Arbeit wird hier als Mittel zur Erlösung und als sittliche Rechtfertigung von Eigentum positiv bewertet. Zugleich setzte Benedikt durch die Einführung des Arbeitsgebotes das westliche Mönchtum vom bereits bestehenden östlichen Mönchtum ab, das eine derart strenge Regelung der Lebensführung nicht kannte und damit häufig den Vorwurf auf sich zog, die Mönche seien eigentlich nur Nichtstuer und Faulpelze. Besonders in der Geschichtsschreibung ist das Motto daher zum Symbol des gesamten westlichen Mönchtums geworden.1 Sehr schnell gewann in den Benediktinerklöstern die geistige neben und zum Teil auch statt der körperlichen Arbeit große Bedeutung, so daß die Benediktiner - und in ihrem Gefolge nahezu alle Mönchsorden - durch wissenschaftliche Betätigung große Wirkung in der europäischen Kultur ausübten. Der Satz »Ora et labora!« kommt in der Benediktinerregel allerdings weder wörtlich noch sinngemäß vor, so daß es sich dabei um eine einprägsame Schöpfung aus weit späterer Zeit handeln dürfte. Komplett lautet das Motto: »Ora et labora! Deus adest sine mora« (»Bete und arbeite! Gott hilft ohne Unterlaß«) oder im zweiten Teil variiert zu »Nam mors venit omni hora« (»Denn der Tod kommt in jeder Stunde«) oder »Dabit Deus om- nia bona« (»Gott wird geben alle Güter«).2 Die Herkunft ist 34
letztlich unbekannt, doch ist der Reim »ora - labora - mora/ hora/bona« für mittelalterliche Dichtung typisch. In seiner ursprünglichen Anwendung enthält der Rat »bete und arbeite« die Aufforderung, nichts ohne Gott zu tun, aber auch nicht alles ihm zu überlassen. »Bete und arbeite« wird heute aber auch bisweilen als »Totschlagsatz« mißverstanden und verwendet, um damit kurz und bündig jede Kritik oder eigene Meinungsäußerung zu unterdrücken. Eine ironischbissige Anwendung des Wortes findet sich bei Werner Mitsch: »Beten und arbeiten. Oder wie wir Theoretiker sagen: Beten und arbeiten lassen.«3 L: Böttcher 159 (Nr. 981 -982); Duden 12,378-379; Mletzko 9. 18; Tosi 427 (Nr. 913); Wander 1,341 (Beten 11). 1: Tosi 427 (Nr. 913). 2: Tosi 427 (Nr. 913). 3: Mieder, Anti- sprichwörter 12 mit Beleg. frommer Betrug Betrug, der in guter Absicht geschieht; auch: Selbsttäuschung. In seinen Verwandlungsgeschichten (»Metamorphosen«) erzählt der römische Dichter Ovid von einem Kreter, der beschlossen hatte, sein Kind, wenn es eine Tochter würde, zu töten. Daraufhin gab die Göttin Isis der schwangeren Telethusa den Rat, ihre neugeborene Tochter als Sohn auszugeben, um sie vor der Tötung zu bewahren. Man benannte das Neugeborene nach dem Großvater »Iphis«, und auch weiterhin »blieb die begonnene Täuschung durch frommen Betrug verborgen«.1 Das Kind wurde gerettet und von der Göttin später überdies in einen Sohn umgewandelt. »Fromm« (»pius«) ist dieser Betrug, da er göttlichem Rat und darüber hinaus dem gebührenden Respekt (»pietas«) entspricht, den die Römer im Verhältnis zwischen Kindern und Eltern betonten. Die Verbindung erscheint dann wieder Ende des 5. Jh. bei dem Dichter Dracontius.2 Ebenfalls im ursprünglichen Sinne verwendete Verdi im letzten Akt von »La Traviata« (1853) eine ähnliche Wendung: »Die fromme Lüge der Ärzte ist eingestanden« (»La bugia pietosa a' medici e concessa«). Im Deutschen ist dagegen fast häufiger - wohl unter dem Einfluß der -> »frommen Wünsche« - ein Selbstbetrug gemeint, wie etwa bei Ernst Niekisch: »Die hundert Meter, die Brüning sich vor dem 35
Ziel der Tributbefreiung glaubte, waren entweder ein frommer Betrug oder eine lächerliche Phantasterei.«3 L: Bartels 138; Böttcher 77 (Nr. 437-438); Büchmann 335; Duden 11,106 und 12,167; Mletzko 18. 37; Tosi 114 (Nr. 246). 1: Ov. met. 9,711: »jnde incgpta pia mendacia fraude latgbant.« Der Zusammenhang erscheint Ende des 5. jh. 2: Orestis tragoedia 12. 3: Gewagtes Leben, Köln 1958, S. 197 nach Duden 11,106. BIENENFLEISS unaufhörlicher Fleiß. Der »Fleiß« der Bienen war schon den Römern ein Begriff. Der Dichter Horaz vergleicht sich in einem seiner Gedichte mit einer rastlosen Biene: »Ich aber, nach Art und Weise einer Biene vom Matinus [einem Berg in Süditalien], die angenehmen Thymian mit sehr viel Mühe sammelt, um den Hain und die Ufer des feuchten Tibur herum, bilde bescheiden arbeitsreiche Gedichte.«1 Auch Seneca meint: »Die Bienen müssen wir nachahmen«, jedoch weniger wegen ihres bloßen Fleißes, sondern weil sie »umherfliegen und die zur Honiggewinnung geeigneten Blüten aussaugen und dann, was sie eingebracht haben, ordnen, auf die Waben verteilen und, wie unser Vergil sagt, flüssigen Honig anhäufen und mit süßem Nektar füllen die Zellen« - ebenso solle man als Schriftsteller nicht in der Lektüre anderer Werke nachlassen, sondern aus ihnen schöpfen und sich zu eigener Produktion anregen lassen; die Worte »Die Bienen nachahmen« kennzeichnet Seneca dabei in einem Nebensatz bereits damals als sprichwörtliche Wendung.2 L: Grimm 1,1818; Otto 30 (Nr. 128); Reichert 92.1: Hör. carm. 4,2,27-32: »...egoapis Matinae / mo/e modQque, / grata carpentis thyma per labo/em / plu.rimy.rn, circa ne- mus uvidique / Tiburis ripas opergsa parvos / carmina fingo.« 2: Sen. ep. 84,3: »Apes, ut aiunt, debemus imitari, [»Die Bienen müssen wir, wie man sagt, nachahmen«] quae vagantur et flores ad mel faciendum idoneos carpunt, deinde quicquid attulere, dis- ponunt ac per favos digerunt et, ut Vergilius noster ait, >liqugntia mejla / stipant et dulcj diste/idunt ngctare cellas<.« Das sieht sogar ein Blinder! Etwas ist ganz offenkundig oder eindeutig (umgangssprachlich auch: Das sieht doch ein Blinder [mit Krückstock]). Livius schildert in seinem Geschichtswerk »Ab urbe condita« 36
(»Von der Stadtgründung an«) die lebhaften Verhandlungen zwischen Philipp V. von Makedonien und den auf römischer Seite kämpfenden Ätolern während des 2. Makedonischen Krieges (200-197 v. Chr.). Philipp habe dabei auf den heftigen Einwurf, es komme nicht auf Worte, sondern auf Sieg oder Niederlage an, zustimmend angemerkt: »Das ist sogar einem Blinden offenkundig«1 - womit er in sarkastischer Weise auf das Augenleiden des Atolischen Bundeshauptmanns anspielte. Die Wendung hat griechische Vorbilder und begegnet später auch bei anderen lateinischen Autoren.2 L: Böttcher 76 (Nr. 429); Duden 11,11 7; Mletzko 19. 109; Otto 60 (Nr. 276). 1: Liv. 32,34,3: »Apparet id quidem ... etiam caeco.« 2: Quint. inst. 12,7,9; Boeth. consol. phil. 3,9. Griech. Vorlagen nennt Otto 60 (Nr. 276). Blut, Schweiss und Tränen vergiessen sich mit Kampf, Anstrengungen und auch mit schmerzlichen Verlusten für etwas einsetzen. Der britische Premierminister Winston Churchill (1874-1965) sagte am 13. Mai 1940, drei Tage nach dem deutschen Einmarsch in Belgien, in seiner Antrittsrede vor dem Unterhaus: »Ich möchte dem Haus sagen, wie ich zu den Mitgliedern dieser Regierung gesagt habe: Ich habe nichts zu bieten als Blut, Mühe, Tränen und Schweiß.«1 Diese Schlagworte wurden in der deutschen Zitierung meistens zu »Blut, Schweiß und Tränen« verkürzt und als Redensart für das Durchstehen äußerster Gefahr oder Anstrengung gebräuchlich. Allerdings wird hier auf weit ältere Begriffsverbindungen zurückgegriffen: »Blut und Schweiß« findet sich bereits häufig bei lateinischen Autoren: Der Dichter Ennius z. B. spricht in einem Vers von »Beute ohne Schweiß und Blut«2 oder Cicero von einer »mit sehr viel Schweiß und Blut erworbenen Freiheit«;3 die »Tränen« begegnen ebenfalls im Zusammenhang mit Anstrengungen, werden aber mehr noch durch Ängste und Befürchtungen hervorgerufen.4 Offenbar dienten all diese Körperflüssigkeiten dazu, die äußerste Anforderung an den Menschen in einer Krisensituation zu illustrieren - insbesondere das Blut, in das die Tränen oder Schweißperlen geradezu übergehen. Entsprechend gibt es auch im Deutschen schon früh die Wendungen »Blut weinen« und »Blut schwitzen«.5 Die Verbindung »Blut und Tränen« 37
prägte dann 1928 der Historiker Treitschke.6 Doch wurde sie erst durch Churchill erweitert und allgemein bekannt gemacht. Sie wird immer noch gern in Zusammenhängen gebraucht, die einem Einzelnen oder einer Gruppe höchsten Einsatz abverlangen. L: Böttcher 551 (Nr. 3630) und 647-648 (Nr. 4193); Büchmann 397; Duden 12,80; Grimm 2,1 71; Otto 334 (Nr. 1708); Röhrich 225.1: »I would say to the House, as I said to those who have joined this Government: I have nothing to offer but blood, toil, tears and sweat«; in: Reden 1938/1940 [Into Battle, dt.], gesammelt von Randolph S. Churchill, Zürich 1946, Bd. 1, S. 321; W. L Churchill, His Complete Speeches 1897-1963, Bd. VI, New York, London 1974, S. 6220; nach Büchmann 397. 2: Enn. bei Cic. off. 1,18,61: »(Salmacida) spolia [»Beute eines Salmakiden«, d.h. eines Feiglings] sine sudore et sanguine.« 3: Cic. de leg. agr. 2,6,16: »plurimo sudore et sanguine... partam... libertatem«. Weitere Beispiele bietet Otto 334 (Nr. 1708). 4: Beispielsweise Sen. ep. 99,11,2. 5: Belege bei Grimm 2,171. 6: In der an Max Duncker gerichteten Vorrede zum 1. Band der »Deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert«, Leipzig 1928, S. IX nach Böttcher 551. IM GLEICHEN BOOT SITZEN gemeinsam in einer schwierigen Lage sein (meist mit negativem Beiklang: Wenn einer kentert [scheitert], kentert der andere mit ihm); auch allgemeiner: aneinander gebunden sein, die gleichen Interessen haben; mit im Boot sitzen: einen Anteil an etwas haben. Vgl. dasselbe Bild in: Das Boot ist voll: es ist kein Platz mehr; jemanden in sein Boot kriegen: von der eigenen Meinung überzeugen, als Mitstreiter gewinnen; im richtigen Boot sein: richtig liegen (Gegenteil: auf dem falschen Dampfer sein). In einem Brief an Gaius Curio schrieb der Politiker und Redner Cicero im Jahre 53 v. Chr. (wohl in Anspielung auf sein schlechtes Verhältnis zu Pompeius): »Wie die Dinge hier stehen, wage ich nicht einmal einem Briefe anzuvertrauen. Du befindest dich freilich, wie ich Dir neulich schon schrieb, auf demselben Schiff, magst du sein, wo du willst...«1 Das lateinische »in eadem navi esse« (oder auch: »in eodem navigio esse«)2 entspricht damit schon genau der heutigen deutschen Verwendung. Die Metapher »desselben Bootes« hängt eng mit der auf die Griechen zurückgehenden Vorstellung vom Staatsschiff als einer Interessen- oder Notgemeinschaft zusammen. Roger Bacon formulierte um 1594 die englische Version mit »you are in the 38
same shippe« und später »We're in the same boat«, woraufhin »dasselbe Schiff« ganz verdrängt wurde. Die französische Version »etre dans le meme bateau« erscheint seit im 20. Jh., die deutsche Entsprechung erst nach dem 2. Weltkrieg. Sie wird gern abgewandelt oder ironisiert, wie etwa auf folgende Weise: »Wir sitzen alle in einem Boot, sagen die Politiker, wenn sie ans Ruder wollen.«3 L: Duden 11,124; Grimm 2,237-238; Macrone 132; Mletzko 20; Otto 239 (Nr. 1206); Röhrich 1,240-242. 1: Cic. fam. 2,5,1: »etsi ubicumque es, ut scripsi ad te ante, in ea- dem es navi...« 2: Liv. 44,22,25: »qui in eodem velut navigio participes sunt periculi.« 3: Röhrich 1,241. B: Verschiedene Gedichte, Aphorismen und Karikaturen bietet Röhrich 1,241-242. S: Engl, »to be (all) in the same boat« (Lit. dazu bietet Mieder, Investi- gations 31); frz. »etre dans le meme bateau«. Brot und Spiele Speisung und Unterhaltung. Nach dem Satiriker Iuvenal (1. Jh. n. Chr.) forderte das römische Volk stets nur »panem et circenses« - Brot und Spiele. Der Dichter klagt: »Das (Volk), das einst den Oberbefehl, die Rutenbündel, die Legionen, alles verlieh, hält sich jetzt zurück und wünscht sich ängstlich nur noch diese beiden Dinge: Brot und Wagenrennen.«1 Kritisiert wird aber nicht nur das Volk, das sich von seiner Regierung alles gefallen läßt, wenn es nur gespeist und unterhalten wird, sondern auch die Amtsträger, die nur noch auf den Applaus der Masse schauen. Kostenlose Getreideausgabe (»annona«) und Wagenrennen waren seit der späten Republik übliche Mittel, sich bei der Masse der Bevölkerung beliebt zu machen; da Italien sich nicht selbst versorgen konnte, mußte aus Sizilien und Afrika stets zusätzliches Getreide importiert werden, das in großen Speichern in Ostia und Puteoli gelagert wurde. Kaiser Trajan sagte später, das römische Volk werde »vor allem durch zwei Dinge gebannt: die Getreideversorgung und die Schauspiele.«2 Ähnliche Kritik findet sich aber schon früher für die Bevölkerung Alexandrias: »Aber was soll einer zu der großen Masse der Alexandriner sagen, denen man einzig und allein viel Brot hinwerfen muß und das Schauspiel von Wagenrennen, da sie ja sonst an nichts Interesse haben.«3 Dieser Einschätzung der Rolle der Circusspiele im kaiserzeitlichen Rom steht allerdings die sich inzwischen dazu gesel- 39
lende Erkenntniss gegenüber, daß die Masse im Circus keineswegs unpolitisch war, sondern der Circus in der Kaiserzeit das Forum als Ort politischer Kommunikation abgelöst hat.4 Heute betont man mit der Redensart meistens die leichte Kontrollierbarkeit der Masse durch beliebige Regierungen, solange diese nur Nahrung und Unterhaltung bereitstellen. Manchmal erscheint aber auch der Gedanke, daß die »Spiele« vom Mangel an Brot ablenken können: So schrieb die Londoner »Times« im Depressionsjahr 1930: »Prozessionen sind gute Sachen, und es gibt keine bessere Zeit für Zirkusspiele als wenn das Brot teuer oder knapp ist.«5 An die Priorität, die das Essen ganz natürlich vor allem Weiteren besitzt, erinnerte Bertolt Brecht 1928 in seiner »Dreigroschenoper«: »Ihr Herrn, die ihr uns lehrt, wie brav man leben / Und Sund und Missetat vermeiden kann / Zuerst müßt ihr uns was zu fressen geben / Dann könnt ihr reden: damit fängt es an. / Ihr, die ihr euren Wanst und unsre Bravheit liebt / Das eine wisset ein für allemal: / Wie ihr es immer dreht und wie ihr's immer schiebt / Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.«6 L: Bartels 130-131; Böttcher 79 (Nr. 449-450); Büchmann 343; Duden 12,151. 380; Macrone 156; Mletzko 21. 66. 83. 113. 124; Reichert 121. 147. 1: luv. 10,78-81: »...nam qui dabat ojim / Imperium, fasces, legiQnes, Qmnia, nunc se / CQntinet atque duas tantum res anxius Qptat, / panem et circensgs...« 2: Fronto principia historiae 18 (S. 199f. Van den Hout): »populum Romanum duabus praecipue rebus, annona et spectaculis, teneri«. 3: Dion von Prusa, Rede an die Alexandriner 31, zitiert nach Bartels 131. 4: »Die Spiele wurden also aus mehreren Gründen, vor allem aber, weil sich bei ihnen die Plebs und der Herrscher von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, zu einer Arena der Politik.« Paul Veyne, Brot und Spiele, München 1994, S. 606. Kurz darauf (S. 608) unterzieht Veyne luvenals bekannten Ausspruch einer systematischen Kritik. 5: »Processions are good things, and there is never a better time for the circuses than when the bread ist dear or scarce«: Macrone 156. 6: Dreigroschenoper (uraufgeführt 1928, Musik von Kurt Weill), Macheath (»Mackie Messer«) im 2. Dreigroschen-Finale (überschrieben mit »Denn wovon lebt der Mensch?«; Brecht, Stücke, Berlin 1955, Bd. 3,99. S: Engl. »Bread and Circuses«. (die) brotlose Kunst (ursprünglich:) die Kunst (v. a. Dichtkunst), die kein Geld einbringt; (häufiger:) jede Tätigkeit, mit der sich kein Lebensunterhalt verdienen läßt. Vgl. -> von Luft und Liebe leben. Die Idee, daß geistige Tätigkeit noch lange keine materiellen Bedürfnisse befriedigt, findet sich zuerst bei Petronius: In des- 40
Brot und Spiele.
sen Roman »Satyrica« trifft der Erzähler auf einen ärmlichen Dichter, der zu ihm sagt: »Ich bin ein Dichter und, wie ich hoffe, nicht von ganz niedriger Begabung [...]. >Warum<, fragst du, >bist du dann so schlecht gekleidet?* Genau deswegen. Die Liebe zum Geistigen hat noch nie jemanden reich gemacht.«1 Im 12. Jh. begegnet der letzte Satz bei Johann von Salisbury wieder.2 Das Mittelalter bildete für den Gedanken das lateinische Sprichwort »Litterae (oder: carmina) non dant panem«: Schriftstellerei (auch: Dichtung) gibt kein Brot. In der Redewendung von der »brotlosen Kunst« ist dies erhalten. L: Tosi 817 (Nr. 1834); Zanoner 18 (Nr. 135). 1: Petron. 83,8-9: »...amor ingenii neminem umquam divitem fecit.« 2: Policraticus 7,15, PL 199,673a. Der Buckel juckt jemanden Jemand benimmt sich so übermütig, daß er bald Prügel bekommen wird. Nach altem Volksglauben ist das Jucken eines Körperteils die Vorankündigung eines dies betreffenden Ereignisses (vgl. ähnlich »es juckt mir in den Fingern [etwas zu tun]«). So sagt schon bei dem römischen Dichter Plautus im »Miles gloriosus« der Sklave Sceledrus: »Derganze Rücken juckt«, d.h.: Ich ahne, daß ich Prügel bekommen werde.1 Vom Gesicht (in das man ja auch geschlagen werden kann) gebraucht Plautus entsprechende Wendungen (»Die Zähne jucken« und »die Kinnbacken oder Zähne jucken«).2 Im Deutschen erscheint die Wendung - mit dem »Buckel« anstelle des Rückens - bei Luther und Ludwig Uhland.3 Auch Goethe fragt: »Juckt euch der Buckel wieder?«4 Heute wird noch häufiger, aber in gleicher Bedeutung »jemanden juckt das Fell« gebraucht. L: Borchardt-Wustmann-Schoppe 92; Duden 11,134. 199; Grimm 2,485; Otto 121 (Nr. 581). 1: Plaut, mil. gl. 397: »dorsus totus prurit«; vgl. Pers. 31: »Schon jucken die Schultern« (»iam scapulae pruriunt«). 2: Amphitr. 295: »dentes pruriunt«; Poen. 1315: »malae aut dentes pruriunt«. 3: Ludwig Uhland, Volkslieder 249,4: »Tut dich der buckel jucken, so lain dich her an mich!« (so der rauflustige Bauer nach Borchardt-Wustmann- Schoppe 92). 4: Goethe 8,242 nach Grimm 2,485. 42
c Cäsarenwahn Überheblichkeit und Wahnsinn eines unumschränkt Herrschenden. Als Beleg für dieses Wort wird üblicherweise eine Textstelle aus Tacitus' »Historien« angeführt, in der vom »Wüten der Kaiser« (lat.: »furor principum«) die Rede ist.1 Doch steht dieser Begriff dort in einem eher unerwarteten Kontext: Er ist hier keineswegs auf eines der berüchtigten Mitglieder der iulisch-claudi- schen Dynastie, nicht auf Nero oder Caligula gemünzt, sondern bezieht sich auf die Niederbrennung des Kapitols in den Kämpfen zwischen Anhängern des Vitellius und des Vespasian im Kampf um den Thron (69 n. Chr.). Damit meint der »Cäsarenwahn«, dem Tacitus diese frevlerische Tat zuschreibt, keinen persönlichen Charakterdefekt der Herrscher, sondern die Rücksichtslosigkeit ihrer Machtkämpfe. Auf geistigen Wahnsinn der Cäsaren - ob dieser tatsächlich vorlag oder nicht, soll hier dahingestellt bleiben - wurde der Begriff erst Mitte des 19. Jh. in Frankreich übertragen2 und in der Folge auch als Schlagwort gegen Napoleon III. benutzt. Eingedeutscht wurde das Wort 1862 durch den Kulturhistoriker Johannes Scherr, der in seinem Buch »Blücher und seine Zeit« den französischen Ausdruck übersetzte und in »deutschen Kaiserwahnsinn« abwandelte.3 Kurz darauf erscheint das Wort auch bei Gustav Freytag (1816-1895).4 Der Begriff »Cäsarismus« hat seinen Ursprung ebenfalls in Frankreich: Auguste Romieu (1800-1855) schlug in seinem Buch »L'Ere des Cesars« (1850) die Abschaffung des Parlamentarismus vor, da er zum Kommunismus führen werde, und forderte zur Rettung Frankreichs einen gewählten absoluten Monarchen, die Diktatur eines Cäsaren. Im »Kladderadatsch« vom 11. 1. 1857 heißt es daher, man könne »den Cäsarismus überall anklopfen hören und an allen Toren Europas seine Visitenkar- 43
ten abgeben sehen«. Der demokratische Schriftsteller Ludwig Bamberger polemisierte 1866 in seinem in der »Rheinischen Zeitung« veröffentlichten Aufsatz »Der Caesarismus« gegen Ro- mieu und dessen Verherrlichung Napoleons III.5 L: Böttcher 506-507 (Nr. 3324-3325). 1: Tac. hist. 3,72,1 (»furor principum«). 2: »ma- nle imperiale«, in: Francois de Champagny, Histoire de Cesars, 4 Bde. Paris 1841 /1843. 3: 8. Buch, Kap. 1 (Bd. 2, S. 435); 9. Buch, Kap. 1 (Bd. 3, S. 37). 4: Die verlorene Handschrift, 1864. 5: Gesammelte Schriften, Berlin 1895, Bd. 3, S. 328-336. * EINE CATILINARISCHE EXISTENZ zu verzweifelten Schritten bereiter, gefährlicher Mensch. Der römische Politiker Catilina (108-62 v. Chr.) wurde dadurch bekannt, daß er nach einer gescheiterten Bewerbung um das Konsulat eine Verschwörung unternahm, die jedoch von dem Konsul Cicero durchschaut und unterdrückt wurde. Der Schriftsteller Sallust schildert seine Persönlichkeit in seiner Schrift über die »Verschwörung des Catilina«:1 »Lucius Catilina war von adliger Geburt, von großer Kraft des Geistes wie des Körpers, hatte aber einen schlechten und verdorbenen Charakter. Von frühester Jugend an erfreute er sich an Bürgerkrieg, Mord, Raub und Zwietracht und übte sich von jung an darin. Sein Geist war kühn, verschlagen, unbeständig. Er konnte jede beliebige Sache vortäuschen oder ableugnen. Er strebte nach fremdem Gut, war mit dem eigenen verschwenderisch und brannte vor Begierden. Er verfügte über Redegewandtheit, aber zu wenig Einsicht. Sein maßloser Geist verlangte ständig nach Unmäßigem, Unglaublichem, allzu Hohem. Nach der Gewaltherrschaft des Sulla befiel ihn eine äußerst starke Begierde, den Staat in seine Gewalt zu bekommen, und es war ihm egal, mit welchen Mitteln er dies erreichte, solange er nur die Alleinherrschaft dadurch erlangte.« In Anspielung auf Catilina sagte Otto von Bismarck am 30. September 1862 vor der Budgetkommission des preußischen Abgeordnetenhauses: »Im Lande gibt es eine Menge kati- linarischer Existenzen, die ein großes Interesse an Umwälzungen haben.« L: Duden 12,275.1: Sali. Cat. 5. 44
* Caudinisches Joch demütigende Zwangslage. Unter das Joch schicken, unterjochen: demütigen, auf demütigende Weise unterwerfen. Wenn in römischer Zeit nach einer Schlacht die Soldaten der unterlegenen Seite nicht versklavt oder getötet werden sollten, wurden sie häufig auf besonders demütigende Weise entlassen, indem man sie unter das »Joch« (lat.: »iugum«) schickte: Dies bestand aus zwei in die Erde gerammten Speeren, über die ein dritter als Querbalken gelegt und festgebunden wurde.1 Die Soldaten des unterlegenen Heeres mußten nun unter diesem Gestell hindurchmarschieren. Am bekanntesten wurde die Prozedur durch die Niederlage der Römer in den Caudinischen Pässen (»Furculae Caudinae«) in Mittelitalien: Im 2. Samniten- krieg (326-304 v. Chr.) wurde das römische Heer 321 v. Chr. dort von den Samniten eingeschlossen und mußte komplett unter dem »Joch« hindurchgehen: »Als erste wurden die Konsuln fast halbnackt unter das Joch geschickt, dann jeder, wie er im Rang der nächste war, der Schmach unterzogen, dann der Reihe nach die einzelnen Legionen. Die Feinde standen bewaffnet um sie herum, beschimpften und verhöhnten sie; sehr viele wurden auch mit dem Schwert bedroht, einige sogar verwundet oder getötet, wenn ihre Miene infolge der demütigenden Umstände schärfer wurde und den Sieger beleidigte. So wurden sie durch das Joch geführt, und das, was fast noch schlimmer war, unter den Augen der Feinde ...«2 Wenn das Joch hingegen ein Bild für schwere Arbeit oder ein mühevolles Schicksal sein soll, geht es auf das Joch zurück, unter das Zugtiere zur Arbeit gespannt werden. Bereits der Dichter Horaz spricht beispielsweise davon, untreue Freunde seien »zu listig, um auf gleiche Weise das Joch zu tragen«, d.h. das Schicksal zu teilen.3 Dieser Verwendung entsprechen die deutschen Redensarten »im Joche sein«, »das Joch tragen«, »ins Joch der Arbeit eingespannt sein«, »das Joch abschütteln/abwerfen« u. ä. In einer Ode vergleicht Horaz ein noch unverheiratetes Mädchen mit einem Jungstier, der noch nicht ins Joch gespannt werden könne: »Noch nicht gebeugt zu tragen das Joch vermag sie / mit ihrem Nacken, noch nicht der Leistung des Gespanngefährten / gleichzukommen...«4 Der Humanist Erasmus kommentierte dies in seinen »Adagia« folgender- 45
maßen: »Denn auch das Zusammenkommen zweier Menschen auf gleicher Stufe ist eine mühevolle Aufgabe, gleichwie unter einem Joch. Daher heißt es auch >coniugium< [>Zusammen- jochung<].«5 Lateinisch »coniugium« ist - die Ehe. L: Böttcher 138 (Nr. 839); Büchmann 367; Duden 12,275; Otto 1 78 (Nr 876). 1: Liv. 3,28,11. 2: Liv. 9,6,1-3. 3: Hör. carm. 1,35,28: »Ferre iugum pariter dolosi«; vgl. Plin. ep. 3,9,8 »cum uterque pari iugo... pro causa niteretur« (»weil wir beide ... für die Sache unter demselben Joch standen, d.h. am gleichen Strang zogen); Sen. ep. 109,16 über die wahren Freunde: »Egregium opus pari iugo ducet« (»das hervorragende Werk wird sie unter gleichem Joch führen«, d.h. sie einträchtig sein lassen). Im Griechischen hatten ähnliche Wendungen den Sinn von »an demselben Strang ziehen«: Otto 178 (Nr. 876). Vgl. Matth. 11,30: »Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.« 4: Hör. carm. 2,5,1-3: »Nondym subacta ferre iugum valgt / cervice, nQndum munia CQnpans / aequa/e...« (Übers, nach B. Kytzler). 5: Er. ad. 1,2,71: »Nam et coitus duorum ex aequo negocium est, itidem ut in iugo. Unde dictum etiam coniugium.« S: Engl. »To pass under the yoke«. D die Daumen drücken jemandem Glück und Erfolg wünschen, in Gedanken bei jemandem sein und ihm beistehen (auch im Sg.: jdm. / für jdn. den Daumen drücken/halten). Auf den Daumen als wichtigen und von den anderen unterschiedenen Finger sind mancherlei alte Vorstellungen, Gebräuche und Redensarten bezogen. Das Einschlagen des Daumens zwischen die übrigen vier Finger ist wohl im Ursprung eine Abwehrgeste gegen böse Geister (man vergleiche den Aberglauben, daß das Einknicken des Daumens im Schlaf Alpträume verhindere) und wurde dann zu einem Ausdruck der besorgten, wohlwollenden Anteilnahme. Bei den Römern wurde die Sitte des Daumendrückens - wie bei uns - nicht nur praktisch geübt, sondern offenbar auch bereits redensartlich verwendet: So schreibt der römische Naturforscher Plinius der Ältere in einer 46
Aufzählung abergläubischer Gebräuche: »Die Daumen zu drücken werden wir, wenn wir Gutes wollen, auch im Sprichwort aufgefordert.«1 Auch Horaz spielt wohl auf das Daumendrücken als Form des guten Wunsches an: »Wer glaubt, du nehmest an seinen Interessen teil, wird auf deiner Seite sein und dein Spiel mit beiden Daumen loben.«2 Im Deutschen ist die Wendung zuerst in der Form »jemandem den Daumen halten« belegt. So heißt es bei Johann Andreas Schmeller (1785-1852): »Halt mir den Daumen, damit ich ein Glück habe!«3 L: Duden 11,146; Grimm 2,848; Mletzko 22; Otto 283 (Nr. 1445). 1: Plin. nat. 28,25: »Pollices, cum faveamus, premere etiam proverbio iubemur«. 2: Hör. ep. 1,18,65-66: »CQnsentire suis studiis qui crgdiderit te, / fajitor utrgque tuym laudabit pgjlice kt dum.« 3: Nach Grimm 2,848 mit weiteren Belegen zum Daumenhalten als Zeichen des Glückwunsches oder (da man so eine Faust zeigt) der Drohung. S: Engl, »to keep one's fingers crossed«. DEUTSCH REDEN deutlich und ohne Umschweife reden, die Wahrheit sagen. Auf (gut) Deutsch (gesagt): unverblümt, ohne Beschönigung. Diese typisch deutsch klingende Redewendung hat ein lateinisches Vorbild in dem gängigen Ausdruck »lateinisch reden« (»Latine loqui«) für ein offenes und ehrliches Reden ohne große Umschweife. So schildert z. B. Cicero in seiner zweiten Rede gegen den korrupten Statthalter Verres, wie viele Kunstschätze dieser sich angeeignet habe, und weist die Geschworenen ausdrücklich darauf hin, daß er mit diesen Auslegungen »lateinisch, nicht nach Advokatenart« rede, also schlicht und ohne die bei einem Anwalt vielleicht anzunehmende Übertreibung.1 Der Dichter Martial schreibt Ende des 1. Jh. n. Chr. in der Vorrede zu seinen stellenweise lasziven Epigrammen: »Sollte jemand aber so fanatisch prüde sein, daß man bei ihm auf keiner Seite deutsch reden [lat.: »Latine loqui«] darf, dann kann er sich mit dem Einleitungsbrief oder noch besser mit dem Titel zufriedengeben. Epigramme sind für jene geschrieben, die sich auch gerne Nackttänzerinnen anschauen.«2 In der Reformationszeit wurde als Gegenstück zu »Latine loqui« die Wendung »deutsch reden« (offen, deutlich reden) gebildet, die zugleich noch dadurch Schärfe erhielt, daß es eine 47
bewußte Abkehr vom - in Kirche und Gelehrtenkreisen vorhersehenden - Latein darstellte und damit zum Beispiel die Bibel auch für jeden, der kein Latein verstand, verständlich machte. Über sein Verfahren, eine allgemein verständliche Bibelübersetzung zu schaffen, äußerte sich Martin Luther in »Ein Sendbrief D. M. Luthers vom Dolmetschen und Fürbitt der Heiligen« (1530) so:3 »... man muß die Mutter im Haus, die Kinder auf den Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen das Maul sehen, wie sie reden und danach dolmetschen; so verstehen sie es denn und merken, daß man deutsch mit ihn' redet.« »Deutsch mit jemandem reden« heißt hier (wie im antiken Sinne) verständlich, klar, ohne Beschönigung, eventuell auch grob sprechen; übrigens kann man auch heute noch »dem Volk aufs Maul schauen«. Ein deutliches »deutsch Reden« hat schließlich auch den Beiklang zusätzlich angedrohter Gewalt erhalten, wie zum Beispiel bei Hermann Hesse: »Sei so gut, und halt du deinen Schnabel, sonst schwätz ich deutsch mit dir.«4 Wohl deshalb bildete Peter Tille den sarkastischen Sinnspruch: »Deutsch reden! ist die deutscheste Drohung, die es gibt.«5 Auf Deutsch gesagt: Er irrt. L: Böttcher 93 (Nr. 531-532); Duden 11,151; Grimm 2,1046-1047; Otto 188 (Nr. 924); Wander 1,577 (Deutsch 6). 1: Cic. Verr. 2,4,2: »Latine me scitote, non aecusato- rie loqui.« 2: Martial. 1 praef., Übers, in Anlehnung an U. Cößwein; vgl. ferner Cic. Phil. 7,6,17; Quintil. declam. 3,6. 3: Zitiert nach Böttcher 93 (Nr. 531); viele weitere deutsche Belege bietet Grimm 2,1046-1047.4: Hermann Hesse, In der alten Sonne, Leipzig 1943 (Erstausg. 1914), S. 43 nach Duden 11,151. 4: Mieder, Antisprichwörter 19 mit Beleg. S: Frz. »dire francais«, »ä la franeoise«. * SEIN DEZEM BEKOMMEN seinen Anteil, seine Strafe bekommen; (obersächsisch:) sein Däzen dazu geben: hineinreden, sich einmischen. Der Begriff kommt vom mittellateinischen »deeimum«, ahd. »dezemo«, der »Zehntabgabe«: Seit dem 4. Jh. war der »Zehnte« nach altjüdischem Vorbild die an die Kirche abzuführende Abgabe. Der übertragene Gebrauch von »Dezem/Däzen« hat sich besonders in den mitteldeutschen Mundarten eingebürgert. L: Borchardt-Wustmann-Schoppe 103. S: Vgl. engl, »my two cents« (meine unmaßgebliche Meinung). 48
# „o^ ... a Dichterische Freiheit.
DICHTERISCHE FREIHEIT die (größere) Freiheit des Künstlers. In seiner Schrift »Über den Redner« spricht Cicero über die »Freiheit der Dichter« (lat.: »poetarum licentia«):1 Ihnen sollten archaische Wörter ebenso wie neuartige Ausdrücke vorbehalten bleiben, in öffentlichen Reden hingegen vermieden werden. Was sonst lächerlich klinge, könne nämlich in dichterischem Zusammenhang durchaus angemessen sein, der ja auch nicht das alltägliche Leben beschreibe. Seneca hingegen merkte zu der Vorstellung, daß der Göttervater Zeus seine Waffen wechsle, an: »Dies gehört zur dichterischen Freiheit« (lat.: »Poeticam istud licentiam decet«);2 »poetica licentia« bedeutet hier also bereits Freiheit in der Entfaltung der Phantasie und in der Ausgestaltung der Motive. So wie Cicero eine Freiheit in der Wortwahl meinte, erscheint »poetic license« im Englischen und - erst seit dem 18. Jh. - »dichterische Freiheit« im Deutschen zuerst im Zusammenhang mit poetischen Techniken (Wortwahl, Metrum, Bilder etc.). Heute hingegegen meint man meistens einen freieren Umgang des Dichters mit den Fakten oder der Plausibilität von Ereignissen. In diesem Verständnis kann man sich demnach heutzutage, wo Dichtung eine immer geringere Rolle spielt, auch als Nichtdichter »dichterischer Freiheit« bedienen. L: Bartels 139; Böttcher 81 (Nr. 471-472); Büchmann 337; Grimm 2,1067; Macrone 137; Mletzko 23. 34. 1: Cic. de or. 3,153. Der lateinische Begriff ist eine Lehnübersetzung von griech. 7ioit|tikti e^ovoia. Dies findet sich zuerst bei Agatharchides, De mari Erythraeo 1,4 (Müller, Ceographi Craeci minores 1,112); vgl. Lukian, Gespräch mit Hesiod 5: »die Freiheit im dichterischen Schaffen« (xr\v ev tco tioieiv e^oDoiav). 2: Sen. quaest. nat. 2,44,1; vgl. Ov. am. 3,12,41 (»licentia vatum«); Phaedr. 4,26,8; Hör. ars 8-9. DÜMMER ALS DUMM äußerst dumm. Das umgangssprachliche, aber wirkungsvolle Mittel, die besondere Steigerung einer Eigenschaft mit dem Komparativ vor derselben Eigenschaft zu bezeichnen (klüger als klug, kälter als kalt etc.), ist weder eine Möglichkeit allein des Lateinischen noch dort zuerst nachweisbar. Doch ist es interessant zu sehen, daß die im Deutschen wohl häufigste Anwendung, nämlich »düm- 50
mer als dumm«, bereits bei dem lateinischen Komödiendichter Plautus gängig ist: »Dümmer als dumm bist du gewesen, der du Geschriebenem geglaubt hast«, sagt zum Beispiel im »Curcu- lio« der Kapitän Therapontigonus zu dem Bankier Lyco, der auf ein gefälschtes Siegel hereingefallen ist und daraufhin einem Kuppler Geld ausgezahlt hat.1 Und im »Amphitruo« Alkmene zu Jupiter: »Wenn du nicht dümmer als der Dümmste bist, kannst du mit einer Frau, die du für schamlos hältst und laut erklärst, weder im Spaß noch im Ernst ein Wörtchen reden.«2 In ähnlicher Konstruktion sagt in der Gespensterkomödie »Mostellaria« der junge Herr Philolaches zu der schlauen Sklavin Scapha: »Wie überaus klug sie doch alles durchschaut! Nichts ist klüger als diese Kluge.«3 Übrigens finden sich auch die komparativischen Wendungen »weniger als nichts« (absolut nichts; lat.: »minus nihilo«) und umgekehrt »besser / mehr als nichts« (etwas, ein wenig; lat.: »plus quam nihil«) bei klassischen Autoren.4 L: Otto 333 (Nr. 1699) und 243 (Nr. 1227). 1: Plaut. Curcul. 551: »Stujtißr stulto fuisti, qui tabejlis crgdergs.« Vgl. Most. 965: »Praeter speciem stultus es« (»Über alle Vorstellung dumm bist du«). 2: Plaut. Amphitr. 907: »quam tu impudjcam esse arbitrere et pra^dicgs, / cum ea tu sermQnem nee iocQ nee serio / tibi habeas, nisi sis stujtio/ stultis- simQ.« 3: Plaut. Most. 279: »yt perdQCte eyneta callet. njhil hac dQCta dgetius est.« Vgl. Servius in Donat. p. 431,7 doctior doctissimo. 4: Weniger als nichts: Plaut. Pseud. 938; Ter. Phorm. 535; Stat. 92. Besser als nichts: Ov. her. 19,170. E Eile mit Weile! Übertreibe deine Eile nicht! Immer mit der Ruhe! Nach Sueton vermied der römische Kaiser Augustus als Feldherr bewußt jede Überstürzung und äußerte dazu gern den Satz »Festina lente« (»Eile behutsam!« Griech. o7iet>8e ßpotSeox;)1. 51
Außer dieser Maxime habe Augustus auch gern einen entsprechenden Vers des Euripides (»Vorsicht ziemt dem Heeresleiter mehr als toller Wagemut«)2 und eine sinnverwandte lateinische Sentenz Catos des Älteren zitiert: »Schnell genug geschieht, was gut genug geschieht« (»Sat celeriter fieri, quidquid fiat satis bene«). Das lateinische »festina lente« ließ Augustus auch auf seine Münzen prägen. Die paradoxe Zusammenstellung der zwei Begriffe findet sich im Mittelalter bei dem englischen Dichter Chaucer wieder.3 Das Original wurde in England zuerst von Thomas Lodge 1590 zitiert und in seiner englischen Fassung (»Make haste slowly«) später zum sich reimenden »Haste makes waste« (»Eile macht Verschwendung«) umgeformt. In Deutschland machte Goethe das Wort populär, indem er es in »Hermann und Dorothea« zitierte: »Eile mit Weile! Das war selbst Kaiser Augustus' Devise.«4 L: Bartels 79; Böttcher 68 (Nr. 358-359); Büchmann 369-70; Duden 11,1 71; Grimm 3,107; Macrone 1 79; Mletzko 26. 42.1 37; Reichert 31 7.1: Suet. Augustus 25,4. 2: Eur. Phoen. 599. 3: Troilus and Criseyde (um 1374): »He hasteth well that wisely can abide.« 4: In: Polyhymnia 82. S: Engl. »Make haste slowly«, »Haste makes waste«. EINER FÜR ALLE, ALLE FÜR EINEN Alle halten zusammen und stehen füreinander ein. In Vergib Epos »Aeneis« verheißt der Meeresgott Neptun, den Venus um Hilfe für eine glückliche Fahrt ihres Sohnes Aeneas nach Italien gebeten hat, daß dieser und seine Gefährten alle bis auf einen das Land erreichen würden: »Einen nur wirst du vermissen; ihn verschlingt die Tiefe des Meeres: Ein Haupt wird für viele gegeben werden.«1 Später wird dementsprechend der Steuermann Palinurus vom Gott in die Fluten geworfen, während alle anderen unversehrt bleiben.2 Danach zitieren wir »einer für viele« (auch lat.: »unus pro multis«) für das Einstehen oder gar eine Opferung eines Einzelnen für die Gemeinschaft. »Einer für alle, alle für einen« sagt in Louis Angelys Posse »Fest der Handwerker« (1828) der Meister zu seinem Gesellen und beschreibt damit das enge Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gruppe. Bei Alexandre Dumas' »Musketieren« mit ihrem Wahlspruch »Tous pour un, un pour tous« (»Alle für einen, einer für alle«) steht das solidarische Eintreten aller für- 52
einander im Vordergrund.3 Der nationalsozialistischen Propaganda diente der Satz »Einer für alle, alle für einen« dagegen als Losung, mit der die Fixierung aller auf einen einzigen herausgehobenen Führer bestärkt werden sollte. L: Böttcher 70 (Nr. 375-377); Büchmann 323; Duden 12,141. 1: Verg. Aen. 5,814-815: »Unus erit tantum, amissym quem gyrgite quae/es; / Unum prc» multis da- bityr caput...« Zu demselben Motiv in christlichem Kontext vgl. Joh. 11,50. 2: V. 857-860. 3: A. Dumas d. Ä., Les trois mousquetaires (1844), Kap. 9. noch ein Eisen im Feuer haben noch andere Möglichkeiten haben (auch: Zwei/mehrere E. i. F. h.); vgl.: Man muß das Eisen schmieden, solange es heiß ist: Man muß die Gelegenheit nutzen. Beim Schmieden sind immer mehrere Eisen in der Feuerschüssel, damit der Schmied ohne Unterbrechung arbeiten kann. Wer also wie ein Schmied »mehrere Eisen im Feuer hat«, hat im Leben die nötigen Ausweichmöglichkeiten und Alternativoptionen (vgl. zu dem Bild des Schmiedens auch -> Jeder ist seines Glückes Schmied). Sowohl die Redensart »noch ein Eisen im Feuer haben« als auch »man muß das Eisen schmieden, solange es heiß ist« stehen vermutlich mit einer Stelle aus Senecas »Apocolocyntosis« (der »Verkürbissung« des Kaisers Claudius) in Zusammenhang. In dieser Satire wird geschildert, wie nach dem Tod des Claudius im Rat der Götter darüber verhandelt wird, ob man ihn - wie auch die vorangehenden römischen Herrscher - unter die Götter aufzunehmen habe. Berechtigte Zweifel regen sich angesichts einiger unrühmlicher Seiten des Verstorbenen, so daß der Gott Janus (-* janusköpfig) einen grundsätzlichen Ausschluß Sterblicher von der Vergöttlichung beantragt. Da bekommt es der Held Herkules, der ja auch selbst einmal sterblich war, mit der Angst zu tun, und beginnt, gegen den Antrag zu werben: »Weil Herkules nämlich sah, daß jetzt sein Eisen im Feuer war, lief er hin und her und sagte: >Du wirst mir doch nicht übel wollen? Hier geht es doch um meine Sache. Wenn du mal etwas willst, werde ich es dir vergelten: Eine Hand wäscht die andere.*«1 Hier hat das »Eisen im Feuer« also eher die Bedeutung unserer Redewendung »man muß das Eisen schmieden, solange es heiß ist«: Es ist eine Metapher für den 53
Augenblick, in dem gehandelt werden muß und auf den es ankommt. In der Literatur wird oft Seneca dafür als Urheber genannt, aber die dabei zitierten Formulierungen wie »oportet ferrum tundere, dum rubet« oder »dum ferrum candet, tunden- dum est« finden sich im Wortlaut nicht bei Seneca und sind erst später geprägt worden. L: Duden 11,175; Mletzko 26. 32; Otto 135 (Nr. 657). 1: Sen. apocol. 9,6: »Hercules enim, qui videret, ferrum suum in igne esse...« LACHENDE ERBEN Erben, die sich über das Ableben des Erblassers freuen. Das Motiv erscheint zuerst bei dem lateinischen Spruchdichter Publilius Syrus: »Das Weinen des Erben ist unter der Maske ein Lachen.«1 Mit der Maske sind hier die Masken der Ahnen gemeint, die die Familienangehörigen im Leichenzug zu tragen pflegten (vgl. -> durch Abwesenheit glänzen). In den »Varroni- schen Sentenzen« heißt es entsprechend: »Ein Erbe lacht so wie ein Mädchen, das einem Mann angetraut ist; beider Weinen ist ein nicht augenscheinliches Lachen.«2 - Im Deutschen erscheint 1622 in Baden ein »Lacherbengeld«,3 und Friedrich von Logau verfaßte 1654 ein Sinngedicht »Lachende Erben«: »Wann Erben reicher Leute die Augen / wäßrig machen, Sind solcher Leute Threnen nur Threnen / von dem Lachen.«4 Johann Jacob Otho (1629-1669) notierte in seiner Schrift »Evangelischer Krancken-Trost« (Nürnberg 1671): »Freu dich, liebes Mütlein, traure, schwarzes Hütlein, heißt's bei lachenden Erben.«5 L: Böttcher 67 (Nr. 352); Büchmann 319; Duden 11,427; Grimm 3,712; Otto 163 (Nr. 807). 1: Publil. Syr. 221 (H 19): »Heredis sub persona risus est.« 2: Varron. sent. 11: »Sic flet heres, ut puella viro nupta; utriusque fletus non apparens est risus« nach Otto 163 (Nr. 807). 3: K. H. Rau, Grundsätze der Finanzwissenschaft, 5. Ausgabe Leipzig u. Heidelberg 1864, § 237, S. 371, Anm. a nach Büchmann 319. 4: Sinngedichte, 1654, 2. Zugabe zum III. Tausend, Nr. 78; vgl. Nr. 79. 5: S. 1034 nach Grimm 3,712. bis zum Erbrechen (lat. usque ad nauseam) bis zum Überdruß, immer wieder. Daß Übelkeit häufig auf Schiffsreisen auftrat, sagte dem Römer schon der reine Name: »nausea« (Erbrechen, griech. vouxria) enthält das Wort »Schiff« (lat. navis, griech. vavc,) und ist daher verwandt mit »nauta« (Seemann), »nauarchus« (Kapitän) und 54
»naufragium« (Schiffbruch). Übelkeit konnte den Römer aber auch befallen, wenn er etwas auf Grund der ständigen Wiederholung nicht mehr ertragen konnte und eigentlich nur noch »zum Kotzen« fand. So beschwert sich der Dichter Martial, daß ein Bekannter ihn durch die minutiöse Aufzählung seiner Geschäftsgänge quält, und fordert, dafür wenigstens bezahlt zu werden: »Jetzt mußt du etwas aufzählen, damit ich es weiter ertragen kann: / Lindere meine tägliche Übelkeit durch Geld. / Umsonst anhören, Afer, kann ich es mir nicht mehr.«1 Auch besondere Geschmacklosigkeit konnte metaphorische Seekrankheit auslösen, so etwa wenn in der Satire des Petron der Gastgeber Trimalchio seinen Gästen das eigene Begräbnis handgreiflich vorführt (einschließlich Musiker und Totengesang) und sie schließlich auffordert mitzumachen: »Stellt euch vor, ich sei tot. Sagt etwas Schönes!« Der Erzähler stellt seinem Bericht den notwendigen Kommentar gleich voran: »Die Sache kam bis zum äußersten Erbrechen.«2 Die Kurzform »bis zum Erbrechen« ist im Deutschen übernommen worden. L: Bartels 196; Duden 11,180; Mletzko 27. 1: Martial. 4,37,9: »Numerus oportet aliquid, yt pati possim: / Cotidianam rgfice nayseam nummis. / Audjre gratis, Afer, jsta nQn possym.« 2: Petron. 78,5: »Ibat res ad summam nauseam.« Erlaubt ist, was gefällt Was zwar Normen verletzt, aber bei vielen Gefallen findet, soll oder kann nicht untersagt werden. In der »Historia Augusta«, einer Sammlung von Kaisergeschichten aus dem 4. Jh., wird folgende legendenhafte Anekdote über Kaiser Antoninus (bekannt als Caracalla) erzählt: »Es ist interessant zu wissen, wie er seine Stiefmutter Iulia zur Frau genommen haben soll: Weil diese sehr schön war und wie aus Versehen den größten Teil ihres Körpers entblößt hatte, sagte Antoninus: >Ich würde schon wollen, wenn es erlaubt wäre.< Da soll sie geantwortet haben: >Wenn es gefällt, ist es erlaubt. Oder weißt du nicht, daß du der Kaiser bist und die Gesetze gibst anstatt sie entgegenzunehmen?<« - woraufhin er sie tatsächlich geheiratet haben soll.1 Der Ausspruch geht wahrscheinlich auf ein älteres Sprichwort zurück, da schon im 3. Jh. der Rhetor Aquila Romanus überliefert, es gebe »bei den Alten häufig jenes Wort: >Wem etwas gefällt, dem ist dies erlaubte«2 55
Bekannt wurde die Redensart durch ihre Verwendung in Goethes »Torquato Tasso«. Dort hält Tasso gegenüber der Prinzessin Leonore von Este eine begeisterte Lobrede auf die »goldne Zeit« eines idealen, paradiesischen Urzustandes der Menschheit, in dem »jedes Tier, durch Berg und Täler schweifend, / Zum Menschen sprach: Erlaubt ist, was gefällt«. Dem stellt die Prinzessin mit Hilfe einer kleinen Änderung die Devise der menschlichen Zivilisation entgegen: »Nur in dem Wahlspruch ändert sich, mein Freund, / Ein einzig Wort: Erlaubt ist, was sich ziemt.«3 L: Böttcher 318 (Nr. 1991-1992); Duden 11,182 und 12,149; Mletzko 28. 40; Otto 193 (Nr. 949). 1: H. A. Caracalla 10: »Interest scire quemadmodum novercam suam lu- liam uxorem duxisse dicatur. quae cum esset pulcherrima et quasi per neglegentiam se maxima corporis parte nudasset dixissetque Antoninus >vellem, si liceret<, respondisse fertur: >si libet, licet, an nescis te imperatorem esse et leges dare, non accipere?<« 2: Aquila Roman. 27: »frequens illud apud veteres eiusmodi est: cui quod übet, hoc licet.« 3: Torquato Tasso 2,1. * JEMANDEM EINEN ESEL BOHREN jemandem andeuten, daß man ihn für einen Esel hält, indem man ihm den Zeigefinger und den kleinen Finger herausstreckt; (ohne die Fingerbewegung:) veralbern (auch: * jemandem einen/den Esel stechen/zeigen/strecken/schnitzen). Der »Esel« stand schon bei den Römern für Störrigkeit, Dummheit und Ungelehrigkeit (vgl. u.). So sagt Cicero in einem Brief an seinen Freund Atticus im Jahre 54 v. Chr. über sich selbst: »Ich weiß, daß ich der reine Esel gewesen bin.«1 Die solches jemandem signalisierende Handbewegung wird in einem wohl mittelalterlichen Vokabular mit den lateinischen Worten aufgeführt: »asininis auribus manu effictis illu- dere« (durch Darstellung von Eselsohren mit der Hand verspotten).2 Daraus entstand die entsprechende deutsche Redensart, wobei seit Hans Sachs (16. Jh.) »den Esel stechen«, später aber bis in die Romantik vor allem die Form »den Esel bohren« belegt ist.3 So spottet z.B. in Goethes »Urfaust« Mephistopheles: »Encheiresin naturae nennt's die Chemie, bohrt sich selbst einen Esel und weiß nicht wie.«4 Heute ist die Redensart kaum mehr geläufig. 56
L: Borchardt-Wustmann-Schoppe 125; Grimm 3,1145-1146; Otto 40-41 (Nr. 180-184). 1: Cic. AU. 4,6(5X3: »scio... me asinum germanum fuisse.« 2: Borchardt- Wustmann-Schoppe 125, leider ohne näheren Beleg. 3: Siehe die Belege bei Grimm 3,1145-1146. 4: Goethe, Urfaust; die spätere Fassung lautet: »Spottet ihrer selbst...« Wer den Esel nicht schlagen kann, schlägt den sack Die Wut entlädt sich an etwas anderem; ein Unschuldiger wird beschimpft oder bestraft, weil der eigentlich Schuldige unangreifbar ist. Auch: Den Sack schlägt man, den Esel meint man; man schlägt auf den Sack und meint den Esel. Bei dem fiktiven Gastmahl des Trimalchio, das der Schriftsteller Petronius in seinem Roman »Satyrica« beschreibt, gehen die Gäste den neuesten Stadtklatsch durch. Dabei geht es um einen Sklaven, der von seiner Herrin verführt worden war und dafür von seinem Herrn an die Kampfarena verkauft wurde: »Da hat doch Glyco - kaum einen Sesterz wert, der Mann - seinen Kassierer vor die wilden Tiere gebracht! Das heißt sich selber an den Pranger stellen! Welche Schuld hat ein Sklave, der gezwungen wurde, ein Ding zu drehen? Mehr hätte es jener Nachttopf von einer Frau verdient gehabt, daß der Stier sie auf die Hörner nimmt. Aber wer den Esel nicht schlagen kann, schlägt den Sack [d. h. den Packsattel].«1 Die Wut des Herrn, die er an seiner Frau nicht ablassen kann, wird am Sklaven abreagiert. L: Böttcher 80 (Nr. 457); Büchmann 341; Duden 11,598 und 12,316; Mletzko 29.100. 103; Otto 42 (Nr. 191). 1: Petron. 45,8: »... Sed qui asinum non potest, Stratum cae- dit.« Eselsbrücke Merkhilfe (oft mit dem Beiklang: für Lernfaule). Johannes Buridan (1300 - nach 1358), ein Scholastiker und kritischer Kommentator des Aristoteles, wurde v. a. bekannt durch die Fabel von »Buridans Esel«, die nicht von ihm selbst stammt, sondern wohl von Gegnern seiner Willenslehre erfunden wurde:1 »Buridans Esel« steht zwischen zwei gleich weit entfernten Heubündeln und verhungert, da er sich für keines von beiden entscheiden kann. In seinem vom 14. bis noch ins 18. Jh. weit verbreiteten Lehrbuch »Summulae logicales« empfahl 57
er sehr simple Regeln für die Anwendung der aristotelischen Logik. Aufgrund der Spottfabel jedoch wurde diese Schrift »asini pons« (»Brücke des Esels«, d. h. Brücke Buridans, des »asi- nus Buridanus«) genannt. Daraufhin wurde der Begriff »Eselsbrücke« auf jedes mögliche Einprägen schwieriger Sachverhalte mittels einfacher äußerlicher Merkmale angewendet. Ein einfaches Beispiel dafür ist etwa die Methode, sich die Form des ab- oder zunehmenden Mondes mit Hilfe der Form der Buchstaben a (in Schreibschrift mit der Rundung c beginnend) bzw. z (in alter deutscher Schreibschrift mit umgekehrter Rundung beginnend) zu merken. L: Böttcher 172 (Nr. 1047-1048); Duden 12,103; Grimm 3,1151; MIetzko 29. 1: Der Grundgedanke steht bei Aristoteles, De caelo 2,13, und wurde von Buridan in seinem Kommentar am Beispiel des Hundes aufgegriffen, den man in einen Esel umwandelte. B: Eine Lexikonreihe des Klett-Verlages (Stuttgart) trägt den Titel »Pons«. S: Frz.: »le pont aux änes«. ICH ESSE / MAN ISST, UM ZU LEBEN (oft fortgesetzt: ...nicht aber lebe ich / lebt man, um zu essen) das Essen ist Mittel zum Zwecke des Lebens, nicht aber selbst Lebenszweck. Als Sprichwort: Wir leben nicht, um zu essen, sondern wir essen, um zu leben; man ißt, um zu leben, aber man lebt nicht, um zu essen. Dieser weise Gedanke wird von Gellius (2. Jh. n. Chr.) dem griechischen Philosophen Sokrates zugeschrieben, der sich damit von denen habe abgrenzen wollen, die im Essen ihren einzigen Daseinszweck sähen.1 Der Satz wurde aber vor allem bei lateinischen Autoren als geflügeltes Wort gebraucht, so z. B. von dem Rhetoriker Quintilian: »Nicht um zu essen lebe ich, sondern um zu leben esse ich.«2 Im Deutschen wird das Wortspiel häufiger noch auf die Arbeit angewendet, die dem Leben dienen muß (und nicht umgekehrt): »Wir arbeiten, um zu leben, nicht leben wir, um zu arbeiten.« L: Duden 12,547; MIetzko 29. 99. 106; Wander 1,893 (Essen 113). 1: Cell. 19,2,7: »Socrates quidem dicebat multos homines propterea velle vivere, ut ederent et bibe- rent, se bibere atque esse, ut viveret« (Macrob. 2,8,16); Plut. de aud. poet. 4; Diog. Laert. 2,34; Athen. 4, 158 F. 2: Quint. inst. 9,3,85: »Non ut edam, vivo; sed ut vivam edo«; ebenso Isid. orig. 2,21,13. 58
Euch werd' ich! Paßt auf! Ich werd's euch zeigen! In Vergils »Aeneis« ruft der Meeresgott Neptun wütend die Winde zur Ordnung, die ohne sein Wissen im Auftrag Junos dem Aeneas und seinen Gefährten auf dem Meer schwer zugesetzt haben:1 »Euch werd' ich...« (lat.: »Quos ego«...) - ohne den Satz zu beenden, doch ist etwa zu ergänzen »zur Rechenschaft ziehen« oder »strafen, wie es sich gehört«. Stattdessen setzt der Gott mitten im Satz, sich kurz besinnend, fort: »Aber besser ist's, die bewegten Fluten zu glätten.«2 Der Vers ist damit ein klassisches Beispiel (-* klassisch) für eine »Aposiopese«, d. h. ein Abbrechen der Rede im Zustand hoher Erregtheit. Das Wort »Quos ego...« findet sich zweimal als drohendes Graffito auf pompejanischen Hauswänden.3 L: Bartels 153; Böttcher 69 (Nr. 367); Büchmann 321. 1: Verg. Aen. 1,135. 2: ...sgd motQS praestat compQnere fluctus. 3: CIL 4,4409. 8798. die Probe aufs Exempel machen an einem praktischen Beispiel überprüfen. Vgl. auch: ein Exempel statuieren: durch drastisches Vorgehen ein abschreckendes Beispiel geben. Die Redensart geht auf das lateinische Wort »exemplum« (»Beispiel«) zurück und ist im 16. Jh. durch die gedruckten Rechenbücher volkstümlich geworden, in denen für theoretische Gesetze Beispiele beigegeben wurden.1 Die Wendung »ein Exempel statuieren« gibt es sogar schon bei dem lateinischen Komödiendichter Plautus (um 250-184 v. Chr.): In der »Mostellaria« hat der Kaufmann Theuropides die Listen seines gerissenen Sklaven Tranio durchschaut und kündigt nun wutentbrannt an, unter diesem ein Feuer anzuzünden. Darauf Tranio: »«Tu das nicht; gesotten schmeck' ich ja weit besser als gebraten.« Und wiederum der Herr: »Ein Exempel will ich an dir statuieren lassen, sicherlich!« Schließlich Tranio, dies als Lob nehmend, halb zu den Zuschauern: »Weil ich gefalle, willst du als Exempel mich präsentieren?«2 Mit der Plautusrezeption im Humanismus des 16. Jh. fand die Redensart Eingang ins Deutsche. 59
L: Borchardt-Wustmann-Schoppe 133; Duden 11,187; Grimm 3,1207-1208; MIetzko 30. 1: j. Böschensteyn, Rechenbiechlin, 1514, E. »Die prob über das exempel« nach Borchardt-Wustmann-Schoppe 133. 2: Plaut. Most. 1115-1116: »Tr. Ne faxis, nam elixus esse quam assus spjeo suavior. / Th. Exempla edepoj faciam ego in te. Tr. Quja placeo, gxemplum gxpetjs?« B: Goethe: »Es muß ein Exempel statuiert werden« (14,300 nach Grimm 3,1207-1208). F das Fazit ziehen das Gesamtergebnis feststellen. Auch allein: Fazit: Gesamtergebnis. Dieses Substantiv ist aus lateinisch »facit« (»es macht«) in der kaufmännischen Bedeutung »Rechenergebnis« abgeleitet worden (vgl. noch heute: »Das macht 20 Mark«). Durch die gedruckten Rechenbücher ist es ab dem 16. Jh. volkstümlich geworden.1 In übertragener Bedeutung wird es seit dem 17. Jh. verwendet.2 L: Bartels 199; Borchardt-Wustmann-Schoppe 133; Duden 11,195. 1: Beispielsweise Chr. Rudolff, Kunstliche Rechnung, 1526, F 6a: »Wie man probirn sol, ob das gefundne facit recht sei.« 2: 1669 bei Grimmeishausen: »Zuletzt kam das Facit über den armen Simplicium herauß.« KEIN FlDUZ ZU ETWAS HABEN kein rechtes Zutrauen haben. Lateinisch »fiducia« bedeutet »Zutrauen, Zuversicht«. Die Redewendung, die das Wort in eingedeutschter Form aufgenommen hat, ist seit Ende des 18. Jh. in die Studentensprache und von dort in die Mundarten eingegangen. L: Borchardt-Wustmann-Schoppe 142-143. 60
f/'^ Mit dem Finger auf jemanden zeigen.
mit dem Finger auf jemanden zeigen jemanden öffentlich bloßstellen, anprangern; auch PL: mit Fingern auf jdn. / nach jdm. zeigen; auch: * auf jemanden fingerzeigen / fingerdeuten. Fingerzeig: Hinweis. »Mit dem Finger auf jemanden zeigen« (»digito monstrare«) hatte bei den Römern überwiegend die positive Bedeutung »jemanden bewundern«. So sagt der Satirendichter Persius (34-62 n. Chr.): »Aber schön ist es, wenn auf einen mit dem Finger gezeigt und gesagt wird: Der ist's.«1 Doch findet sich die Redensart bisweilen auch wie bei uns in tadelndem Sinne; so sagt Ovid: »Oft zeigt einer mit dem Finger auf den Dichter, wie er vorübergeht.«2 L: Böttcher 82 (Nr. 478); Büchmann 340; Duden 11,207-208; Grimm 3,1657. 1651-1663; Otto 116 (Nr. 549). 1: Pers. 1,28: »At pulchrum est digito monstrari et dicier: hie est.« In diesem Sinne auch Hor. c. 4,3,22. Weitere Belegstellen nennt Otto 116 (Nr. 549). 2: Ov. am. 3,1,19; vgl. 3,6,77; Hieron. ep. 22,27. Fische müssen schwimmen scherzhafte Aufforderung zu reichlichem Trinken nach einer Fischmahlzeit (auch: Fische wollen/sollen schwimmen, oder im Sg.: [der] Fisch will/soll/muß schwimmen). In dem Schelmenroman »Satyricon« des lateinischen Schriftstellers Petronius (gest. 66 n. Chr.) fordert der steinreiche Gastgeber Trimalchio nach einem Fischgericht seine Gäste zum Trinken auf: »Diesen Wein müßt ihr euch schmecken lassen. Fische müssen schwimmen!«1 Der Witz besteht natürlich in dem Gedanken, daß Flüssigkeit das natürliche Element des Fisches ist - das man ihm jetzt auch im Magen gönnen möchte. Die Redensart hat in mehreren Sprachen Verbreitung gefunden und ist auch ausgestaltet worden: »Der Fisch will dreimal schwimmen: im Wasser, im Schmalz und im Wein.«2 L: Böttcher 80 (Nr. 455-456); Büchmann 341; Duden 11,209 und 12,159; Mletzko 33. 108; Wander 1,1029 (Fisch 33-35). 1: Petron 39,2-3: »Hoc vinum, inquit, vos oportet suave faciatis. Pisces natare oportet.« 2: Wander 1,1029 (Fisch 33). S: Engl. »Fish must swim thrice: once in the water, once in the sauce and a third time in wine in the sto- mach«; frz. »Poisson sans boisson est poison«, »Poisson, goret et cochon vit en l'eau, et meurt en vin«; ndl. »Visch moet/wil zwemmen«. 62
eine (neue) Flamme haben eine (neue) Freundin haben; meine Flamme: meine Freundin. In Vergib »Aeneis« erleidet der angehende römische Nationalheld Aeneas auf seinem Weg nach Italien Schiffbruch vor der afrikanischen Küste. Dido, Gründerin und Königin von Karthago, nimmt ihn und die Seinen auf. Bald gesteht sie ihrer Schwester Anna, daß Aeneas in ihr Gefühle wiedererweckt, wie sie sie früher gegenüber ihrem verstorbenen Ehemann Sychae- us gespürt hatte: »Allein dieser hat mir die Sinne gebeugt und das Herz mir wieder wanken / gemacht: Ich erkenne die Spuren der früheren Flamme.«1 Ihre frühere Liebe zu Sychaeus ist im Bild der Flamme gezeichnet, deren letzte Reste in Dido von Aeneas zu einer neuen Liebe/Flamme entfacht werden - entsprechend bezeichnet man heute meistens eine neue Liebe als »(neue) Flamme«. - Den zweiten Teil der Äußerung Didos zitierte Dante in seiner »Göttlichen Komödie«, wo der Erzähler im Purgatorium auf seine frühere Geliebte Beatrice trifft: »co- nosco i segni de l'antica fiamma.«2 Vielleicht auch daher ist heutzutage die »Flamme« stets eine Frau aus der Sicht eines Mannes, nicht aber - wie noch bei Vergil - umgekehrt. L: Zanoner 10 (Nr. 39). 1: Verg. Aen. 4,23: »SqIus hie inflexit sensys animymque latentem / inpulit. AdgnoscQ veteris vestigia flajnmae.« 2: Divina commedia 30,48. Fraktur schreiben/reden deutlich (eigentlich: grob) schreiben oder reden, unverblümt die Meinung sagen, entschlossen vorgehen. Aus lat. »fractura« (»Bruch«) bildete man im 16. Jh. die Bezeichnung »Frakturbuchstabe« (verkürzt »Fraktur«) für die Buchstaben der »deutschen« Schrift mit ihren gebrochenen Linien. Wenn man nun seine Ansicht deutlich und ungeschminkt ausdrücken wollte, bediente man sich anstatt des Lateinischen der deutschen Sprache und Schrift, also der »Fraktur« (vgl. auch -♦ deutsch reden). Dieser übertragene Gebrauch im Sinne von »deutlich« ist seit Anfang des 17. Jh. bezeugt.1 In den 40er Jahren des 19. Jh. wurde die Wendung als Schlagwort der Demokraten bekannt. 63
L: Borchardt-Wustmann-Schoppe 155; Duden 11,217. 1: Sartorius, Der Schneider Genug- und sattsame Widerlegung, 1612, S. 5: »mit grober Fractur hindten auf den Buckel schreiben«; Daniel Stoppe, Zweyte Sammlung (1729), S. 113: »Er schrieb und zwar Fractur, bis sie zu seinen Füßen die süße Sterbenslust mit Schmertz verschweren müssen.« Nach Borchardt-Wustmann-Schoppe 155. lieber einen freund verlieren als einen guten Witz sich nicht zurückhalten können, mit seinen Worten keine Rücksicht nehmen können (auch: lieber einen Freund verlieren als eine Pointe; für einen guten Witz seine Schwiegermutter verkaufen). Der römische Dichter Horaz (65-27 v. Chr.) beschreibt in einer seiner Satiren die verbreiteten Vorbehalte gegenüber einem Dichter, da er jemandes Fehler und Schwächen mit seinen Versen öffentlich mache: »Wenn er nur Lachen / erweckt, wird er dich nicht und auch keinen Freund schonen.«1 Das Motiv, Lachen um jeden Preis wecken zu wollen, dürfte daraufhin sprichwörtlich geworden sein (oder auch schon gewesen sein) und wird so von dem Rhetoriklehrer Quintilian (um 35-100) zitiert: »Verletzen möchten wir niemals, und weit von uns sei jener Vorsatz, >lieber einen Freund als einen Spruch zu verlieren^«2 Vorläufer der Horaz-Stelle ist wohl ein ansonsten verlorener Vers aus einem Stück des Ennius: »Der Wissende drückt eher eine Flamme im brennenden Mund aus als daß er einen guten Spruch zurückhält«, wobei uns Cicero darüber belehrt, daß mit einem »guten Spruch« hier ein Witz gemeint ist.3 L: Bartels 139; Mletzko 35. 75. 142; Otto 22 (Nr. 95); Reichert 332. 1: Hor. s. 1,4,34: »dymmodo risum / gxcutiat sibi, non hie cyjquam parcet amjco.« 2: Quint. inst. 6,3,28: »Laedere numquam velimus longeque absit propositum illud potius amicum quam dictum perdendi.« 3: Cic. de or. 2,222: »dicere enim aiunt Ennium, flammam a sapiente facilius ore in ardente opprimi, quam bona dicta teneat.« S: Frz. »II vaut mieux perdre un bon mot, qu'un ami«; ital. »Meglio perdere l'amico che un bei detto«. 64
Den (wahren) Freund erkennt man in der Not Wer noch in der Not ein Freund bleibt, ist ein echter Freund. Vgl. das Sprichwort: * Glück macht Freunde, Unglück prüft sie. Auch in Weiterentwicklung: Freunde in der Not gehen hundert/tausend auf ein Lot (d.h. sie sind extrem selten). In seiner Schrift »Laelius über die Freundschaft« beschreibt Cicero (106-43 v. Chr.), wie Macht und Erfolg oder auch Unglück eine Freundschaft gefährden können. In diesem Zusammenhang zitiert er den Dichter Ennius mit den Worten: »Ein sicherer Freund wird in unsicherer Lage erkannt« (lat.: »Amicus certus in re incerta cemitur«).1 Dieser Satz wiederum geht vielleicht auf die Tragödie »Hekabe« des Euripides zurück, in der es heißt: »Im Unglück nämlich sind die guten Freunde am offensichtlichsten.«2 In Rom begegnet der Gedanke auch schon um 200 v. Chr. bei dem Dichter Plautus: »Nichts bewirkt, wer den Mißtrauischen nur mit Worten tröstet; derjenige ist ein Freund, der in einer unsicheren Lage mit der Tat hilft, wo eine Tat gebraucht wird.«3 Auch späteren lateinischen Autoren ist das Motiv geläufig4. Die englische Fassung »A friend in need is a friend indeed« wurde im späten 17. Jh. sprichwörtlich, die deutsche wohl kaum früher; noch älter ist jedoch das Sprichwort: »Reht freunt erkennt man in der not, ir gen wol hundert uuf ein 16t.«5 L: Bartels 39; Böttcher 64 (Nr. 321-323); Büchmann 312; Duden 11,220; Macrone 133; Mletzko 35. 89. 127; Otto 21-22 (Nr. 92); Reichert 139; Wander 1,1174 (Freund 58). 1: Cic. Lael. 17 (64). 2: Eur. Hec. 1226-1227: »Ev xotq icaicot<; yctp 670601 oa^eoxaxoi | 0iXoi. Vgl. Eur. Or. 454: »Den Titel, aber nicht die Wirkung haben die Freunde, die nicht in Unglücksfällen Freunde sind« ( Ovo|ia yap epyov 8' oi>k exoxjoiv 01 0iXoi | Oi MH *i ioiio\ <yo\L$opa\<; övxeq 0iA.oi). 3: Plaut. Epid. 112-113: »Nihil agit qui diffidgntem ve/bis sojaty/ suis; / Is gst amicus, qui in re dubia rg iuvat, ubi rg est opus.« 4: Publil. Syr. A 41; Petron. 61,9. 5: Wander 1,1174 (Freund 58). S: Engl. »A friend in need is a friend indeed, / he will help thee in thy need«; frz. »Au besoin Ton connait l'ami«, »L'adversite et les perils demontrent les vrais amis«; ital. »La miseria discopre l'amistä«. 65
AUF FRISCHER TAT ERTAPPEN (lat. in flagranti [crimine] comprehendere) jd. schon bei der Tat selbst ertappen. Im Codex Iustinianus, einer Sammlung kaiserlicher Gesetze aus dem Jahr 529, heißt es von Verbrechern: »Sie sind direkt bei dem Raub und noch hell brennenden Verbrechen gefaßt worden.«1 Im Deutschen ist die »frische Tat« (auch »auf frischer Tat«, jedoch noch ohne »ertappen«) schon im Mittelhochdeutschen belegt.2 Entsprechend wählte Luther die Wendung auch zur Übersetzung der griechischen Worte erc' otireo<t>a>pa) (eigentlich »beim Selbstaufspüren«) in Joh. 8,4: »Meister, diese Frau ist ergriffen auf frischer Tat beim Ehebruch.« L: Bartels 201; Böttcher 90 (Nr. 524); Büchmann 351; Duden 11,714 und 12,253; Grimm 4,209.1: CIC 13,9,1: »In ipsa rapina et adhuc flagrante crimine comprehensi.« 2: Siehe Grimm 4,209. NICHT BIS FÜNF ZÄHLEN KÖNNEN einfältig sein, ein großer Dummkopf sein (auch: * nicht fünf / auf fünf / bis auf / bis zu fünf zählen können / zu zählen wissen; manchmal auch: nicht bis drei zählen können); umgekehrt: * bis fünf zählen können: witzig, schlau sein; sich etwas an (den) fünf (manchmal: zehn) Fingern abzählen / abklavieren können: etwas sicher wissen / darlegen / voraussehen können, von etwas sicher ausgehen können. Da alles Zählen von den Fingern ausgeht oder die Finger zu Hilfe nimmt, bedeutet »die Zahl der Finger nicht kennen« so viel wie »nicht zählen können« oder allgemein »dumm sein«. Die lateinische Entsprechung findet sich bereits bei dem römischen Komödiendichter Plautus; dort sagt der junge Paegnium zu dem Sklaven Toxilus, der ihm unterstellt, er habe einen Auftrag nicht richtig verstanden, er wolle wetten, daß dieser vielmehr selbst nicht wisse, wieviel Finger er gerade an der Hand habe.1 Vermutlich gab es oder bildete sich daraus das lateinische Sprichwort »Nescit, quot digitos habet in manu« (Er weiß nicht, wieviel Finger er an der Hand hat). Im Deutschen kommt die Redensart seit etwa 1400 vor.2 66
L: Borchardt-Wustmann-Schoppe 160; Duden 11,206; Grimm 4,549; Mletzko 145; Otto 114 (Nr. 542). 1: Plaut. Pers. 187: »gt quidgm si sds tu, quQt hodie habeas digitos in manu.« 2: Grimm 4,549, auch mit vielen späteren Belegen. zwischen Furcht und Hoffnung schweben zugleich fürchten und hoffen. In der »Aeneis« des römischen Dichters Vergil erreichen Aeneas und seine verbliebenen Gefährten nach einem Sturm die Küste Libyens, bereiten ein Mahl und denken an ihre auf See vermißten Freunde, »bang zwischen Hoffen und Furcht, ob man glauben darf, daß sie noch leben, / oder das Schlimmste schon leiden und keinen Ruf mehr vernehmen.«1 In einer ähnlichen Situation befand sich Plinius der Jüngere, als er kurz nach dem Ausbruch des Vesuvs (79 n. Chr.) um das eigene Wohlergehen sowie um das Schicksal seines Onkels und Adoptivvaters Plinius d.Ä. besorgt war: »Wir verbrachten eine ängstliche und schwankende Nacht mit Hoffnung und Furcht.«2 Für den Historiker Sallust sind Hoffnung und Furcht Extreme, von denen gleichermaßen sich fernzuhalten er sich vorgenommen hat (vgl. -♦ die goldene Mitte): In der Einleitung zu seinem Werk über die Catilinarische Verschwörung vertritt er die Ansicht, daß er zur Geschichtsschreibung besonders befähigt sei, weil er von Hoffnung und Furcht frei sei.3 Im Deutschen sind Furcht und Hoffnung seit etwa 1600 häufig verbunden;4 »zwischen Furcht und Hoffnung schweben« begegnet erstmals bei Matthias Claudius (1740-1815): »...so wie Leute, die noch zwischen Furcht und Hoffnung schweben, unglücklicher sind, als die schon Entscheidung haben.«5 L: Böttcher 70 (Nr 368-369); Büchmann 321; Duden 12,565; Grimm 4,690. 1: Verg. Aen. 1,218-219: »Spgmque metumque inte/ dubij: seu vjvere crgdant / sjve extrgma pati nee iam gxaudire vocatos.« 2: Plin. ep. 6,20,19. 3: Sali. Cat. 4,2. 4: Belege bei Grimm 4,690. 5: 4,201 nach Grimm 4,690. 67
G einem geschenkten gaul sieht man nicht ins Maul etwas Geschenktes sollte man nicht kritisieren, da Fehler an ihm keinen Verlust bedeuten. Beim Pferdehandel dient der Blick in das Maul eines Pferdes der Beurteilung von Alter und Gesundheitszustand des Tieres. Als Bild benutzt dies bereits der Kirchenvater Hieronymus (um 350-420) in der Einleitung seines Kommentars zum Ephe- serbrief: »Prüfe nicht, wie es ein volkstümliches Sprichwort sagt, die Zähne eines geschenkten Gauls!«1 Demnach war das Wort zu Hieronymus' Zeit allgemein geläufig. Sinngleich, aber ohne den Gaul und erst im Mittelalter belegt, ist das griechische Sprichwort: »Was auch immer dir jemand als Geschenk gibt-lobe es!«2 L: Böttcher (Nr. 508); Büchmann 348; Duden 11,233 und 12,184; Grimm 4,1570; Mletzko 38. 80; Otto 125 (Nr. 607). 1: Hieron. comment. in Ephes. praef. (PL 26,469): »Noli, ut vulgare proverbium est, equi dentes inspicere donati.« 2: Zenob. 3,42: 8<d pov 8' öti 5cp xiq £aiv£i. B: Bei Goethe sagt Mephistopheles zu Faust: »Margretlein zog ein schiefes Maul [über ihr geschenkten Schmuck], ist halt, dacht sie, ein geschenkter Gaul« (Faust I, 2827-2828). - Die Memoiren der Schauspielerin Hildegard Knef tragen den Titel »Der geschenkte Gaul«. S: Engl.: »Don't look a gift horse in the mouth« (Mieder, Proverbs 20). die Gedanken sind frei Die eigene Meinung kann einem nicht genommen werden. Cicero schreibt in seiner Rede für Milo: »Unsere Gedanken sind nämlich frei, und sie betrachten, was sie wollen, genauso wie wir wahrnehmen, was wir ansehen.«1 Als Rechtsgrundsatz wird später von dem Juristen Ulpian (um 200) überliefert: »Für einen Gedanken erhält niemand Strafe.«2 Ähnlich wie Cicero schreibt der Kirchenvater Ambrosius im 4. Jh.: »Frei sind die Gedanken der Vernünftigen.«3 68
V* ^v Einem geschenkten Coul sieht man nicht ins Maul.
Deutsch wurde das Sprichwort schon im Mittelalter übernommen.4 Ebenfalls schon früh wurde es in Anspielung auf die hohen Wegzölle zu »Die Gedanken sind zollfrei« abgewandelt. Luther erwähnt diese Form als ein älteres deutsches Sprichwort.5 In der Literatur erscheint der Satz später mehrfach bei Shakespeare (»Thought is free«)6 und als Motiv in Goethes Torquato Tasso, wo der junge Dichter Tasso zu Leonore in Anspielung auf seinen Konflikt mit dem herzoglichen Staatssekretär Antonio sagt: »Einen Herrn / Erkenn ich nur, den Herrn, der mich ernährt, / Dem folg ich gern, sonst will ich keinen Meister. / Frei will ich sein im Denken und im Dichten; / Im Handeln schränkt die Welt genug uns ein.«7 Bekannt ist jedoch vor allem das deutsche Lied »Die Gedanken sind frei«, das kurz vor 1800 in Süddeutschland entstanden ist und durch Achim von Arnims und Clemens Brentanos Liedersammlung »Des Knaben Wunderhom« (Heidelberg 1806-1808) verbreitet wurde. Dessen Anfang lautet: »Die Gedanken sind frei, / Wer kann sie erraten, / Sie fliehen vorbei / Wie nächtliche Schatten. / Kein Mensch kann sie wissen, / Kein Jäger erschießen / mit Pulver und Blei, / Die Gedanken sind frei!«8 L: Böttcher 91 (Nr. 526); Büchmann 1 74. 346; Duden 12,162; Grimm 4,1961; Mletzko 34. 40; Otto 87 (Nr. 405); Wander 1,1395 (Gedanke 44). 1: Cic. Mil. 29,79: »liberae sunt enim nostrae cogitationes et quae volunt sie intuentur ut ea cernimus quae vide- mus.« 2: Dig. 48,19,18: »Cogitationis poenam nemo patitur.« 3: Ambros. de virginit. 17,107: »liberae enim sunt cogitationes prudentium.« 4: Belege bei Grimm 4,1961. 5: Von weltlicher Obrigkeit, wie man ihr Gehorsam schuldig sei, 1523, Weimarer Ausgabe 11,264; weitere Belege bei Grimm 4,1961. 6: The Tempest (Der Sturm) 3,2: »Thought is free«; Twelfth Night or What You will (Was ihr wollt) 1,3: »Now, Sir, thought is free« (»Nun, Herr, Denken ist frei«). 7: Torquato Tasso (erschienen 1790, uraufgef. 1807) 4,2. 8: Erk-Böhme, Deutscher Liederhort 3,576. Gefahr im Verzuc(e) nahende Gefahr, der es schnell zu begegnen gilt (auch: Gefahr im Anzug). Meistens: Es ist Gefahr im Verzuge! Der römische Historiker Livius schildert in seiner Darstellung des römischen Feldzuges gegen die Galater (189 v. Chr.) den Überfall der Vertragsbrüchigen Tektosagen auf den Konsul Cn. Manlius, der in dieser Situation die Flucht befahl: »Als es schon mehr Gefahr im Zögern (lat.: »periculum in mora«) als Schutz in der Aufrechterhaltung der Schlachtreihen gab, flohen alle 70
* WC f IclOSgD *~ K^tA Gefahr im Verzug.
weithin auseinander.«1 Die »Verzögerung« (»mora«) wurde im Deutschen seit dem 17. Jh. mit »Verzug« wiedergegeben und auf verschiendenste Weise mit »Gefahr« zusammengestellt (»Gefahr im/ beim /aus dem /auf dem Verzuge«, »Verzug bringt Gefahr« u.a.).2 Mitte des 19. Jh. trat die »Verzögerung« gegenüber dem Drohen der Gefahr zurück, so daß die Wendung allmählich dieselbe Bedeutung annahm wie das aufkommende »Gefahr im Anzug« (d.h. im Heranziehen),3 das sich auch heute noch findet. Das lateinische Original verwendete der preußische Kriegsminister Albrecht von Roon am 18. September 1862 in seinem Telegramm an den Gesandten Otto von Bis- marck in Paris (der eine Woche später Ministerpräsident und Außenminister sein sollte), daß er sofort nach Berlin abreisen solle: »Periculum in mora. Depechez-vous!«4 L: Bartels 204; Böttcher 76 (Nr. 430-431); Büchmann 333; Duden 11,766-767 und 12,162-163; Grimm 25,2672-2673; Mletzko40. 132. 1: Liv. 38,25,13: »Cum iam plus in mora periculi quam in ordinibus conservandis praesidii esset, omnes passim in fugam effusi sunt.« 2: Ausführlich Grimm 25,2672-2673. 3: Belege bei Grimm 25,2673. 4: Bis- marck, Gedanken und Erinnerungen Kap. 11 (Neuausgabe Stuttgart 1928, S. 245). Geld stinkt nicht! Dem Geld merkt man nicht an, woher es stammt; Geld ist Geld - auch aus zweifelhafter Quelle. Der römische Kaiser Vespasian (69-79), der der Sohn eines Steuereintreibers war, konsolidierte durch Sparsamkeit und Ordnung des Steuerwesens den unter Nero zusammengebrochenen römischen Staatshaushalt. Er führte auf öffentliche Toiletten eine »Urinsteuer« (»urinae vectigal«) ein, woran heute im übrigen noch die französische Bezeichnung »Vespasiennes« erinnert.1 Als sein Sohn und späterer Nachfolger Titus ihn deswegen tadelte, soll Vespasian ein so eingenommenes Geldstück genommen und Titus gefragt haben, ob es denn röche; als dieser verneinte, sagte Vespasian: »Und dennoch ist es aus Urin.«2 Der dafür gern genannte Satz »(Pecunia) non ölet« findet sich bereits bei Cicero,3 wurde aber erst durch Vespasians Äußerung bekannt. Wer aus dem suetonischen Bericht die Kurzfassung »Non ölet« gebildet hat, ist nicht nachvollziehbar. Das Wort kann heutzutage auf jeden Gewinn aus anrüchiger Quelle bezogen werden. Werner Mitsch formulierte treffend: »Geld stinkt nicht. Aber bisweilen die Art, wie es verdient wird.«4 72
L: Bartels 116-117; Böttcher 83 (Nr. 483-484); Büchmann 370; Duden 11,246 und 12,180; Grimm 5,2903; Macrone 184; Mletzko 42. 115; Reichert 147; Wander 1,1789 (Geld 84). 1: Dabei handelte es sich um eine den Walkern und Gerbern auferlegte Steuer für die gewerbliche Nutzung des Urins aus den öffentlichen Toiletten. 2: Suet. Vespasian 23,3; Cass. Dio 66,14,5. 3: Cic. or. 45,154. 4: Mieder, Antisprichwörter 38 mit Beleg. S: Engl. »Money doesn't smell«; vgl. amerikanisch in Anspielung auf Dollarnoten: »It's green, isn't it?«. Gelegenheit macht Diebe eine gute Gelegenheit begünstigt den Diebstahl, (oder allgemeiner:) viele Dinge werden aus der Gelegenheit heraus getan. Gelegenheitsdieb: jemand, der nur bei Gelegenheit (»gelegentlich«) zum Dieb wird. Der Historiker Livius beschreibt in seinem Geschichtswerk, wie es der karthagische Feldherr Hannibal im Jahr 218 v. Chr. unternahm, die Alpen zu überqueren. Nachdem er sein Heer kurz vor den Bergen in einer Rede darauf vorbereitet hatte, »begann das Heer vorzurücken, wobei nicht einmal die Feinde etwas außer kleinen Diebstählen bei Gelegenheit unternahmen.«1 Vielleicht von dieser Formulierung angeregt, schrieb 1598 der englische Philosoph und Schriftsteller Francis Bacon (1561-1626) in einem Brief an den Earl of Essex: »Opportunity makes a thief« (»Gelegenheit macht einen Dieb«). Von dort ist der Satz unter Verwendung des Plurals »Diebe« ins Deutsche eingegangen.2 Eine inhaltliche Zuspitzung findet sich bei Goethe, in dessen »Buch Suleika« Hatems Liebeswerbung um Suleika mit den Worten beginnt: »Nicht Gelegenheit macht Diebe, / Sie ist selbst der größte Dieb; / Denn sie stahl den Rest der Liebe, / Die mir noch im Herzen blieb.«3 Heute wird der Satz nicht nur auf Diebstahl, sondern auf alles bezogen, was sich durch eine günstige Gelegenheit ergeben hat. Dies nutzt und belegt ein humorvoller Aphorismus von Werner Sprenger: »Gelegenheit macht Diebe - aber auch Kinder und Leser.«4 L: Böttcher 210 (Nr. 1227-1228); Grimm 5,2948. 2951; Mletzko 23. 42. 1: Liv. 21,35,10: »procedere inde agmen coepit iam nihil ne hostibus quidem praeter parva furta per occasionem temptantibus.« 2: Belege siehe bei Grimm 5,2948. 2951. 3: Westöstlicher Divan, 1819, Buch Suleika. 4: Mieder, Antisprichwörter 40 mit Beleg. 73
Darüber sind sich die Gelehrten noch nicht einig Das ist noch nicht entschieden, noch unklar. Auch in der Form: Darüber streiten (sich) die Gelehrten. Der römische Dichter Horaz schreibt in seiner »Dichtkunst«, daß man über das Versmaß der in Elegien verwendeten Distichen (Zweizeiler) nicht wisse, wer es zuerst verwendet habe: »Die Grammatiker streiten darüber, und noch immer liegt der Fall vor dem Richter.«1 Durch wen und zu welchem Zeitpunkt der Satz in die deutsche Alltagssprache Eingang gefunden hat, ist nicht nachweisbar. L: Bartels 36; Büchmann 331; Duden 12,97.1: Hor. ars 78: »Grgmmatici certant, et ad- hyc sub iydice lis est.« Gemeinplatz (auch: Allgemeinplatz) allgemein bekannter Ausdruck; (oft negativ:) nichtssagende Redensart. Der lateinische Begriff »locus communis« (»allgemeiner Platz«, griech. »xonoq« [topos]; vgl. dt. gleichbedeutend »Topos«) bezeichnete seit der Antike anerkannte Begriffe oder übliche Ge- sichts«punkte« in der Rede, was vor allem durch Aristoteles und Cicero ausgearbeitet wurde. Der Reformator Philipp Me- lanchthon nutzte diese Bezeichnung 1521 als Titel seiner methodischen Darstellung der evangelischen Glaubenslehre (»Loci communes«). 1770 übersetzte Christoph Martin Wieland den lateinischen Ausdruck als »Gemeinplatz« ins Deutsche. L: Bartels 202. Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft Zur Freundschaft gehört ab und zu ein Geben und Nehmen. In der Komödie »Der angeberische Soldat« des Dichters Plautus hilft der alte Ephesier Periplectomenus dem jungen Athener Pleusicles mit Geld für ein Mädchen aus. Er klopft ihm auf die 74
Schulter und meint, der Junge brauche sich dafür nicht zu schämen, denn nur Geld, das für eine schlechte Frau und für Feinde aufgewandt werde, sei hinausgeworfen, jedoch: »Geld, das für einen guten Gast und Freund ausgegeben wird, ist ein Erwerb, und was für Götterdinge aufgewendet wird, ist ein Gewinn.« Auf diese Stelle geht wahrscheinlich das mittelalterliche Sprichwort »Altemando boni nos dona manemus amici« (»Durch Austausch von Geschenken bleiben wir gute Freunde«) zurück, das im Deutschen wiederum leicht verändert erscheint. Die Redensart wird heute im Deutschen typischerweise verwendet, um auf die höfliche Abwehr eines Geschenks (»Aber das kann ich doch gar nicht annehmen!«) ebenso höflich zu antworten. L: Zanoner 15 (Nr. 98). 1: Plaut. Mil. 674-675: »in bono hßspite atque amko quafistus gst quod sumitur / et quod in divjnis rgbus sumptumst, sapienti lucrumst. über dem Gesetz stehen sich in einer so angesehenen oder mächtigen Position befinden, daß man sich faktisch nicht mehr an die Gesetze halten muß. Bei Livius findet sich die Formulierung »legibus solutus« (»von den Gesetzen befreit«, »über die Gesetze erhaben«) bereits für Scipio den Jüngeren, der beim ersten Mal unter Umgehung des vorgeschriebenen Mindestalters, beim zweiten Mal unter Mißachtung des Iterationsverbotes (d.h. des Verbots einer zweiten Amtszeit) Konsul wurde.1 Entsprechend heißt es in einem Rechtsgutachten Ulpians (um 200 n. Chr.) über den römischen Kaiser: »Der Kaiser steht über den Gesetzen« (lat.: »Prin- ceps legibus solutus est«).2 Als eine ironische Spielart dieser Redewendung ist wohl der Satz »Der Kaiser steht nicht über den Grammatikern« (»Caesar non supra grammaticos«) aufzufassen.3 L: 1: Liv. Per. 50. 56. 2: Digesten 1,3,31: »Idem libro XIII ad legem luliam et Papiam. Princeps legibus solutus est.« 3: Dazu ausführlich Büchmann 403 und Bartels 50. 75
Wie gewonnen, so zerronnen! Was man gewinnt, kann man ebenso leicht und schnell wieder verlieren. Ähnlich: Übel gewonnen, übel zerronnen; vgl.: Unrecht Gut gedeiht nicht. Die effektreiche Gegenüberstellung von »gewinnen« und »zerrinnen« hat ihre Vorläufer in lateinischen Sätzen: Von dem Dichter Naevius stammt die Sentenz »Übel Erworbenes entgleitet übel« (lat.: »Male parta male dilabuntur«),1 die in der lateinischen Literatur vielfach zitiert und abgewandelt wurde.2 Beispielsweise läßt der Historiker Livius einen Redner vor dem Senat sagen, daß die Samniten, die die Römer bei den Caudini- schen Pässen geschlagen hatten und das römische Heer unter das Joch geschickt hatten (-♦ Caudinisches Joch), ihren »übel erworbenen Sieg übel verspielten«, da sie in dieser Situation keinen Friedensvertrag angestrebt hätten.3 Im Deutschen begegnet die Wendung zuerst 1512 in der »Narrenbeschwörung« des Franziskanermönchs Thomas Murner: »Wie gewunnen, so verthon, / Wie es kompt, so wieder gon.«4 Die vielfach variierte und mundartlich weit verbreitete Wendung hat im Deutschen allerdings keinen Beiklang eines unrechten Erwerbs. Dieser Aspekt tritt nur in dem benachbarten Sprichwort »Unrecht Gut gedeiht nicht« hervor, das jedoch auf die Sprüche Salomos zurückzuführen ist.5 L: Böttcher 56 (Nr. 263-264); Büchmann 311; Grimm 6,5977 und 7,6727-6729; Mletzko 39. 51.128; Otto 206 (Nr. 1013). 1: Naevius nach Paulus Diaconus v. 54 Ribb. 2: Plaut. Poen. 844: »Male partum male disperit.« »Übel gewonnen, übel zerronnen.« Cic. Phil. 2,65: »Sed ut est apud poetam nescioquem: male parta male dilabuntur«; vgl. Liv. 9,34,2: »male parta, male gesta, male retenta imperia«; weitere Hinweise gibt Otto 206 (Nr. 1013). 3: Liv. 9,9,11: »illi male partam victoriam male perdiderunt.« 4: Nr. 80,101 nach Grimm 7,6728. 5: Spr. 10,2: »Unrecht Gut hilft nicht; aber Gerechtigkeit errettet vom Tode.« S: Engl. »Lightly won, lightly gone«. Sich gleichen wie ein Ei dem anderen völlig gleich sein. Bereits Cicero erwähnt, es gebe eine sprichwörtliche »Ähnlichkeit von Eiern untereinander«.1 Wahrscheinlich meinte er den Satz »Kein Ei ist einem Ei so ähnlich«, den man nach dem Rhetoriklehrer Quintilian sagen konnte, wenn zwei Dinge sich völlig gleichen.2 Seneca verwendete den Vergleich in seiner Satire 76
Sich gleichen wie ein Ei dem anderen.
über Kaiser Claudius: Dieser habe Cassius Frugi ermorden lassen, den Schwiegervater seiner Tochter, »einen Menschen, ihm so ähnlich wie ein Ei einem Ei«.3 Erasmus hat die Wendung in seinen »Adagia« besprochen.4 Die deutsche Wendung gleicht der lateinischen - fast wie ein Ei dem anderen. L: Grimm 3,76; Otto 261 (Nr. 1 318); Wander 1,763 (Ei 340). 1: Cic. ac. 1 57; vgl. 54. 2: Quintil. 5,11,30: »Ut illud: >non ovum tarn simile ovo<.« 3: Senec. apoc. 11,5 (»homi- nem tarn similem sibi quam ovo ovum«). 4: Er. ad. 1,5,10. Gleiches mit Gleichem vergelten Jemandem zur Strafe dasselbe antun, was man von ihm erlitten hat. Der entsprechende lateinische Ausdruck lautete »par pro pari referre« (»gleich für Gleiches vergelten«): In der Komödie »Der Eunuch« des Dichters Terenz macht sich der Offizier Thraso eifersüchtig Gedanken um seine Geliebte Thais. Sein Schmarotzer Gnatho gibt ihm diesbezüglich folgenden Rat: Wenn Thais den schönen Phädria lobe oder rufe, solle Thraso umgekehrt die schöne Pamphila loben oder zum Musizieren herbeirufen - »kurz gesagt: / Vergilt mit Gleichem Gleiches, damit's ihr einen Stich gibt!«1 In den »Brüdern« desselben Autors rechtfertigt der wohlhabende Micio in der Anfangsszene seine humanen Erziehungsmethoden: »Wen du durch Wohltat bindest, der handelt ehrlich, / wünscht mit Gleichem zu vergelten, wird derselbe sein, ob nah, ob fern.«2 Der antike Gebrauch entspricht damit der alten mosaischen Forderung »Auge um Auge, Zahn um Zahn« (2. Mose 21,24). Heute verwendet man die Redensart aber fast öfter in einem Aufruf, davon - was eher neutestamentlich ist - keinen Gebrauch zu machen: »Man soll nicht Gleiches mit Gleichem vergelten!« L: Böttcher 56 (Nr. 262); Duden 11,264 und 12,192; Fritsch 384; Otto 264 (Nr. 1 337). 1: Ter. Eun. 445: »(...dgniqug) / par pro. pari referto quo_d eam mo_rdeat.« 2: Ter. Ad. 772-73: »III' quem benefjcio adiungas ex animo. fadt, / studet par refgrre, praesens ab- sensque idem ent.« Weitere Belege dafür nennt Otto 264 (Nr. 1337); ähnlich hieß es, wenn Rede und Gegenrede sich entsprechen, »gleich auf gleich antworten« (»par pari respondere«): Plaut. Merc. 629; weitere Belege bei Otto 264. 78
Glück und Glas, wie leicht bricht das Glück ist vergänglich (auch: ... wie bald bricht das). Vgl. auch -► Wie gewonnen, so zerronnen. Dieses Sprichwort stammt von dem Spruchdichter Publilius Sy- rus, einem Freigelassenen aus Antiochia (1. Jh. v. Chr.): »Das Glück ist aus Glas: Dann wenn es glänzt, zerbricht es auch« (lat.: »Fortuna vitrea est: tum, cum splendet, frangitur«). L: Böttcher 67 (Nr. 351); Büchmann 320; Duden 11,266; MIetzko 20; Otto 142 (Nr. 696). 1:Publil. Syr. F24. Jeder ist seines Glückes Schmied Jeder ist für sein Glück selbst verantwortlich. Der römische Politiker Appius Claudius Caecus (um 300 v. Chr.), der früheste bekannte lateinische Schriftsteller, formulierte in seinen »Sentenzen«, einer Spruchsammlung im alten Versmaß des Saturniers, die Maxime: »Jeder ist der Schmied seines Glücks.«1 Der in dieser Form bis ins Deutsche gelangte Grundsatz wurde schon in der Antike gern zitiert oder sinngemäß aufgegriffen,2 stellte er doch ein gewisses programmatisches Gegengewicht zum verbreiteten Motiv des launischen, unberechenbaren Glückes dar (vgl. -» Glück und Glas, wie leicht bricht das); dessen Personifizierung, die Glücksgöttin Fortuna, verliert, wenn der Mensch seine Gestaltungsfreiheit wahrnimmt, die Allmacht über sein Leben: »Gegenüber dem [eigenen] Lebenswandel hat das Schicksal (fortuna) kein Recht.«3 L: Böttcher 52 (Nr. 230); Büchmann 311; Duden 11,629; MIetzko 48. 61. 104; Otto 143-144 (Nr. 701). 1: Ps.-Sall. de rep. 1,1,2: »...quod in carminibus Appius ait, fabrum esse suae quemque fortunae.« 2: Plaut. Trin. 363; Cic. parad. 5,1,34; Nep. Att. 11,6; 19,1. 3: Sen. ep. 36,6: »In mores fortuna ius non habet.« Vgl. Ter. Ad. 399; Non. p. 526,24. B: Gottfried Keller benannte eine Novelle aus dem Zyklus »Die Leute von Seld- wyla« (1856-1874) »Der Schmied seines Glückes«. mit Gold aufwiegen (bei Sachen:) das Kostbarste für etwas geben, teuer bezahlen; (bei Personen:) jemanden fürstlich belohnen; nicht mit Gold aufzuwiegen sein: unersetzlich sein. 79
In einer Komödie des Dichters Plautus sagt der Sklave Chrysa- lus - voller Stolz auf seine Schlauheit - über sich selbst: »Diesen Mann hier muß man mit Gold aufwiegen, ihm eine Statue aus Gold aufstellen!«1 Das Gold, mit dem er aufgewogen werden möchte, soll in dem Gedankenspiel offenbar zur Anfertigung der Statue dienen. Damit hält er sich schon fast für göttergleich, denn üblicherweise stellte man goldene Statuen besonders hilfreichen Göttern auf oder versprach es zumindest, wie z.B. der Hirte Thyrsis dem Gott Priapus bei Vergil: »Jetzt, nach den Umständen, ließ in Marmor ich dich aufstellen; sollte reichlich mein Vieh sich vermehren, wirst du im Goldglanz noch schimmern.«2 Nicht immer bezieht sich das Aufwiegen in Gold allerdings auf die Errichtung einer Statue; häufig geht es auch darum, daß etwas losgekauft wird. So schreibt Hygin, der trojanische König Priamus habe den Leichnam seines Sohnes Hektor mit Gold aufgewogen, um ihn von Achilles zur Bestattung herausgegeben zu bekommen.3 Auch soll dem Mörder des -♦ Volkstribunen Gaius Gracchus dessen Kopf mit Gold aufgewogen worden sein.4 L: Büchmann 312; Duden 12,357; Otto 49 (Nr. 218). 1: Plaut. Bacch. 640: »Hunc ho_minem decet auro gxpendi, hyjc decgt statuam statui gx auro.« 2: Verg. ecl. 7,35-36 (»...aureus esto.«), Übers, von Dietrich Ebener. Griech. Parallelen zur Vorstellung goldener Standbilder von einem Menschen nennt Otto 49 (Nr. 218). 3: Hyg. fab. 106,4. 4: Flor. 2,3. Gott (be)schütze mich vor meinen Freunden! (...vor meinen Feinden kann ich es selbst) manche Freunde sind gefährlicher als mancher Feind. In einer lateinischen Spruchsammlung des Johannes Manlius findet sich folgende Anekdote über den makedonischen König Antigonos (um 320-239 v. Chr.): »König Antigonus befahl seinem Priester zu opfern, damit Gott ihn vor seinen Freunden schütze. Auf die Frage, warum nicht vor seinen Feinden, antwortete er: >Vor meinen Feinden kann ich mich selbst in acht nehmen, vor meinen Freunden jedoch nichts«1 Der wahre Kern dieses Ausspruchs liegt darin, daß man gegenüber Freunden leicht zu unaufmerksam ist und dann von 80
Problemen überrascht wird. Man kann mit dem Zitat aber auch zum Ausdruck bringen, daß allzu viel freundschaftliche Zuwendung durchaus lästig werden kann, man aber gegenüber den Freunden Skrupel hat, ihnen die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. L: Böttcher 202 (Nr. 1194); Büchmann 366; Duden 12,198. 1: Locorum communium collectanea, Basel 1563, 2,246: »Rex Antigonus iussit sacerdotem suum sacrificare, ut deus defenderet eum ab amicis. Interrogatus, quare non ab inimicis, respondit: >Ab ini- micis possum mihi ipsi cavere, ab amicis vero non.<« H die Haare stehen zu Berge äußerst entsetzt sein. In der »Aeneis« des römischen Dichters Vergil (70-19 v. Chr.) findet der Titelheld Aeneas, der aus dem brennenden Troja entkommen ist, nach langer Fahrt Aufnahme bei der karthagischen Königin Dido, die sich in ihn verliebt (-♦ eine (neue) Flamme haben). Daher muß Aeneas, ihr nicht abgeneigt, im Auftrag Jupiters von Merkur an seine schicksalhafte Bestimmung erinnert werden, nach Italien zu segeln und dort Ahnherr eines neuen, einst großen Volkes (der späteren Römer) zu werden. Nach der Erscheinung des Gottes steht er starr vor Entsetzen da: »Aber Aeneas stand indes stumm, beim Anblick von Sinnen, / steil vor Entsetzen richtete sich das Haar auf, im Schlund stockte die Stimme.«1 Den zweiten Teil wiederholt Vergil noch einmal im zwölften Buch bei seiner Schilderung des von einer Rachegöttin angegriffenen Rutulerfürsten Turnus.2 Ein ausdrückliches »Stehen« der Haare erscheint an anderen Stellen des Werkes, in denen Aeneas sich über den Anblick der Schatten lieber Verstorbener entsetzt: »Ich erstarrte, und es standen die Haare, und im Schlund stockte die Stimme.«3 81
In der deutschen Fassung ist die Redensart um die Worte »zu Berge« (nach oben) erweitert worden. L: Büchmann 322; Grimm 1,1505; Mletzko 51. 1: Verg. Aen. 4,279-280: »At vero Agneas adspgctu obmytuit amens / adrectafique horro_re comae £t vox fajjcibus hafisit.« 2: Verg. Aen. 12,868. 3: Verg. Aen. 2,774; 3,48. *den Habicht über die Hühner setzen den Ungeeignetsten mit einer Aufgabe betrauen (wie »den Bock zum Gärtner machen«). Auch: Den Habicht zum Taubenwächter machen. Als Sprichwort: Wo man den Habicht über die Hühner setzt, da ist ihr Tod gewiß. Diese Wendung erscheint ähnlich schon bei dem römischen Dichter Ovid, der in seiner »Liebeskunst« den Liebenden davor warnt, die Geliebte allein in der Obhut eines Freundes zurückzulassen: »Du vertraust, Wahnsinniger, dem Habicht die furchtsamen Tauben an?«1 Ein ähnliches Bild, nämlich »Wölfe bei den Schafen als Wächter lassen«, begegnet bereits bei dem Komödiendichter Plautus; in dessen »Pseudolus« beschwert sich der Sklavenhändler Ballio über seine nichtsnutzigen Aufseher, die nur rauben, stehlen, fressen und saufen wollen: »Eher könnte man die Schafe Wölfen anvertrauen als die dem Haus zu Hütern geben.«2 Im Deutschen ist seit dem 16. Jh. auch »den Bock zum Gärtner machen (oder: setzen)« gebräuchlich (als Sprichwort: Man soll den Bock nicht zum Gärtner machen),3 was sich inzwischen gegenüber dem römischen Habicht durchgesetzt hat. L: Borchardt-Wustmann-Schoppe 11; Böttcher 56 (Nr. 60); Mletzko 19; Wander 2,245 (Habicht 20. 23). 1: Ov. ars 2,363: »Accipitri timidas credis, furiose, columbas?« 2: Plaut. Pseud. 140-141: »(Hoc / est eorum opus), ...ut mavelis lupQS apud ovis Nnquerg, / Quam ho_s domi custQdes.« Vgl. Ter. Eun. 832 (»dem Wolf das Schaf anvertrauen«). 3: Gerlingius (1649) kennt auch »dem Wolf die Schafe befehlen« und »der Katze den Käse befehlen«: Borchardt-Wustmann-Schoppe 11. S: Engl, »to give the wolf the wether to keep«; frz. »donner la brebis ä garder au loup«. die Hand ins Feuer legen für jemanden bürgen, von etwas fest überzeugt sein, etwas unerschütterlich versichern (auch: sich für jemanden/etwas die Hand abschlagen/abhacken lassen; vgl.: die rechte Hand für etwas geben). 82
Unter den Großtaten aus Roms ruhmreicher Vergangenheit berichtet der Historiker Livius vom Heldenmut des jungen Gaius Mucius.1 Nachdem die Römer (der Überlieferung nach im Jahre 510 v. Chr.) ihren etruskischen Stadtkönig Tarquinius Superbus abgesetzt hatten, soll dieser seinen Freund und Kollegen Por- senna, König von Clusium (heute: Chiusi) zu Hilfe gerufen haben. Als die Römer nun belagert wurden und zu unterliegen drohten, unternahm Mucius einen Attentatsversuch gegen Porsenna. Als dieser mißlang und ihn Porsenna durch Androhung der Folter dazu zwingen wollte, seine Hintermänner zu verraten, hielt Mucius seine rechte Hand in ein zufällig dort brennendes Altarfeuer, um damit zu beweisen, wie gleichgültig ihm Schmerz sei. Porsenna war davon tief beeindruckt und ließ ihn gehen. Allein dies legt nahe, die Geschichte in das Reich der Sage zu verbannen. Es dürfte sich vielmehr um eine ätiologische Legende handeln, die die Herkunft des Familiennamens »Scaevola« (»der Linkshänder«) erhellen sollte. Zugleich aber ist daraus die Redewendung »seine Hand für etwas/jemanden ins Feuer legen« entstanden, die heute die feste Überzeugung von einer Sache oder das unerschütterliche Vertrauen auf einen Menschen zum Ausdruck bringt. Werner Mitsch verband dies 1980 treffend mit einer benachbarten Redensart: »Für jemanden, der sich andauernd die Finger verbrennt, sollte man nicht die Hand ins Feuer legen.«2 L: Böttcher 52 (Nr. 231) und 160-161 (Nr. 988); Duden 11,299-300. 1: Liv. 2, 12. 2: Mieder, Phrasen 87 mit Beleg. Hand und Fuss haben gut durchdacht sein, vernünftig begründet sein; ohne Hand und Fuß: unvernünftig, unseriös. Hände und Füße als Zeichen für vollständig vorhandene Tatkraft und Bewegungsfähigkeit eines Menschen werden in dieser Wendung auf Gegenstände, Maschinen, Pläne, Gedanken und Weiteres übertragen, um ihre Funktionsfähigkeit oder Sinnhaftigkeit zu bezeichnen. Im Deutschen erscheint die Wendung ab dem 16. Jh.1 Im römischen Altertum lautete der entsprechende Ausdruck »[es erscheinen] weder Kopf noch Fuß« (Plautus) bzw. »weder Kopf noch Füße« (Cicero).2 Die Verbindung von Kopf und Fuß war zugleich Sinnbild der Vollstän- 83
digkeit (-♦ von Kopf bis Fuß), die demnach »ohne Kopf und Fuß« undenkbar ist. »Cato der Ältere soll die Phrase abgewandelt und für einen Witz genutzt haben, wie in den »Periochae« (Livius-Auszügen aus dem 4. Jh.) erzählt wird: »Die Römer hatten drei Gesandte zur Herstellung eines Friedens zwischen Ni- comedes und Prusias ausgeschickt; einer von ihnen hatte den Kopf von vielen Narben gezeichnet, der zweite war an den Füßen krank, und dem dritten schrieb man eine beschränkte Begabung zu. Da sagte Cato über diese Gesandtschaft, sie habe weder Kopf noch Füße noch Herz.«3 L: Borchardt-Wustmann-Schoppe 202; Duden 11,299; Mletzko 38. 52. 91; Otto 74-75 (Nr. 344). 1: Namenlose Sammlung von 1532, Nr. 510: »Es hat hende und fuesse was der man redet«, ausführlich erklärt 1529 bei Johann Agricola (Nr. 445). 2: Plaut. Capt. 614; Asin. 729; Cic. fam. 7,31,2. 3: Liv. perioch. 50: »Cum tres legatos ad pacem inter Nicomedem et Prusiam faciendam Romani misissent, cum unus ex his caput multis ci- catricibus sartum haberet, alter pedibus aeger esset, tertius ingenio socors haberetur, dixit Cato eam in legationem, nee caput nee pedes nee cor habere.« sich mit Händen und Füssen wehren sich mit allen Mitteln wehren, sich mit vollem Einsatz widersetzen. »Mit Händen und Füßen« (lat.: »manibus pedibusque«) stand auch im Lateinischen für den Einsatz aller Mittel, denn, wie Erasmus von Rotterdam erläuterte, »durch die Hände wird die Bereitschaft, eine Handlung auszuführen, dargestellt, durch die Füße die Schnelligkeit beim Laufen«.1 In einer Komödie des Terenz (2. Jh. v. Chr.) sagt der Sklave Davos zu seinem jungen Herrn Pamphilus: »Als Sklave, Pamphilus, ist's meine Schuldigkeit, / mich abzumühen mit Händen und Füßen Tag und Nacht.«2 An anderer Stelle in demselben Stück sagt Pamphilus' Vater Simo über den gerissenen Davos: »Ich glaube, daß dieser mit Händen und Füßen beharrlich alles tun wird, und dies mehr, um mir zu schaden ...«,3 womit er meint, daß Davos sich seinen Plänen gewiß mit allen Mitteln entgegenstellen werde. Der Grammatiker Donat erklärte den Ausdruck im 4. Jh. als ein Sprichwort, das soviel heiße wie »mit allen Gliedern«,4 womit es offenbar für alle Arten vollen Einsatzes stehen konnte. Im Deutschen dagegen wird die Wendung fast nur noch im Zusammenhang mit Widerstand oder Selbstverteidigung gebraucht. 84
L: Mletzko 38. 52. 1 37; Otto 210 (Nr. 1034). 1: Er. ad. 1,4,15. 2: Ter. Andr. 675-676: »Ego, Pamphile, ho_c tibi pro. servitio dgbeo. / cona/i ma/iibu' pgdibu' no_ctesque £t difis.« 3: Ter. Andr. 161: »quem ego crgdo manibu' pgdibu'que Qbnixe o_mnia / fac- ty/um...« 4: »proverbiale i. e. omnibus membris« nach Otto 210 (Nr. 1034). an Haupt und Gliedern völlig, in jeder Hinsicht. Zumeist in Verbindung mit dem Begriff der Reform: Die Kirche an Haupt und Gliedern reformieren, Reform/Erneuerung an Haupt und Gliedern. Der Kirchenvater Augustinus überliefert in seiner Psalmenauslegung anläßlich von Ps. 30,5 (»Singt und spielt dem Herrn, ihr seine Frommen...«) ein »altes und wahres Sprichwort: >Wo der Kopf (ist), (sind) auch die übrigen Glieder^«1 Damit nimmt er auf das neutestamentliche Bild von der Gemeinde als einem Leib mit vielen unterschiedlichen Gliedern (den Gläubigen) und mit Christus als Haupt Bezug.2 Da der Kopf, Christus, auferstanden sei, dürften auch die Glieder, d.h. die Gläubigen, auf das ewige Leben hoffen und daher, wie der Psalm empfiehlt, fröhlich singen und spielen. Das von Augustinus hier angeführte lateinische Sprichwort muß aber nicht unbedingt christlichen Ursprungs sein; es könnte auch allgemein auf die notwendige enge Verbindung von Führenden und Ausführenden in einer Gemeinschaft hinweisen. Daß man meistens von einer »Erneuerung (oder Reform) an Haupt und Gliedern« spricht, geht auf eine Eingabe mit Verbesserungsvorschlägen zurück, die der jüngere Guilelmus Duran- dus, Bischof von Mende, für das von Clemens V. einberufene Konzil von Vienne (1311) schrieb; dort heißt es: »Es scheint in Erwägung gezogen werden zu müssen, daß es sehr nützlich und notwendig sein würde, vor allem das, was in der Kirche Gottes verbesserungs- und reformbedürftig ist, zu verbessern und zu reformieren an Haupt und Gliedern.«3 L: Duden 11,314 und 12,42. 396; Otto 75 (Nr. 345). 1: Augustin. PL 36,223: »prover- bium est antiquum et verum: ubi caput, et cetera membra.« 2: 1. Kor. 12,20-22; Eph. 1,22; 4,15. 3: Rubrica 1,2,3: »Videretur deliberandum, perquam utile fore et necessa- rium quod ante omnia corrigerentur et reformarentur illa quae sunt in ecclesia Dei cor- rigenda et reformanda, tarn in capite quam in membris« (zitiert nach Duden 12,42). 85
Hefe des Volkes der »Bodensatz« des Volkes, die untersten Bevölkerungsschichten. Die Hefe als der zurückbleibende, untrinkbare Niederschlag bei der Weinherstellung gilt als wertlos und ist deshalb Sinnbild des Niedrigen, Schmutzigen und Gemeinen. Daher wurden die unteren Bevölkerungsschichten als »Hefe des Volkes« (lat.: »faex civitatis«) bezeichnet. So spricht z. B. Cicero in seiner Verteidigungsrede für L. Valerius Flaccus (seinen wichtigsten Helfer gegen Catilina; vgl. -♦ catilinarische Existenz) im Jahre 59 v. Chr. davon, wie leicht bei einer griechischen Volksversammlung die Meinung der »faex civitatis« zu beeinflussen sei.1 An seinen Freund Atticus schreibt er Anfang Juli 61 v. Chr.: »Mit den Optimaten stehe ich noch genauso wie bei deiner Abreise, mit dem Unrat und der Hefe der Stadt viel besser als damals.«2 Andere lateinische Wendungen lauteten »aus der Hefe schöpfen« (sich nur mit dem Schlechtesten befassen)3 und »ganz bis auf die Hefe herabkommen« (zugrunde gehen).4 Letzteres findet sich deutsch bei Luther wieder: »Es kommt auf die Hefen.«5 L: Böttcher 61 (Nr. 303-304); Büchmann 316; Duden 12,215; Otto 130 (Nr. 633); Wander 2,455 (Hefe 17). 1: Gc. pro Flacco 8,18. 2: Cic. Att. 1,16,11: »Apud bonos iidem sumus, quos reliquisti; apud sordem urbis et faecem multo melius nunc, quam reliquisti« (Übers. H. Kasten). Vgl. ferner Apoll. Sidon. carm. 9,232; Cic. ad Att. 2,1,8. 3: Lucr. 5,1141: »Der Staat kam auf die Hefen«, d.h. herunter (»Res itaque ad summam faecem turbasque redibat«). 4: Cic. Brut. 69,244: »Tu quidem de faece, inquit, hauris« (»Du beschäftigst dich nur mit den schlechtesten und geringsten« [Rednern]). 5: Tischreden 479b nach Wander 2,455 (Hefe 1 7). KEINEN (ROTEN) HELLER WERT SEIN nicht das Geringste wert sein; auch: keinen lumpigen/blutigen Heller; auch mit anderen Verben, z.B.: keinen Heller geben/schulden: nicht das Geringste geben/schulden; bis auf den letzten Heller/Kreuzer: bis auf den letzten Rest, vollständig, bis ins Kleinste. Das As war bei den Römern die kleinste Münze und damit Sinnbild des Geringen und Wertlosen. Dabei findet sich häufiger als »kein As wert sein« die Redensart »nur ein As wert sein« oder »nur für ein As wert halten«; z.B. fordert der Dichter Catull 86
seine Geliebte auf, auf alles Gerede der allzu verbohrten Alten »nur ein As zu geben« - also eben nichts.1 Eine Person, die nur ein As (also fast nichts) wert war, konnte man als »assarius« (As- stück) bezeichnen,2 fast so, wie wir jemanden zum »falschen Fuffziger« erklären können. »Ad assem« (»bis auf ein As«) bedeutete »bis auf den letzten Rest« (entsprechend dem deutschen »bis auf den letzten Kreuzer«)3 oder »bis in die kleinste Einzelheit« (entsprechend deutsch »auf Heller und Pfennig«).4 Der »Heller« trägt seinen Namen nach der Stadt Schwäbisch Hall, wo der »Haller pfenninc« seit dem 12. Jh. geprägt wurde, und erscheint wie der »Deut« und der »Dreier« gern in Redensarten, die einen geringen Wert oder kleinen Rest bezeichnen. »Rot« (manchmal auch »blutig«) wird er von der Farbe des Kupfers her genannt. Der »letzte Heller« ist im Deutschen vor allem durch die Übersetzung von Matth. 5,26 geläufig.5 L: Borchardt-Wustmann-Schoppe 220; Böttcher 135 (Nr. 811); Büchmann 38; Duden 11,321; Otto 39 (Nr. 175-1 76); Wander 1,154 f. mit weiteren Belegen und Varianten. 1: Catull. 5,3: »... unius aestimemus assis«; vgl. 42,13. Diverse weitere Beispiele nennt Otto 39 (Nr. 175). 2: Sen. apoc. 11,2. 3: Hör. ep. 2,2,27; s. 1,1,43. 4: Plin. ep. 1,15,1; Apoll. Sidon. ep. 3,3,9. 5: »Wahrlich, ich sage dir: Du wirst nicht von dannen herauskommen, bis du auch den letzten Heller bezahlest.« Das Hemd ist mir näher als der Rock Man muß Prioritäten setzen. Im »Dreigroschenstück« des lateinischen Dichters Plautus rechtfertigt sich der junge Lysiteles mit diesen Worten dafür, daß er zuerst seinen künftigen Schwiegervater Charmides und erst dann dessen Freund Callicles begrüßt: »Auch du sei gegrüßt, Callicles; doch dieser kommt für mich zuerst: Das Hemd ist näher als der Rock.«1 Mit dem »Hemd« ist hier die Tunika, das römische Untergewand, gemeint, während der »Rock« das Pallium, ein beliebtes rechteckiges Obergewand, ist und damit dem Körper ferner steht als die Tunika. Im Griechischen gab es mit entsprechendem Sinn bereits das auch in Rom gern zitierte Sprichwort »Das Knie ist mir näher als das Schienbein« und vielleicht auch umgekehrt »Das Schienbein ist weiter weg als das Knie«.2 Im Deutschen wurde das Sprichwort zuerst in der Form »Das hembd liegt eim näher dann der rock« eingeführt und kann als Begründung für alles verwendet werden, was den Vorrang vor 87
anderem erhalten soll (meistens die eigenen Interessen vor denen anderer). Bisweilen wird es auch anzüglich-ironisch abgewandelt, wie von Klaus Möckel: »Ihr Hemd war mir näher als mein Rock, sagte der Ehebrecher.«3 L: Bartels 179; Böttcher 55 (Nr. 254-255); Büchmann 312; Duden 11,321-322 und 12,218; MIetzko 55. 86. 98; Otto 262 (Nr. 1 324); Wander 2,499 (Hemd 3). 1: Plaut. Trin. 1154: »... tynica prQpior paJIiQSt.« 2: Sen. apoc. 10,3: eyyiov -yovv Kv%r|<;; Ze- nob. 3,2: -yöVu kvtiiitk eY/10^' umgekehrt: Theokr. Id. 16,18: Ärcoxepü) r\ -yöVu Kvd(ia. 3: Mieder, Antisprichwörter 55 mit Beleg. S: Ndl. »Mijn hemd is mij nader dan mijn rok (en mijn vleesch nader dan mijn hemd)«. Wie der Herr, so's Gescherr Vom (negativen) Verhalten eines Untergebenen oder Angestellten läßt sich auf den Herrn oder Vorgesetzten schließen (und umgekehrt). Auch: Wie der Herr, so der Knecht. Während des Gelages bei Trimalchio in Petronius' Roman »Sa- tyrica« geraten die Gäste untereinander in Streit. Neureiche Freigelassene beschimpfen ihre ehemaligen Herren und sich gegenseitig - und dabei sagt einer zu einem anderen: »Ganz wie der Herr, so auch der Sklave!«1 - der Angesprochene habe also genauso schlechte Manieren wie sein ehemaliger Besitzer. Ein ähnliches griechisches Sprichwort lautete: »Wie die Herrin, so die Hündin.«2 Der Kirchenvater Hieronymus kehrte die Bezugsrichtung um, indem er forderte: »Der Herrscher soll so beschaffen sein wie jene, die beherrscht werden.«3 Die gereimte lateinische Fassung »Qualis rex, talis grex« (»Wie der König, so die Herde«) ist erst im Mittelalter entstanden. Im Deutschen ist dann - wohl zum Zwecke des Reims - für den Untergebenen (Sklave, Haustier) das »Gescherr« (Geschirr, d.h. Gerät, Werkzeug) eingetreten, in dem jener »angeschirrt« ist. L: Bartels 143; Böttcher 80 (Nr. 458-459); Büchmann 341; Duden 11,324 und 12,537; MIetzko 50. 56; Otto 119 (Nr. 571), vgl. auch 300 (Nr. 1538). 1: Petron. 58,3: »Plane qualis dominus, talis et servus.« Vgl. Cic. fam. 1,9,12. 2: Cic. Att. 5,11,5: oiarap T| Öearcoiva xoia xr\ kuüjv. 3: Hieron. ep. 7,5: »...talisque sit rector, quales illi, qui reguntur.« 88
*> Von ganzem Herzen.
VON GANZEM HERZEN mit völliger Hingabe, mit fester Überzeugung; auch: aus tiefster Brust: aus tiefstem Innern, unter großer innerer Beteiligung. »Mit ganzer Brust« (»toto pectore«) bedeutete schon bei den Römern »mit ganzem Ernst, mit ganzer Hingabe, mit ganzem Herzen«. Zum Beispiel fragt Cicero: »Wo ist jene heilige Freundschaft, wenn nicht gerade ein Freund an sich von ganzem Herzen, wie man sagt, geliebt wird?«1 Ebenso ist die Wendung »aus tiefster Brust« lateinisch (»ab imo pectore«) bei mehreren Dichtern belegt. Zum Beispiel spricht bei Vergil der Held Aeneas, als er in Afrika auf die karthagische Königin Dido trifft, »aus tiefster Brust die Stimme ziehend«2 oder gibt, als er in Karthago an einer Tempelwand eine Abbildung vom Tod des Trojaners Hek- tor erblickt, »aus tiefster Brust einen ungeheuren Seufzer von sich«.3 L: Bartels 33; Otto 270 (Nr. 1368). 1: Cic. leg. 1,49; weitere Stellen bespricht Er. ad. 1,4,26. 2: Verg. Aen. 1,371: »imo_que trahe/is a pgctore vc»cem«. 3: Verg. Aen. 1,485: »ingentgm gemitym dat pectore ab imo«. Vgl. ferner: Catull. 64,198; Lucr. 3,57. JEMANDEN IN DEN HlMMEL ERHEBEN jemanden wie einen Überirdischen loben, übermäßig preisen (vgl. die Adj. himmelhoch, himmelweit); anhimmeln: jdn. verehren, für jdn. schwärmen; im (siebten) Himmel sein: überglücklich sein; vgl.: aus allen Wolken fallen: überraschend enttäuscht werden. Als »im Himmel« konnte sich auch nach römischem Sprachgebrauch ein Mensch bezeichnen, der überglücklich war. Ein möglicher Weg, um in diesen Zustand zu gelangen, war, in den Himmel gelobt zu werden. So schreibt Cicero über den amtierenden Konsul Bibulus: »Bibulus ist im Himmel. Ich weiß zwar nicht warum, aber er wird so sehr gelobt.«1 Und: »Durch die Bewunderung und die Beliebtheit bei den Leuten ist Bibulus im Himmel.«2 Allerdings konnte dieser Zustand jäh ein Ende nehmen. Bereits im nächsten Brief schreibt Cicero: »Er ist von den Sternen herabgestürzt.«3 Und so bot er nach Cicero ein entsprechend jämmerliches Schauspiel. Allgemein kann »in den Himmel gelangen« bedeuten, Erfolg 90
zu haben. So sagt in Petronius' Roman »Satyrica« ein Gast über die Frau des Trimalchio, sie sei »in den Himmel gegangen«;4 dies bedeutete, den sozialen Aufstieg geschafft zu haben: von der Sklavin zur Vorsteherin eines Haushaltes, dessen Reichtum unermeßlich war. Oder wie einer der Gäste es sagt: »Sie mißt das Geld mit dem Scheffel ab.« Auch im Deutschen kann jemand sein Glück beschreiben, indem er sich als »im Himmel« bezeichnet, allerdings ist aus dem Himmel bei uns meist der »siebte« Himmel geworden. Die allgemeine Hochschätzung der Sieben in den alten Kulturen dürfte daher rühren, daß man sieben Himmelskörper als Planeten betrachtete (Sonne, Mond, Merkur, Venus, Mars, Saturn und Jupiter). Dadurch fand die Zahl Sieben auf zwei Wegen Eingang in die religös-kosmologischen Spekulationen: Zum einen wurde eine Siebenzahl der Himmel und Unterwelten prognostiziert, was einerseits ihre Vollkommenheit ausdrückte, es andererseits aber auch ermöglichte, Abstufungen zu machen (vgl. »im untersten Kreis der Hölle«). Gleichzeitig konstruierten auch die Philosophen wegen der sieben Planeten ein siebenstufiges Himmelsmodell. Auf jeden Fall ist »im siebten Himmel« dadurch synonym mit »im höchsten Himmel«. L: Borchardt-Wustmann-Schoppe 223; Duden 11,336; Otto 62 (Nr. 288). 1: Cic. Att. 2,19,2. 2: Cic. Att. 2,20,4. 3: Cic. Att. 2,21,4. 4: Petron. 37. Der Himmel fällt ein Alles stürzt zusammen, die Welt geht unter; * ich hätte eher des Himmels Einsturz erwartet:1 damit habe ich gar nicht gerechnet. Wenn der Himmel einstürzt, treffen die Trümmer einen Unerschrockenen: Mich kann nichts erschrecken. Die Angst vor einem Einstürzen des Himmels galt Griechen und Römern als typisch für einen übermäßig ängstlichen Menschen.2 Umgekehrt diente die unerschrockene Redensart »selbst wenn der Himmel einfiele« bei den Römern dazu, besonders großen Willen oder Mut auszudrücken; so heißt es bei dem Grammatiker Varro: »Ferner hat die meisten ein so großer Ehrgeiz befallen, daß sie nur wünschen, selbst wenn der Himmel einfiele, ein Amt zu erreichen.«3 Bei Horaz finden wir das noch im Deutschen gebrauchte 91
Wort: »Wenn die Welt zerborsten zusammenfiele, / einen Unerschrockenen werden treffen die Trümmer.«4 In einem anderen deutschen Sprichwort wird dem Einfallen des Himmels scherzhaft etwas Gutes abgewonnen: »Wenn der Himmel einfiele, wären alle Spatzen gefangen.« L: Borchardt-Wustmann-Schoppe 223; Otto 61-62 (Nr. 286). 1: Ältere Form: »Ich hette mich ehe des hymelfalls versehen«: Joh. Agricola Nr. 436 u.a. nach Borchardt-Wustmann-Schoppe 223. 2: Theogn. 869; Ter. Heaut. 719. 3: Varro bei Non. p. 499,24: »Tanta porro invasit cupiditas honorum plerisque, ut vel caelum ruere, modo magistra- tum adipiscantur, exoptent.« Vgl. Sen. nat. quaest. 6,32,4; Probus zu Verg. ecl. 7,31. 4: Hor. c. 3,3,7: »Si fractus {Habetur Qrbis, / impavidym ferie/it ruinae.« JEMANDEM DIE HÖRNER ZEIGEN kräftig entgegentreten, sich kräftig zur Wehr setzen (auch aggressiver: auf die Hörner nehmen). Vgl.: jemandem die Stirn bieten. Da Tiere mit Hörnern diese zum Kampf benutzen, sind die Hörner seit jeher Zeichen von Mut, Kraft und Kampfbereitschaft. Zum Beispiel sagt der Dichter Horaz zu einer Schale guten Weins: »Du bringst Hoffnung zurück den ängstlichen Seelen / und verleihst Kräfte und Hörner dem Armen ...«1 Die Redensart »jemandem die Hörner zuwenden« (»cornua obvertere alicui«) findet sich zuerst bei Plautus und später bei Horaz und Apu- leius.2 Im Deutschen begegnet sie mehrfach bei Luther und ist dadurch geläufig geworden. L: Borchardt-Wustmann-Schoppe 231; Duden 11,350; Otto 93-94 (Nr. 439-440). 1: Hor. c. 3,21,17-18: »Tu spgm redycis mentibus anxns / virjsque et addis co_rnua pauperi.« Weitere Stellen nennt Otto 94 (Nr. 440). 2: Plaut. Pseud. 1021; Hor. epod. 6,12; Apul. apol. 81. Hunde, die bellen, beissen nicht Wer laut schimpft, tut gewöhnlich nichts Schlimmeres; wer viel Lärm macht, ist gewöhnlich harmlos. Auch: Bange Hunde bellen viel; bellende Hunde beißen nicht. Von Varro wird ein Satz des Dichters Ennius (239-169 v. Chr.) überliefert: »Ein Hund ohne Zähne bellt.«1 Das bedeutet natürlich umgekehrt, daß ein bellender Hund keine Zähne hat - und damit wohl ungefährlich ist. Dem deutschen Sprichwort etwas näher kommt eine zweite Quelle: In der »Geschichte Alexan- 92
ders des Großen« des Curtius Rufus (1. /2. Jh. n. Chr.) erscheint bei einem Gastmahl Alexanders ein medischer Magier namens Cobares, der eine Reihe von Spruchweisheiten aufzählt. Daraufhin »fügte er noch hinzu, was bei den Baktrem gemeinhin verbreitet war: Daß ein ängstlicher Hund heftiger belle als beiße.«2 Anschließend habe Cobares übrigens das Sprichwort vorgetragen, »daß alle ganz tiefen Flüsse mit ganz leisem Ton dahinflössen« (-♦ Stille Wasser sind tief). L: Duden 11,354; Mletzko 16. 60; Otto 70 (Nr. 321). 1: Ennius bei Varro 1.1. 7,32: »Ca- nis sine dentibus latrat« (p. 76 Vahl. n. 410 Baehr). 2: Curt. 7,4,13: »Adicit deinde, quod apud Bactrianos vulgo usurpabant, canem timidum vehementius latrare quam mordere...« Vgl. lul. Valer. 1,43,55. Achtung vor dem Hund! Vorsicht, bissiger Hund! Diese Aufschrift (lat.: »Cave canem!«) war häufig am Tor oder auf der Schwelle römischer Villen angebracht. In Pompeji wurden im Eingangsbereich mehrerer Häuser entsprechende Mosaiken mitsamt dem Bild eines Hundes gefunden. Auch der Schriftsteller Petronius überliefert diese Sitte in seinem Roman »Satyrica«, in dem der Erzähler das pomphafte Haus eines Gastgebers beschreibt: »Im übrigen wäre ich selber, während ich alles bestaunte, fast hintüber gefallen und hätte mir die Beine gebrochen. Denn links vom Eingang war unfern der Portierloge ein riesiger Kettenhund an die Wand gemalt, und darüber stand in Großbuchstaben: >CAVE CANEM<«1 L: Böttcher 80 (Nr. 453-454); Duden 12,88. 1: Petron. 29,1. 93
I auf den Index setzen auf eine Verbotsliste setzen, vor der Öffentlichkeit versperren, verbieten. Erstmals 1559 unter Papst Paul IV wurde vom Vatikan die Sammlung »Index librorum prohibitorum« herausgegeben, ein »Anzeiger« (lat.: »index«) ausdrücklich verbotener Bücher. Bedeutend waren die Ausgaben von 1564 (tridentinischer Index, durch Pius IV) und 1900 (Benedikts III.). Mit der Zeit wurden alle unliebsamen, d.h. antikatholischen, antireligiösen, antipäpstlichen, Irrlehren und Aberglauben verbreitenden Bücher (sogar der Urtext oder alte katholische Übersetzungen der Bibel) und Autoren (z. B. Voltaire, Lessing, Heine) in die Verzeichnisse aufgenommen. Insgesamt gab es 40 päpstliche Indizes, die letzte Ausgabe erschien 1948. 1966 wurde der Index außer Kraft gesetzt.1 L: Böttcher 201-202 (Nr. 1190); Büchmann 373. 1: Erlasse der Glaubenskongregation vom 14. 6. und 15. 11. 1966 mit Wirkung vom 29. 3. 1967. iNTUS HABEN verinnerlicht haben, geistig beherrschen, können. Das lateinische Wort »intus« bedeutet »innen, im Innern« und wird in der antiken Literatur auch gern beim Menschen angewandt, in dessen »Innern« (d.h. in seinem Herzen, in seiner Seele) etwas vorgeht oder dessen Inneres man gut kennt. So sagt z.B. der Satiriker Persius: »Ich kenne dich von innen und außen« (d.h. vollständig).1 Das deutsche »etwas intus haben« ist eine umgangssprachliche Wendung, deren Entstehung vermutlich in das 19. Jh. zurückgeht. L: Otto 104 (Nr. 492). 1: Pers. 3,30: »ego te intus et in cute novi.« Zitiert von Hieron. ep. 58,7 und adv. Rufin. 2,16. 94
J JANUSKÖPFIC zweischneidig, positiv und negativ zugleich. Januskopf: Eine Sache oder ein Mensch mit zwei sehr unterschiedlichen Seiten. Janus (lat.: »Ianus«) war der römische Gott der öffentlichen Tore und Durchgänge und damit der Gott des Anfangs, der in allen Gebeten als erster genannt wurde. Dem Doppelcharakter eines Tores als Ein- und Ausgang entspricht die doppelgesichtige Darstellung des Janus, wobei ein Gesicht den Hinterkopf des anderen bildet und in die entgegengesetzte Richtung blickt. »Janusköpfig« ist demnach eine Sache, die noch eine andere Seite (zumeist eine böse neben einer guten) besitzt (ähnlich den »zwei Seiten einer Medaille«). Aus dem Griechischen ist die im Lateinischen nicht nachweisbare Redensart »ein anderer Janus« für einen Menschen mit zwei Seiten überliefert.1 Dem Janus war in Rom an der Nordseite des Forum Roma- num ein doppelter Torbogen (»Ianus Geminus«) geweiht. Nach altem Brauch sollte der Bogen nur dann geschlossen werden, wenn an allen Grenzen Frieden herrschte, was man als Einschließen des Krieges oder Festhalten des Friedens gedeutet hat. Nachdem der Bogen in republikanischer Zeit nur einige wenige Male hatte geschlossen werden können, belebte Kaiser Augustus durch dreimalige Schließung des Bogens diese Sitte ganz bewußt, um sich als Friedensbringer zu propagieren (-♦ pax Au- gusta). Wie man sich in seiner Zeit den darin eingeschlossenen Krieg bildlich vorstellte, schildert der Dichter Vergil: »...mit Eisen und festen Klammern wird man / die grausigen Tore des Krieges schließen; der ruchlose Wahnsinn sitzt drinnen / über schrecklichen Waffen, hinter dem Rücken gefesselt mit hundert / ehernen Knoten, wird kreischen furchtbar mit bluttriefendem Maul.«2 Nach Augustus nahmen auch die Kaiser Nero und Vespasian eine feierliche Schließung des Bogens vor.3 95
L: Otto 170 (Nr. 841). Ausführlich zur Rezeption: Stichwörter 78-82 u. Komm. 124-129.1: Apost. 8,98: »Ein anderer Janus: (Das sagt man) von den Zweigesichtigen; denn von der Art ist Janus.« ( lavvo<; dAAoq im xcöv SiTcpoaümcov. xoioutoq ydp o " Iavvoq). Vgl. Pers. 1,58, Athen. 15,692 D. Das Sprichwort dürfte aber auf ein lateinisches Vorbild zurückgehen. 2: Verg. Aen. 1,293-296: »...dirae ferro fit compagibus artis / claydenty/ Belli portaej Furor impius intus / safiva sedgns super arma et cgntum vinctus agnis / pQSt tergym nodis fremet hQrridus o_re crugnto.« 3: Details und Belege zum ganzen Stichwort bietet Der Kleine Pauly 2,1311-1314. Jedem das Seine! (auch lat.: »suum cuique«) Jeder soll bekommen, was er verdient / soll tun, was er mag oder kann. Vgl. die Sprichwörter: Jedem Narren gefällt seine Kappe; jedem gefällt das Seine. Nach Gellius geht diese Forderung auf den Politiker und Schriftsteller Cato den Älteren (234-149 v.Chr.) zurück, der sagte: »Von mir aus ist es jedem erlaubt, das Seine zu gebrauchen oder zu genießen.«1 Dieses Wort hat nun zum einen in dem toleranten Sinne von »Jedem gefalle ruhig das Seine« fortgewirkt. Cicero schreibt über das tragische Theater: »Denn in diesem Genre gilt mehr als in anderen jedem das Seine als schön.«2 Noch allgemeiner findet dieser Sinn sich bei Petro- nius im 1. Jh.: »Wir sehen, daß jedem seine Sache am liebsten ist.«3 Zum anderen griff Cicero die Worte Catos als kurze Formulierung für den von Piaton geprägten Gedanken auf, daß jedem das Seine, das ihm Gebührende und Zukommende, zuzuteilen sei: »Und jene [d.h. die großen griechischen Gelehrten] meinen, daß jene Sache [das Gesetz, griech. vö|io<;, abgeleitet von ve^co (zuteilen)] mit der griechischen Bezeichnung nach dem Jedem das Seine zuteilen< benannt sei, während ich meine, daß sie im Lateinischen [lex: Gesetz] von >auswählen< [legere] kommt.«4 Gerechtigkeit bestehe in der Aufrechterhaltung der menschlichen Gesellschaft, im »Zuteilen des Seinigen an jeden«5 sowie in der Verläßlichkeit von Verträgen. Später wurde der politische Grundsatz zur Rechtsregel: »Gerechtigkeit ist der beständige und dauerhafte Wille, jedem sein Recht zuzuteilen.«6 Friedrich I. von Preußen (1688-1713) hatte »suum cuique« als persönlichen Wahlspruch und verwendete ihn erstmals 1677 als Kronprinz auf einer Schaumünze; dann wurde es De- 96
vise des am 17. 1. 1701 gestifteten Ordens vom Schwarzen Adler.7 Dieser war der höchste Orden, der in Preußen für zivile und militärische Leistungen vergeben werden konnte. Die Nationalsozialisten erklärten mit dem Satz »Jedem das Seine« ihr Verständnis von »Sozialismus«, wie Goebbels 1930 definierte: »Wahrer Sozialismus heißt nicht: allen das Gleiche, sondern: jedem das Seine.«8 Letztlich wurden damit Diskriminierung, Verfolgung und Massenmord als »das Seine« gerechtfertigt. Entsprechend zierte das Motto, in zynischster Weise mißbraucht, das Tor des Konzentrationslagers Buchenwald. L: Bartels 1 72-1 73; Böttcher 59 (Nr. 287-288); Büchmann 367; Duden 11,656; Fritsch 556; Mletzko 61. 107; Otto 337-338 (Nr. 1 726); Reichert 42. 62; Wander 4,524-525 (das Seine 7). 1: Gell. 1 3,24,1: »Suum cuique per me uti atque frui licet.« 2: Cic. Tusc. 5,22,63: »In hoc enim genere ... magis quam in aliis suum cuique pulchrum est.« Vgl. Cic. Att. 14,20,3. 3: Petron. 15,1: »videmus, inquit, suam cuique rem esse carissimam.« Vgl. auch Plin. nat. 14,71. 4: Cic. leg. 1,6,19: »Eamque rem (d.h. legem) illi Graeco pu- tant nomine a suum cuique tribuendo appellatam, ego nostro a legende« Vgl. Plat. Staat 4,10. 5: Cic. off. 1,5,15: »in ... tribuendoque suum cuique...« 6: Ulpian, Digesten 1,1 »De iustitia et iure« 10: »lustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi.« Daher Shakespeare, Andronicus 1,2: »Suum cuique spricht des Römers Recht.« 7: H. j. Schoeps, Preußen. Geschichte eines Staates, Berlin 1966. 8: Rede vom 11. Mai 1930 nach Mieder, Sprichwörter 192. Jeder ist sich selbst der Nächste Jeder Mensch ist in gewissem Maße egoistisch (und darf es sein). In Terenz' Komödie »Andria« will ein Vater prüfen, wie ernst es seinem Sohn Pamphilus mit der Liebe zu einem Mädchen ist, und gibt daher vor, ihn mit einer anderen verheiraten zu wollen. Ein Freund des Sohnes, der diese andere umwirbt, fürchtet, Pamphilus werde sich in die verlangte Heirat schicken; so wirft er ihm vor, er handle nach dem Grundsatz: »Ich bin mir selbst der Nächste!«1 Bei griechischen Autoren finden sich zuvor Gedanken wie »Jeder ist sich selbst ein Freund« oder »Jeder liebt sich selbst mehr als den Nachbarn«, die dazu als Vorlage gedient haben mögen.2 In den spätantiken »Disticha Catonis«, einer moralischpädagogischen Spruchsammlung unter dem Namen Catos d. Ä., wird ein solcher Egoismus demjenigen empfohlen, der seinen Wohlstand bewahren möchte: »Wenn du erfolgreich geworden bist, sollst du dir immer der Nächste sein.«3 97
Das Sprichwort wird heute zumeist als Rechtfertigung angeführt, wenn man in auffälliger Weise zuerst die eigenen Interessen wahrnimmt (vgl. auch -► Das Hemd ist mir näher als der Rock). Bisweilen wird es auch als Gegensatz zum biblischen Gebot »Liebe deinen Nächsten!« aufgefaßt und diesem gegenübergestellt - zu Unrecht, denn biblisch heißt es vollständig: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«4 L: Böttcher 57 (Nr. 269-270); Büchmann 312; Duden 11,365 und 12,263; Mletzko 61. 85. 109; Otto 289 (Nr. 1479); Wander 2,1010 (Jeder 64) und 3,842 (Nächster 16). 1: Ter. Andr. 636: »Pro_xumys sum egomgt mihi.« 2: Belege dazu sowie weitere nennt Otto 289 (Nr. 1479). 3: Dist. Cat. 1,40: »Cum fuerjs feljx, sempe/ tibi pro_ximus gsto.« 4: 3. Mose 19,18 und öfter. K Kadavergehorsam blinder Gehorsam, der ohne Nachfragen oder eigenen Willen geleistet wird. Der »Kadaver« ist nicht nur ein Fremdwort aus dem Lateinischen für »Leichnam«, sondern hat auch dem willenlosen Gehorsam (wie von einem Leichnam, einem »Untoten«) den Namen gegeben: Ignatius von Loyola, der Begründer des Jesuitenordens, schreibt in seinen »Bestimmungen der Gesellschaft Jesu« (Antwerpen 1702) den Brüdern vor, sich von der göttlichen Vorsehung durch die Oberen tragen und leiten zu lassen, »als wären sie ein Leichnam, der sich überall hintragen und auf jede beliebige Weise behandeln läßt« (lat.: »perinde ac si cada- ver essent, quod quoquo versus ferri et quacunque ratione trac- tari sesinit«).1 98
Doch beschränkte Ignatius selbst diese Art des Gehorsams auf solche Fälle, »in denen nichts Sündhaftes erblickt wird«,2 und auf Dinge, »auf die sich der Gehorsam mit Hochachtung ausdehnen kann«.3 Er wertete jedoch den Gehorsam als Zurückstellung des eigenen Selbst grundsätzlich positiv wie in der christlichen Tradition bereits Johannes Climacus (gest. um 600): Nach ihm ist der Gehorsam »die vollständige Aufhebung der eigenen Seele, die Ertötung der Sinne in der lebendigen Seele, der freiwillige Tod, das Begräbnis des Willens«.4 In negativem Sinne wurde der Ausdruck »Kadavergehorsam« im 19. Jh. als Schlagwort gegen Untertanengeist gebräuchlich. Er wird auch heute noch stets abwertend zur Beschreibung einer völlig willen- und kritiklosen Unterordnung verwendet. L: Böttcher 204 (Nr. 1199); Büchmann 354; Duden 12,270. 1: Constitutiones Societa- tis lesu 4,1. 2: 3,1,23: »Ubi peccatum non cerneretur.« 3: 4,1,1: »ad quas potest cum charitate se obedientia extendere.« 4: De scala paradisi gradus 4 (PL 88,680). KLASSISCH erstrangig, mustergültig, von zeitlosem Wert; oft auf die Antike bezogen, klassische Antike: das antike Griechenland v. a. des 5. Jh. v. Chr. bzw. Rom v. a. des 1. Jh. v. Chr.; klassischer Boden: Landschaft der griechisch-römischen Antike;1 allgemeiner z.B.: die klassische Zeit der Eisenbahn; Preußen, das klassische Land der Schulen und Kasernen.2 Oft in der Form: Das ist schon klassisch: Das ist schon allgemein bekannt und berühmt. Klassik: Periode erstrangiger kultureller Leistungen (z. B. deutsche Klassik: Literatur und Kultur des 18. Jh.); Klassizismus: Anlehnung an die klassische Antike (in der Kunst des 17.-19. Jh.). Das lateinische Adjektiv »classicus« (von classis Steuerklasse; davon dt. »Klasse« für eine Schülergruppe oder Abteilung jeder Art) bedeutet eigentlich »zur ersten Steuerklasse [»classis prima«] gehörend«. So wie heute im Deutschen »Klasse haben« etwas Herausragendes bedeutet, erhielt »klassisch« in der Kaiserzeit den Sinn von »erstrangig, mustergültig«: Gellius spricht von einem »klassischen und beflissenen, nicht primitiven Schriftsteller«.3 Im Deutschen erschien der Begriff erstmals im 18. Jh. für vorbildhafte antike Autoren, dann auch für Meister der deutschen Sprache. 99
Der Satz »Das ist klassisch!« wurde durch Johann Nepomuk Nestroy (1801-1862) gefördert, in dessen Posse »Einen Jux will er sich machen« (1842) der Hausknecht Melchior gern das Wort »klassisch« gebraucht; »klassisch« nennt er einen Kaffee, das Aussehen oder Verhalten einer Person und schließlich sogar eine Situation: »Ja, das ist klassisch!«4 L: Böttcher 86 (Nr. 501) und 474 (Nr. 3111); Büchmann 345. 1: Details dazu bietet Duden 12,279. 2: Dieses Wort wurde von Johann jacoby (Heinrich Simon, 2. Aufl. 1865, 110) Victor Cousin zugeschrieben: Böttcher 525 (Nr. 3462). 3: Gell. 19,8,15: »classicus assiduusque scriptor, non proletarius.« 4:1,6. Kleider machen Leute auf Äußeres wird stets (zu) großer Wert gelegt, gute Kleider bestimmen das Ansehen. Der bisweilen zitierte lateinische Satz »vestis virum reddit« (»Die Kleidung macht zum Mann«) ist zwar nicht antik, doch wird der Grundgedanke bereits von dem Rhetoriklehrer Quinti- lian (1. Jh. n. Chr.) geäußert und auf ein (im Original nicht erhaltenes) griechisches Wort zurückgeführt: »Auch eine anständige und beeindruckende Kleidung verleiht den Menschen, wie es in einem griechischen Vers bezeugt ist, Autorität.«1 Warnend fügt er hinzu: »Aber eine weibische und luxuriöse schmückt nicht den Körper, sondern enthüllt die Gesinnung.«2 Im Deutschen erscheint das Sprichwort in den »Sinngedichten« von Friedrich von Logau (1604-1655): »Kleider machen Leute; trifft es richtig ein, / Werdet ihr, ihr Schneider, Gottes Pfuscher sein.«3 Allgemeine Bekanntheit fand das Wort aber erst durch Gottfried Kellers (1819-1890) gleichnamige Novelle aus dem Zyklus »Die Leute von Seldwyla« (1873). Ein anderes deutsches Sprichwort beleuchtet kritisch denjenigen, der in den Kleidern steckt: »Die Kutte macht noch keinen Mönch.« Daß es auf Äußerlichkeiten letztlich nicht ankommt, brachte auch der römische Philosoph Seneca sehr deutlich zum Ausdruck: »So wie derjenige töricht ist, der, wenn er ein Pferd kaufen will, nicht es selbst, sondern seinen Sattel und seine Zügel inspiziert, so überaus töricht ist derjenige, der einen Menschen entweder nach seiner Kleidung beurteilt oder nach der Situation, die uns nach Art eines Kleidungsstücks umgibt.«4 100
L: Böttcher 243 (Nr. 1496); Duden 11,388 und 12,279; Mletzko 64. 74; Otto 100 (Nr. 476); Reichert 83; Wander 2,1 377 (Kleid 140) und 2,1 738 (Kutte 1). 1: Quint. inst. 8, pr. 20: »Et cultus concessus atque magnificus addit hominibus, ut Graeco versu testa- tum est, auctoritatem.« 2: »...at muliebris et luxuriosus non corpus exornat, sed dete- git mentem.« 3: Deutscher Sinn-Gedichte Drey Tausend (1654) 3. Tausend, 5. Hundert Nr. 35 (»Kleider«). 4: Sen. ep. 47,16: »Quemadmodum stultus est, qui equum emptu- rus non ipsum inspicit, sed Stratum eius ac frenos, sie stultissimus est, qui hominem aut ex veste aut ex condicione, quae vestis modo nobis circumdata est.« Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil unhöfliche Behandlung mit Gleichem erwidern. Dieser Satz aus der Holzhackersprache wird schon von Hieronymus (um 350-420) als ein »im Volk verbreitetes Sprichwort« überliefert: »Für einen üblen Baumstumpf muß ein übler Keil gesucht werden«, d. h., für grobe Zuhörer sind grobe Worte erforderlich. Von Goethe, der für seine »Knittelverssprüche« auch mehr oder weniger bekannte Sprichwörter bearbeitete und dafür zahlreiche Sammlungen des 16.-18. Jh. benutzte, wurde geläufig: »Im neuen Jahre Glück und Heil; / Auf Weh und Wunden gute Salbe! / Auf groben Klotz ein grober Keil! / Auf einen Schelmen anderthalbe!«1 L: Böttcher 412 (Nr. 2688); Mletzko 50. 63; Otto 102 (Nr. 480); Wander 2,1405-1406 (Klotz 1). 1: Hieron. ep. 69,5. 2: Abteilung »Sprichwörtlich«, Nr. 4. B: »Auf diesen groben Klotz setzte der SPD-Sozialexperte Professor Schellenberg einen ähnlich groben Keil«: DIE ZEIT 52, 1971, S. 19, Sp. 4. AUFGEWÄRMTER KOHL alte Geschichte, abgedroschenes Zeug. Alten Kohl aufwärmen: eine alte Geschichte erneut ins Gespräch bringen. Vgl. in gleicher Bedeutung: kalter Kaffee. Der Meerkohl (lat.: crambe, -es; griech. Kpd|ißr|) wurde von Griechen und Römern als Feind des Weinstocks angesehen und als Mittel gegen Trunkenheit gegessen.1 Wiederholt vorgesetzt galt er jedoch als widerliche Speise, so daß ein griechisches Sprichwort sagte: »Zweimal hintereinander Kohl ist der Tod!«2 Der römische Satiriker Iuvenal übertrug die Wendung auf »geistigen Kohl«, d.h. auf abgegriffene Gedanken und öde Worte, 101
die die Lehrer immer wieder mit ihren Schülern durchkauen mußten: »Aufgewärmter Kohl tötet die armen Lehrer.«3 L: Böttcher 85 (Nr. 497); Borchardt-Wustmann-Schoppe 274; Büchmann 343; Duden 11,395; Mletzko 11. 62. 66; Otto 96 (Nr. 454); Reichert 316. 1: Darüber berichtet ausführlich Er. 1,5,38. 2: 5iq Kpänßri edvaxoq: Suid. 8iq 1272. Vgl. Basilius Magnus epist. 186-187 (PL 32,661ff.). 3: luv. 7,154: »Qccidit misero_s crambg repetita magistros.« S: Ital.: »Cavolo riscaldato non fu mai buono« (aufgewärmter Kohl war noch nie gut). Kohorten große Mengen (ebenso: Legion/Legionen) Eine Kohorte (lat.: »cohors«) war der zehnte Teil einer römischen Legion und umfaßte im Idealfalle ca. 600 Mann. In dichterischer Sprache konnte die Kohorte für ein Heer gesetzt werden.1 Die übertragene Verwendung im Deutschen beschränkt sich auf Gruppen, die einer Heeresformation ähneln, wie »Kohorten von Demonstranten« oder »Kohorten von Sicherheitskräften«. Die »Legion« ist in ihrem Fortleben durch ihr Vorkommen im Markusevangelium gefördert worden, wo ein Dämon sagt: »Legion heiße ich, denn wir sind unser viele«.2 Daraus wurde das Wort »Ihre Zahl ist Legion« geflügelt. L: Böttcher 141 (Nr. 864); Duden 12,246. 1: Stat. Theb. 5,672. 2: Mk. 5,6. Wer kontrolliert die Kontrolleure? Wer eine Aufsicht ausübt, wird oft selbst zu wenig beaufsichtigt. Der römische Dichter Iuvenal (um 60-140) beklagt in einer seiner Satiren die Sitten seiner Zeit (vgl. -♦ Brot und Spiele): Arm und Reich seien von unglaublicher Gier auf Liebschaften ergriffen, so daß es schon fast unmöglich sei, die Treue einer Ehefrau sicherzustellen: »Ich höre, was ihr alten Freunde schon lange anratet: >Leg' einen Riegel davor, sperr' sie ein!< Wer aber wird die Wächter selbst bewachen? Schlau ist eine Ehefrau und macht den Anfang bei ihnen.«1 Mit den »Wächtern« meint er Sklaven, die - vermeintlich Eunuchen - als Aufseher über die Frau wachen, an denen sie jedoch ihre Verführungskünste zuerst testen dürfte. Wohl in irrtümlicher Zurückführung auf Piatons Idealentwurf eines Staates und die dortigen »Wächter« (d. h. die Schicht 102
der Soldaten) wird der Satz dagegen heute vor allem auf staatliche Kontrollinstanzen bezogen, die selbst bestochen werden oder auf andere Weise gesetzwidrig vorgehen. Der Vers Juvenals war z. B. 1987 in den USA eine Aufschrift auf dem »Tower Com- mission Report«, dem Gutachten einer Präsidentenkommission über den Iran-Contra-Skandal, in dem amerikanische Exekutivbehörden TOW-Missiles an den Iran lieferten. L: Bartels 148; Büchmann 343; Macrone 157.1: luv. 6,346-348: »«Audio, quid vetergs olim moneatis amici: / >po_ne seram, cohibej* sed quis custQdiet ipsos / custodgs? cauta gst et ab illis incipit yxor.« S: Engl. »Who watches the watchers?«, »Who shall guard the guardians?« von Kopf bis Fuss völlig, als ganze Person; seltener: von oben bis unten (z. B. sich von Kopf bis Fuß mit Honig bekleckern); vgl.: vom Scheitel bis zur Sohle. Der lateinischer Vorläufer dieser Wendung lautet »von den Haaren bis zu den Zehnägeln« (lat.: »a capillis usque ad un- gues«) und begegnet beispielsweise bei Petronius, wo Freunde erwägen, sich mit Tinte »von Kopf bis Fuß« als schwarzhäutige Sklaven zu tarnen.1 Auch Varianten wie »vom Rand der Zehnägel bis zum Scheitel« (Cicero), »vom Scheitel bis zum Fußende« (Hieronymus) oder »von der Fußsohle bis zum Scheitel« (Pli- nius d. Ä.) sind belegt.2 Bei den Kirchenvätern Hieronymus, Augustinus und Ambrosius findet man sogar schon »von den Füßen bis zum Kopf« (»a pedibus usque ad caput«).3 Die alliterierende lateinische Form »a capite (usque) ad calcem« (»vom Kopf bis zur Ferse«) ist jedoch nicht antik. Die deutsche Wendung wurde vor allem durch das von Marlene Dietrich im Film »Der blaue Engel« (1930) gesungene Chanson bekannt: »Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt, und das ist meine Welt, und sonst gar nichts!«4 L: Böttcher 629 (Nr. 4089); Duden 11,408 und 12,235; Mletzko 38. 67. 102.111; Otto 355-356 (Nr. 1822). 1: Petron. 102,13; weitere Beispiele: Plaut. Epid. 623; Apul. met. 3,21; Er. ad. 1,2,37. 2: Cic. Rose. 7,20; Hieron. PL 30,432; Plin. nat. 7,77. Weitere Stellen und griechische Vorläufer nennt Otto 355-356 (Nr. 1822). 3: S. Krebs-Schmalz, An- tibarbarus II p. 268 nach Otto 356 (Nr. 1822). 4: Regie Josef von Sternberg, Drehbuch Carl Zuckmayer, Liedtexte Friedrich Hollaender. 103
Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus Gleichartige oder Gleichgesinnte schaden einander nicht. Krähen können sehr scharf sehen und sind äußerst vorsichtig, weshalb es großer Schlauheit bedarf, sie zu täuschen. Wohl deshalb gab es bei den Römern für »überaus schlau sein, alle betrügen« die Redensart »den Krähen die Augen aushacken« (lat.: »comicum oculos configere«); z.B. sagt Cicero in einer Rede: »Man fand einen Schreiber, Gnaeus Flavius, der die Augen von Krähen aushacken konnte...«1 Um 400 n. Chr. verwendet der Philologe Macrobius in seinen »Saturnalia«, in denen er alte Bildungsgüter wiederbeleben möchte, für einen Streit unter Gelehrten den Vergleich, »wie wenn eine Krähe einer Krähe die Augen aushackte«.2 Daraus läßt sich vermuten, daß es zu dieser Zeit bereits den Gedanken gab, eine Krähe solle üblicherweise einer anderen nicht die Augen aushacken. Entsprechend heißt es in der »Geschichte der Franken« des Gregor von Tours (um 540-594): »An dir erfüllt sich das Sprichwort, daß ein Rabe dem andern das Auge nicht aushackt.«3 Eine mittelalterliche Variante lautete später: »Ein Geistlicher belegt einen Geistlichen nicht mit dem Zehnten« (»Clericus clericum non decimat«).4 Heute bringt jemand mit dem Sprichwort zum Ausdruck, daß er sich mit einem Gleichgestellten lieber vertragen als bekriegen möchte. Daß es sich dabei meistens - entsprechend dem schlechten Ruf von Krähen - um ein »Gentlemen Agreement« unter Ganoven handelt, wird auch in einer scherzhaften Abwandlung von Werner Ehrenforth deutlich: »Eine Krähe hackt der anderen nicht die Augen aus, sagte der Fabrikbesitzer und schluckte seinen Konkurrenten unversehrt.«5 L: Böttcher 89 (Nr. 51 7); Mletzko 13. 67; Otto 93 (Nr. 435-436). 1: Cic. Mur. 11,25: »Inventus est scriba quidam, Cn. Flavius, qui comicum oculos confixerit...« Weitere Belege in diesem Sinne bei Otto 93 (Nr. 435) und Er. ad. 1,3,75. 2: Macr. Sat. 7,5,2: »... tamquam cornix cornici oculos effodiat (zitiert: Cornix cornici numquam oculos effodiat.)« 3: Historiarum Francorum libri 5,18, p. 211 Kr: »Impletur in te proverbium illud, quod corvus oculum corvi non eruit.« 4: Bonifaz VIII., Dekretalen nach Mletzko 67. 5: Mieder, AntiSprichwörter 74 mit Beleg. 104
den Krebsgang gehen rückwärts gehen, Rückschritte machen, sich verschlechtern (auch: den Krebsgang nehmen). Die Beweglichkeit des Krebses führte in der Antike zu der sprichwörtlichen Vorstellung, daß dieser üblicherweise nicht geradeaus laufe. In einer Komödie des Dichters Plautus (um 200 v. Chr.) sagt der listige Sklave Pseudolus über den Kuppler und Sklavenhändler Ballio, der sich vor seinem Haus mitten im Gespräch kurz rückwärts dem Eingang zuwendet, um einen Blick auf die Vorgänge im Haus zu werfen: »Er geht schräg, nicht geradeaus - wie es der Krebs tut.«1 Ein Satz an anderer Stelle beschreibt aber auch schon, wie heute die deutsche Wendung, einen Rückwärtsgang: »Zurück zur Wand werde ich gehen, den Krebs nachahmen.«2 Die deutsche Redensart ist schon im Mittelalter geläufig, zuerst in Volksliedern und dann besonders bei Luther3 sehr häufig. L: Borchardt-Wustmann-Schoppe 283 mit Abb. S. 282; Duden 11,415; Otto 68 (Nr. 314). 1: Plaut. Pseud. 955: »(Mluc sjs videj / ut transversus, non proversus cedit, quasi Cancer solet). 2: Plaut. Cas. 443: »recessim cedam ad parietem, imitabor nepam.« 3: »Das geht denn sehr fein für sich, wie der Krebsgang.« Weitere deutsche Belege bei Borchardt-Wustmann-Schoppe 283. jemandes Kreise stören jemanden belästigen; v. a.: Störe meine Kreise nicht! (lat: »nQli turbare circulos meos«; auch: Störe meine Zirkel nicht!) meine theoretischen Überlegungen haben Vorrang vor jeder aktuellen Notwendigkeit; oder einfach: Laß mich in Ruhe! Die Worte »Störe meine Kreise nicht!« soll der griechische Mathematiker und Konstrukteur Archimedes während der römischen Eroberung seiner Heimatstadt Syrakus (212 v. Chr.) zu einem plündernden römischen Soldaten gesagt haben, als er gerade mit mathematischen Überlegungen über im Sand gezeichneten Kreisen beschäftigt war. Daraufhin wurde der Denker von dem erbosten Soldaten - gegen den ausdrücklichen Befehl des Feldherrn Marcus Claudius Marcellus - getötet.1 Die nicht zu störenden »Kreise« werden heute meistens allgemein für Beschäftigungen, Überlegungen oder Bereiche ver- 105
wendet, in die ein anderer nicht eindringen soll; gleichzeitig wird scherzhaft Desinteresse an jedem noch so dringlichen Anlaß zur Störung demonstriert. L: Bartels 115-116; Böttcher 49 (Nr. 210-211); Büchmann 365; Der neue Büchmann 440; Duden 11,416 und 12,444; Reichert 214. 1: Quelle ist Val. Max. 8,7 ext. 7: »Noli, obsecro, istum (circulum) disturbare.« Daraus entwickelte sich das geflügelte »Noli tur- bare circulos meos!« Plut. Marcellus 19,8ff. gibt drei Versionen vom Tod des Archime- des wieder, jedoch nicht die bei Val. Max. angeführte Äußerung. L Landesvater beliebter Regierungschef oder Monarch; dasselbe weiblich: Landesmutter. Nach der Niederschlagung der Catilinarischen Verschwörung (63 v. Chr.) feierten Senat und Volk den Redner und Konsul Cicero als »Parens patriae« (Vater [eig. »Gebärer«] des Vaterlandes), wie dieser selbst stolz feststellt.1 Dieselbe Ehrenbezeichnung wurde später Gaius Iulius Caesar verliehen.2 Davon wurde der Ehrentitel »pater patriae« (Vater des Vaterlandes) abgeleitet, der später Augustus am 5. Februar 2 v. Chr. von Senat, Ritterschaft und Volk übertragen wurde (vgl. -♦ pax Augusta).3 Der Titel wurde von den meisten römischen Kaisern übernommen. Auch die Bezeichnung »Landesmutter« geht auf die Antike zurück: Tacitus berichtet über den Regierungsantritt des Tiberius (14 n. Chr.): »Auch gegenüber Augusta gab es viel Schmeichelei der Senatoren: Einige meinten, sie solle >Parens patriae< [s.o.], andere, sie solle Mutter des Vaterlandes< genannt werden, die meisten, daß dem Namen des Caesar [d.h. des Tiberius] >Sohn der Iulia< [d.h. der Livia Iulia Augusta] hinzugefügt werden solle.«4 In der Renaissance erhielt in Wiederaufnahme dieser Tradi- 106
tion Cosimo Medici (1434-1464 Herrscher von Florenz und Begründer seiner Dynastie) von seinen Anhängern den Beinamen »Vater des Vaterlandes«. Der Florentiner Lorenzo Ghiberti nennt ihn in der »Chronik seiner Vaterstadt« auch »Hirt des Volkes, der Hort der Künste und Wissenschaften«.5 Doch bereits Francesco Petrarca schrieb in seinen »Epistulae seniles« (Nr. 14) am 28. 11. 1373 an Francesco di Carrara: »Du mußt nicht Herr deiner Bürger, sondern Vater des Vaterlandes sein und jene wie deine Kinder lieben.«6 L: Bartels 1 32; Böttcher 61 (Nr. 300) und 1 79 (Nr. 1090); Büchmann 344. 1: Cic. Pis. 3,6. 2: Liv. Periochae 116. 3: Mon. Anc. 35; Suet. Aug. 58. 4: Tac. Ann. 1,14,1: »Multa patrum et in Augustam adulatio: alii parentem, alii matrem patriae appellandam, pleri- que ut nomini Caesaris adscriberetur >luliae filius< censebant.« 5: Übers, von A. Hagen, Leipzig 1833, Kap. 4,86. 6: Jacob Burckhardt, »Die Kultur der Renaissance in Italien« (1860), 14. Aufl. Leipzig 1925, S. 8f. Lebenslauf Gesamtheit der Stationen eines Lebens. Der Begriff des »Lebenslauf« (lat.: »curriculum vitae«, »Lauf des Lebens«) wurde erstmals von Cicero verwendet: »Die Natur hat uns einen winzigen Lauf des Lebens skizziert, aber einen unermeßlichen des Ruhms.«1 - Die Lebensspanne des Menschen ist sehr klein, während er ewig währenden Ruhm zu erreichen in der Lage ist. Im Deutschen wurde unter »Lebenslauf« zunächst der Lebens»ablauf« oder -»verlauf« verstanden: August Mahlmann (1771-1826) dichtete zum Beispiel in seinem nach einer Volksweise gesungenen »Weinlied«: »Mein Lebenslauf ist Lieb' und Lust / Und lauter Liederklang ...«2 Erst seit dem 20. Jh. bezeichnet der Lebenslauf die gesammelten Stationen eines Lebens, die zumeist schriftlich zusammengestellt und z. B. bei einer Bewerbung vorgelegt werden. L: Bartels 198; Böttcher 407 (Nr. 2660); Büchmann 315; Mletzko 71.1: Cic. Rab. 10,30: »Etenim, Quirites, exiguum nobis vitae curriculum natura circumscripsit, immensum gloriae.« 2: Erschienen 1803, gedr. 1808, später unter dem Titel »Das Reich der Freude«, Str. 1,V. 1. S: Engl.: »Curriculum Vitae«, häufig abgekürzt als »CV«. KEINE (CROSSE) LEUCHTE SEIN in einem Wissensgebiet nicht sehr kundig sein, etwas beschränkt sein; sein Licht leuchten lassen: sein Können oder Wissen zeigen. 107
Das Licht oder die Leuchte steht hier für die geistige Ausstrahlung oder Fähigkeit eines Menschen. Schon bei den Römern bezeichnete der Wissenschaftler Plinius d. Ä. (23-79 n. Chr.) den Schriftsteller und Politiker Cicero als eine »zweite Leuchte der Wissenschaft«, d.h. als zweitgrößten Denker nach dem alle überragenden Dichter Homer.1 Größere Wirkung hat das Bild jedoch durch das neutesta- mentliche Wort »Ihr seid das Licht der Welt« (Mt. 5,14; lat.: »vos estis lux mundi«) entfaltet, mit dem allerdings ursprünglich mehr eine Ausstrahlung des Glaubens als des Intellekts gemeint ist. In Anlehnung an dieses Wort haben sich die Ehrenbezeichnungen »lumen mundi« (»Licht der Welt«) für einen klugen Menschen, »lumen ecclesiae« (»Licht der Kirche«) für den Kirchenvater Augustinus sowie das »Kirchenlicht« zuerst für Luther (vgl: »er ist kein großes Kirchenlicht« in der Bedeutung: Er ist nicht besonders helle) und andere Wittenberger Theologen entwickelt.2 Die Aufforderung, »sein Licht leuchten zu lassen« dürfte sich auch an Matth. 5,15 (»Man soll sein Licht nicht unter den Scheffel stellen«) anlehnen. L: Böttcher 84 (Nr. 487) und 134 (Nr. 807-809); Büchmann 339; Duden 11,451.1: Plin. nat. 17,5,38: »lux doctrinarum altera.« 2: Böttcher 134 (Nr. 807-808). Liebe überwindet alles Mit Liebe ist alles möglich. Bisweilen als Trost über unangenehme Arbeit: Lust und Liebe zum Dinge macht alle Arbeit geringe. In seiner zehnten und letzten Ekloge singt Vergil über die unglückliche Liebe seines Freundes Gallus, des Schöpfers der lateinischen Liebeselegie, den er dazu in eine arkadische Hirtenlandschaft versetzt. Dort fordert der Gott Pan Gallus auf, über den Verlust seiner untreuen Geliebten Lycoris nicht länger zu jammern, denn: »Um solches kümmert sich Amor nicht.« Schließlich sieht Gallus die Vergeblichkeit seines Klagens ein und resümiert: »Amor besiegt alles; und ich will mich Amor geschlagen geben.«1 Der launische Liebesgott vereitelt unbe- zwinglich all unsere Versuche, eine verlorene Liebe wiederzugewinnen. Entsprechend bedeutet engl. »Love conquers all« noch heute im vergilischen Sinne »Gib es auf!« Im Deutschen hat das geflügelte Wort »Liebe überwindet al- 108
les« jedoch einen viel positiveren Sinn angenommen, da man es aus dem Kontext löste und nicht mehr an den Liebesgott Amor als vielmehr an die eigene Liebe dachte: Wenn man seinem Herzen folge, könne diese Liebe alle Hindernisse überwinden (vgl. »Liebe verleiht Flügel«). Dazu mag beigetragen haben, daß die antiken Autoren die eigene Liebe des Menschen als kraftspendend und hilfreich zur Bewältigung mühsamster Aufgaben charakterisierten, wie z. B. Cicero: »Nichts ist, glaube ich, schwierig für den, der es liebt.«2 L: Bartels 128; Böttcher 69 (Nr. 363); Büchmann 320; Duden 12,378; Macrone 140; Otto 1 7 (Nr. 74). 1: Verg. ecl. 10,69: »Qmnia vincit Amo_r; et no_s cedamus Amo_ri.« Vgl. Verg. Cir. 437. Nach Macrob. sat. 5,16,7 gehörte das Wort zu denen, die »vice prover- biorum in omnium ore funguntur«, also als Sprichwort in aller Munde seien (-> in aller Munde). 2: Cic. or. 10,33: »Nihil difficile amanti puto.« Vgl. Plin. ep. 4,19,4; Hieron. ep. 22,40 (PL 30,344). B: Einige deutsche Lieder enthalten den Anfang oder den Kehrreim »Amor vincit omnia«; Lit. dazu nennt Büchmann 320. S: Engl. »Love conquers all«. (immer) das alte Lied / die alte Leier Dinge, die so oft erzählt wurden, daß sie keine Aufmerksamkeit mehr beanspruchen können (z. B. das alte Lied singen/anstimmen; auch: dasselbe / das gleiche Lied); auch: eine unangenehme, stets wiederkehrende Sache. Diese Wendung ist darin begründet, daß das Lied, vor allem das Heldenlied (Epos), eine uralte Form ist, Ereignisse mitzuteilen (vgl.: Davon kann ich ein Lied[chen] singen); umgekehrt erinnern häufig wiederholte Worte in gewisser Weise an ein Lied mit gleichbleibendem Refrain. Redensartlich für »abgedroschenes Gerede« findet sich das »alte Lied« schon mehrfach bei den Römern. Beispielsweise sagt in einer Komödie des Terenz (2. Jh. v. Chr.) der Kuppler Dorio zu einem Schuldner, der ihn andauernd vertrösten will: »Du singst immer dasselbe Lied.« Auch Cicero schreibt in einem Brief an seinen Freund Atticus am 15. März 60 v. Chr., daß ihm ein gewisser Epicharmus stets »seine übliche Leier« ins Ohr flüstere: »Immer nüchtern! Glaub' nicht alles! Das ist der Weisheit A und O.« L: Duden 11,455; Otto 73 (Nr. 338) und 106 (Nr. 501). 1: Ter. Phorm. 495: »...Canti- Ignam eandgm canis.« Im eigentlichen Sinne dagegen bei Apul. flor. 12. 2: Cic. Att. 1,19,8: »ut crebro mihi ... insusurret cantilenam illam suam...« Vgl. ferner: Cic. Att. 13,34; Sen. ep. 24,6; Macrob. 5,2,6. 109
von Luft und Liebe leben mit dem Geringsten auskommen können; oft negativ: mit sehr wenigem auskommen müssen. Als Sprichwort: Von Luft und Liebe kann man nicht leben. In der Gesetzessammlung des Kaisers Iustinian (527-565) heißt es, man solle es nicht tolerieren, wenn ein junger Mann den geringsten Aufwand für sein Leben verschmähe, »wie wenn er von der Luft lebte«.1 Das Motiv knüpft vielleicht an den Glauben an, daß sich Zikaden allein von Tau oder von Luft ernährten.2 Im Deutschen ist alliterierend die »Liebe« hinzugetreten, womöglich weil sie Verliebte dazu verführt, sich über die materiellen Lebensgrundlagen weniger Gedanken zu machen als z.B. ihre Eltern. L: Otto 365 (Nr. 1865). 1: Cod. lust. 5,20,2 nach Otto 365 (Nr. 1865). 2: Otto 365 (Nr. 1865) mit Belegen. Luftschlösser bauen überzogene Erwartungen hegen, unrealistische Pläne schmieden. Das Motiv eines Bauwerks in den Lüften stammt aus der Komödie »Die Vögel« des Dichters Aristophanes, in der die Vögel in den Lüften eine große Stadt, das im Deutschen sprichwörtlich gewordene »Wolkenkuckucksheim« (Ne^eXoKOKKuyia),1 gründen; schließlich scheitert das Unternehmen daran, daß auch dort schädliche Charaktere, denen man zu entkommen hoffte, auftauchen. In Anspielung auf diese Geschichte formulierte der Kirchenvater Augustinus in seinen Predigten: »..., damit wir nicht den Eindruck machen, ohne Grundlage in der Luft zu bauen [lat.: >in aere aedificare<].«2 Die »Schlösser« in der deutschen Entsprechung gehen auf die französische Wendung »chäteaux en Espagne« zurück; sie stammt wahrscheinlich aus der Zeit, als Schlösser im maurisch beherrschten Spanien für einen Franzosen völlig wertlos waren.3 »Ein Schloß in den Lufft bawen« ist bei Sebastian Franck (1541), das »Luftschloß« seit dem 17. Jh. belegt. Darüber hinaus erscheint die Luft als Sinnbild des Vergeblichen in einer Fülle weiterer deutscher Redensarten (in der Luft fi- 110
sehen/ackern, den Nebel balgen, die Winde schiffen, gegen den Wind kämpfen u. ä.). Für die Schlußarie seiner Operette »Frau Luna« (1899) hat Paul Lincke das Bild der Luftschlösser leicht abgewandelt: »Schlösser, die im Monde liegen, / Sind wohl herrlich, lieber Schatz, / Doch um sich im Glück zu wiegen, / baut das Herz den schönsten Platz.« Auf die - bei aller Windigkeit - Festigkeit von Luftschlössern wies Werner Ehrenforth hin: »Es ist leicht, Luftschlösser zu bauen: schwierig ist es, sie wieder abzureißen.«4 L: Borchardt-Wustmann-Schoppe 317; Böttcher 88 (Nr. 514) und 562 (Nr. 3705); Büchmann 348; Duden 11,464 und 12,413; Mletzko 77; Otto 6 (Nr. 26-28). 1: Ari- stoph. Av. 819 und öfter. 2: Augustin. PL 38,67: »...ne subtracto fundamento in aere aedificare videamur; vgl. PL 38,30: »... ne subtracto fundamento rei gestae quasi in aere quaeratis aedificare.« 3: Frühester Beleg: Guillaume de Lorris / Jean de Meung, Roman de la Rose (13. Jh.). Andere Erklärungen bei J. Moisant de Brieux, Origines de quelques coutumes anciennes, publ. p. E. de Beaurepaire, Caen 1874,1,142 ff. 4: Mieder, Anti- sprichwörter 85 mit Beleg. S: Engl.: »To build Castles in the air« (seit dem 16. Jh.); frz.: »bätir des chäteaux en Espagne« (Schlösser in Spanien bauen). Lukullus kulinarischer Genießer, Feinschmecker; lukullisch: üppig und delikatessenreich. Der römische Feldherr und Politiker Lucius Licinius Lucullus (117-56 v. Chr.) begann seine Karriere 87 v. Chr. als Quästor unter Sulla, für den er eine Flotte organisierte. In den folgenden Jahren führte er unter Sulla und später selbst als Oberbefehlshaber in Kleinasien Krieg gegen Mithridates, bis er nach Mißerfolgen durch Pompeius abgelöst wurde. Nach 59 v. Chr. zog er sich aus dem politischen Leben zurück und starb 56 in geistiger Umnachtung. Nach Crassus der reichste Römer seiner Zeit, pflegte er einen äußerst aufwendigen Lebensstil. In seinem Palast gab es zwölf nach verschiedenen Gottheiten benannte Speiseräume, in denen je nach Gottheit auf unterschiedliche Weise gegessen wurde. Zudem besaß er Villen, Bibliotheken und die von ihm angelegten »Horti Luculliani« (»Gärten des Lukullus«) auf dem Monte Pincio. Auf seinen Obstanlagen kultivierte er auch die Süßkirsche, die er als erster in Europa heimisch machte. Bertolt Brecht schrieb 1939 für die Hörspielabteilung des schwedischen Rundfunks »Das Verhör des Lukullus«. Die »Zwölf Szenen« wurden später umgearbeitet, von Paul Dessau 111
vertont und 1951 in Berlin als »Die Verurteilung des Lukullus« uraufgeführt. Dort muß sich der erfolgreiche Feldherr vor einem Totengericht für die Untaten auf seinen Feldzügen verantworten. Als einzige gute Tat wird ihm die Verpflanzung des Kirschbaums angerechnet, doch kann das seine Verurteilung nicht verhindern, die mit folgenden Worten ausgesprochen wird: »Im Rock des Räubers / In des Mordbrenners Beutezug / Sind wir gefallen / Die Söhne des Volks... / Hätten wir doch / uns den Verteidigern gesellt! / Ins Nichts mit ihm!« L: Böttcher 66-67 (Nr. 345); Büchmann 368; Rössing 188-189. M Mäzen Kunstförderer, Geldgeber. Mäzenatentum: Kunstförderung durch private Gönner. Gaius Cilnius Maecenas (um 70-8 v. Chr.), ein Römer etruski- scher Herkunft, war ein Freund des Octavian, des späteren Kaisers Augustus; für ihn war er seit 40 in diplomatischen Missionen und ab 36 als Stadtpräfekt von Rom tätig. Auf dem Esquilin ließ er sich einen großzügigen Garten anlegen und einen prachtvollen Palast erbauen. Sein Haus wurde geistiger Mittelpunkt Roms: Maecenas, der auch selbst Gedichte schrieb, förderte durch seine Anerkennung und durch materielle Zuwendungen Vergil, Properz, Horaz und andere junge Autoren. Horaz, dem er 33 ein Landgut in den Sabinerbergen schenkte (das »Sabinum«), widmete seinem Gönner eine Reihe von Gedichten. Der Epigrammatiker Martial schrieb ein Jahrhundert später zu einem Freund: »Wenn es nur Mäzene gibt, Flaccus, werden Vergile nicht fehlen.«1 112
Heute ist »Mäzenatentum« nicht auf den Bereich der Literatur beschränkt, sondern in allen Bereichen der Kunst (vgl. -♦ brotlose Kunst) gern gesehen. L: Bartels 167-168; Böttcher 69 (Nr. 362); Büchmann 324-325. 342; Reichert 191; Rös- sing 176-179.1: Martial 8,56,5: »Sint Maecgnatgs, non dgerunt, Flacce, Marcmes.« WIE EINE GEBADETE MAUS ganz durchnäßt, von Wasser triefend; auch übertragen: zurechtgestaucht, in unangenehmer Lage, hilflos (in diesem Sinne häufiger: wie ein begossener Pudel, pudelnaß, naß wie Pudel; auch: naß wie gebadete Katzen). Das Bild der Maus benutzt schon der römische Schriftsteller Pe- tronius in seinem Roman »Satyrica«, wo ein Gast bei einem Gelage erzählt, daß früher die Menschen noch reinen Herzens die Götter um Regen gebeten hätten; sogleich habe es dann aus Gießkannen geregnet, »und alle kamen naß wie die Mäuse heim«.1 Der Vergleich mit Mäusen könnte darauf zurückgehen, daß gefangene Mäuse gewöhnlich durch Ersäufen getötet wurden. Ebenfalls bei Petronius findet man die lateinische Redensart »wie eine Maus im Nachttopf« für jemanden, der in arger Verlegenheit steckt.2 In einem Soldatenlied von 1693 jammert ein Türke: »Ich gedachte das Spiel viel anders zu karten; jetzt sitz ich wie eine ge- battene Maus.«3 Hans Sachs dichtete über einen Bayern, der in die Donau gefallen ist und an Land schwimmt: »Stig auch an dem gestate aus / triff nasser wie ain taufte maus.«4 L: Borchardt-Wustmann-Schoppe 329-330; Otto 233 (Nr. 1166-1167). 1: Petron. 44,18: »Et omnes redibant udi tamquam mures.« 2: Petron. 58,9: »Du rennst, du stierst, du zappelst, wie die Maus im Nachttopf« (»curris, stupes, satagis tamquam mus in matella«). 3: Borchardt-Wustmann-Schoppe 330. 4: Borchardt-Wustmann-Schoppe 330. auf des Meisters Worte schwören sich an das Gelernte und die Autorität des Lehrers klammern, jemandes Meinung kritiklos übernehmen; auch: auf die Worte des Meisters schwören. Im Einleitungsbrief seiner dem Maecenas (-♦ Mäzen) gewidmeten Briefsammlung erklärt der Dichter Horaz, daß er sich darin 113
von der Lyrik abwenden und ethischen Fragen zuwenden wolle. Er werde sich dabei an keine Philosophenschule anlehnen, sondern stets seinen ganz eigenen Standpunkt vertreten: »Und damit du nicht erst fragst, bei welchem Führer, in welcher Heimstatt ich mich berge: / Keinem hab ich mich ergeben, auf des Meisters Worte zu schwören.«1 Im Deutschen bekannt und beliebt wurde die Wendung durch Goethe, der im »Faust« Mephisto zum Schüler sagen läßt: »Am besten ist's auch hier, wenn ihr nur einen hört, / Und auf des Meisters Worte schwört.«2 L: Bartels 96; Büchmann 116. 329; Duden 12,269. 1: Hör. ep. 1,1,14: »Ac ne fQrte ro- ggs, quo mg duce, quo. lare tuter: / nullius addictys iura/e in ve/ba magistri...« (Übers. B. Kytzler). 2: Faust I, Studierzimmer. DIE GOLDENE MlTTE der richtige und vernünftige Mittelweg; auch: der goldene Mittelweg, * die goldene Mittelstraße. »Nichts im Übermaß« (lat.: »ne quid nimis«) lautete eine bekannte griechische Empfehlung zum Maßhalten in jeder Hinsicht.1 Die Beschreibung und Hochschätzung des Mittelmaßes als des Angemessenen zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig geht auf den griechischen Philosophen Aristoteles zurück.2 In dieser Bedeutung definierte auch der Römer Cicero die Mitte als einen Zustand, der »zwischen zu viel und zu wenig liegt«.3 Auch Ovid lobte sie in seinen »Metamorphosen«.4 Als »golden« bezeichnete sie allerdings allein der Dichter Horaz (65-8 v. Chr.): »Wer das goldene Mittelmaß / schätzt, meidet sicher der verfallenen / Hütte Schmutz, meidet die neiderweckende / Halle unbeirrt«,5 d.h. er ist sicher vor Armut wie vor beneidetem Reichtum. »Mediocritas«, das Mittelmaß, ist wie im Deutschen eigentlich negativ besetzt, doch wird es von Horaz, da es Sicherheit bietet, positiv umgedeutet; »golden« steht bei ihm wie bei anderen Dichtern für »großartig« oder »schön«. Die »goldene Mitte« wurde zunächst in England von William Baldwin übernommen, der 1587 in einer Arbeit über den Fall ehrgeiziger Prinzen schrieb: »The golden mean is best.«6 In Deutschland wurde das Motiv dann als »goldene Mitte« oder 114
»goldener Mittelweg« gängig. Kritisch hingegen wird es in folgendem Aphorismus von Hellmut Walters betrachtet: »Die meisten Menschen bewegen sich auf dem goldenen Mittelweg und wundern sich, wenn er verstopft ist.«7 L: Bartels 44-45; Böttcher 72 (Nr. 392-393); Büchmann 326. 334-335; Duden 11,489 und 12,195; Macrone 145; Mletzko 48. 83; Otto 216 (Nr. 1078). 1: Vgl. dazu ausführlich Bartels 21.110. 2: Belegstellen nennt Bartels 45; griechische Belege zur Hochschätzung der Mittte (ohne »golden«) finden sich bei Büchmann 334-335. 3: Cic. off. 1,25,89: »...quae est inter nimium et parum.« 4: Ov. met. 2,137. 5: Hor. c. 2,10,5-8: »Auream quisquis mediQcritatem / diligit, tutys caret Qbsolgti / sg/dibys tecti, caret in- vidgnda / sg.brius ajjla.« 6: Macrone 145. 7: Mieder, Phrasen 240 mit Beleg. JEMANDEN MORES LEHREN jemandem Sitte, Lebensart, Manieren beibringen, jemanden zurechtweisen (z. B.: Ich will/werde dich Mores lehren); * Mores vor etwas haben: Angst haben. Die Redensart stammt aus den Lateinschulen des Mittelalters, wo auf Sitten (lat.: »mores«, Sg. »mos«) hoher Wert gelegt wurde. Im Deutschen ist »Mores« seit dem 15. Jh. belegt, z.B. in der Verbindung »weder Zucht noch mores«. Die volkstümlich gewordene Wendung »jemanden Mores lehren« ist seit dem Humanismus häufig bezeugt und wahrscheinlich von Gelehrten oder Studenten geprägt worden; umgangssprachlich wurde sie auch scherzhaft umgestaltet zu »jemanden Moritz lehren«.1 In der Redensart »Mores vor etwas haben« ist lat. »mores« mit hebr. »morah« (Furcht; vgl. beim Kartenspiel »mauern«: zurückhaltend spielen) gekreuzt.2 L: Bartels 203; Borchardt-Wustmann-Schoppe 335-336; Duden 11,493. 1: Beispielsweise 1779 bei Jung-Stilling. 2: Borchardt-Wustmann-Schoppe 336. in aller Munde sein sehr bekannt sein, allgemein im Gespräch sein; vgl. (wie) mit einem Munde: übereinstimmend, in völliger Einigkeit. Die Wendung »mit einem Munde« (d.h. einstimmig) war bei griechischen und lateinischen Autoren sehr geläufig.1 Lateinisch gab es klassisch auch »in jemandes Munde sein« (»in ore esse«) und »etwas im Munde führen« (»in ore habere«).2 »In aller Munde« (»in omnium ore«) für »allgemein bekannt« erscheint ab dem 4. Jh. bei dem Vergilkommentator Servius und 115
bei dem Politiker und Philologen Macrobius.3 Im Deutschen hat sie dieselbe Bedeutung; durch Spiel mit den Sinnebenen wird sie gelegentlich scherzhaft (»Die Torte war in aller Munde«), manchmal aber auch hintergründig verwendet, wie etwa von Hans Kasper: »Was in aller Munde ist, ist kaum noch jemandes Gedanke.«4 L: Duden 11,496-497; Mletzko 6. 84; Otto 258 (Nr. 1313). 1: Beispielsweise Cic. de amic. 23,86: »Sie stimmen in allem mit einem Munde überein« (»omnes uno ore con- sentiunt«). Viele weitere Beispiele nennt Otto 258 (Nr. 1313). 2: Belege bei Fritsch 226. 3: Serv. Aen. 3,3,3 u. ö.; Macrob. sat. 5,16,7. 4: Mieder, Phrasen 246 mit Beleg. MÜSSICCANC IST ALLER LASTER ANFANG Untätigkeit ist schlimm und zieht weitere Probleme nach sich. Auch: Müßiggang lehrt viel Böses, Nichtstun lehrt Übles tun. Geschäftiger Müßiggang / geschäftiges Nichtstun: Geschäftigkeit, die nichts zustande bringt. Nach Columella soll der Politiker und Schriftsteller Cato der Ältere (234-149 v. Chr.) gesagt haben: »Durch Nichtstun lernen die Menschen schlecht zu handeln.«1 Auch in der ihm zugeschriebenen spätantiken Spruchsammlung der »Disticha Cato- nis« heißt es: »Andauernde Ruhe gibt den Fehlern Nahrung.«2 Der Gedanke ist jedoch älter und erscheint in ähnlicher Form auch in einem Fragment des Sophokles.3 Daß auch sinnlose Geschäftigkeit, die nichts zustande bringt, eine Art von Müßiggang ist, formulierte zuerst der Dichter Horaz, nach dem Glück und Ausgeglichenheit nicht durch ausgiebiges Reisen zu erreichen sind: »Regsames Nichtstun treibt uns umher: Mit Schiffen und Viergespannen streben wir nach gutem Leben.«4 Neben anderen Autoren5 widmete sich auch Phaedrus in einer Fabel dem Phänomen: »In Rom lebt eine Art von Pflastertretern, / eilig laufend, in Muße beschäftigt, / vergeblich keuchend und im Vieltun gar nichts tuend, / Sich selbst beschwerlich und andern sehr verhaßt.«6 In Deutschland verbreitete Johann Elias Schlegel den Begriff durch sein Lustspiel »Der geschäftige Müßiggänger«.7 Goethe verstand den Begriff allerdings positiver und sagte: »Schreiben ist geschäftiger Müßiggang.«8 Auch das obige Sprichwort hat positive Umwandlungen erfahren, wie durch Albert Keller: »Müßiggang ist aller Künste Anfang.«9 116
L: Böttcher 74 (Nr. 410-411); Büchmann 330-331; Duden 11,499; Mletzko 8. 70. 84; Otto 9 (Nr. 41). 1: Colum. 11,1,26: »Nam illud verum est M. Catonis oraculum« (»Denn wahr ist jener Ausspruch des M. Cato«): »Nihil agendo homines male agere dis- cunt.« 2: Cato dist. 1,2: »Nam diuturna quies vitiis alimenta ministrat.« 3: Soph. fr. 287N.: »Denn planlose Muße gebiert nichts Gutes« (tiictei Y&p ov>8ev eaGköv eiicaia axokr\). 4: Hor. ep. 1,11,28-29: »strgnua ngs exe/cet ingrtia: navibus atque / quadrigis petimus bene vjvere. 5: Sen. tr. an. 12 (»inquieta inertia«); brev. vit. 10,12,2; 12,5 (»de- sidiosa occupatio«); vgl. ähnlich schon Aristoph. Ran. 1498 (SiaTpißfj dpyoq). 6: Phaedrus 2,5,2: »... occupata in otio...« 7: Gottscheds »Deutsche Schaubühne« Bd. 4, Leipzig 1 743. 8: Urgötz sowie Götz von Berlichingen 4,5. 9: Mieder, AntiSprichwörter 96 mit Beleg. ETWAS MIT DER MUTTERMILCH EINGESAUGT/ EINGESOGEN HABEN etwas so sehr verinnerlicht haben, als hätte man es schon immer gewußt oder gekonnt. Vor der »Muttermilch« kam bei den Römern die »Ammenmilch«: Cicero schreibt in den »Tuskulanischen Gesprächen«, daß die Menschen, sobald sie das Licht der Welt erblickt hätten, die Fehlbarkeit »beinahe mit der Milch der Amme eingesaugt zu haben scheinen«.1 Sie haben sie demnach von Geburt an verinnerlicht und können sie daher auch nur sehr schwer wieder loswerden. Dasselbe Bild verwendete unter Einführung der Mutter der Kirchenvater Augustinus (354-430). Da seine Mutter eine Christin war, konnte er sagen: »Den Namen des Heilands hatte mein Herz bereits in der Milch meiner Mutter vorausgetrunken.«2 Während im Humanismus lateinisch noch die Fassung »mit der Ammenmilch« gängig war,3 ist im Deutschen die »Muttermilch« aufgenommen worden und sprichwörtlich geworden. L: Böttcher 88 (Nr. 513); Büchmann 349; Duden 11,500 und 12,336; Otto 183 (Nr. 900). 1: Cic. Tusc. 3,2: »...ut paene cum lacte nutricis errorem suxisse videamur.« Vgl. Prudent. c. Symmach. 1,201: »puerorum infantia primo Errorem cum lacte bibit.« Vgl. Quint. inst. 1,1,21: »a lacte cunisque«. 2: Augustin. Conf. 3,4 (PL 32,686): »Nomen Salvatoris mei ... in ipso adhuc lacte matris cor meum praebiberat.« 3: Er. ad. 1,7,54. 117
N vor Neid platzen überaus neidisch sein. Die Redensart verdankt ihr Entstehen der von Phaedrus im frühen 1. Jh. erzählten Fabel »Der geplatzte Frosch und der Ochse« (»rana rupta et bos«);1 darin bläst sich ein Frosch vor Neid auf die Größe des Ochsen so lange auf, bis er platzt (-♦ ein aufgeblasener Frosch). »Vor Neid platzen« (»invidia rumpi«) wurde daher zur geläufigen Redensart.2 Ständig wiederaufgenommen wird sie in einem Gedicht des Epigrammatikers Mar- tial, der darin den Neid der Leute auf ihn beschreibt; es endet mit den Versen: »Platzen will [mancher] vor Neid, weil ich angenehm bin meinen Freunden, / weil ich ein häufiger Gast bin, will er platzen vor Neid. / Platzen will er vor Neid, weil ich geliebt bin und anerkannt: / Soll er doch platzen, wer auch immer da platzt vor Neid!«3 Jedoch war das Platzen auch damals nicht auf den Neid als Ursache beschränkt: Auch »vor Lachen« konnte man schon »zerspringen« (»risu dissilire«; vgl. dt.: »sich totlachen«).4 L: Böttcher 78 (Nr. 446); Otto 303 (Nr. 1558), vgl. 301 (Nr. 1544). 1: Phaedr. 1,24. 2: Verg. ed. 7,26; vgl. Prop. 1,8,27; Hör. s. 1,3,136; Calp. ecl. 6,80; griech.: Lukian. Tim. 4. 3: Martial. 9,97: »Rumpitur invidia, quod sum iucyndus amkis, / quod conviva freque/is, rumpitur invidia. / Rumpitur invidia, quod amamur quQdque probamur: / rympaty/, quisquis rumpitur invidia« 4: Zahlreiche Belege finden sich bei Otto 303 (Nr. 1558) und Tosi 770 (Nr. 1 725). aus dem Nichts emporkommen ganz klein anfangen und dann Karriere machen, sich von ganz unten emporarbeiten. Die lateinische Entsprechung zu dieser Wendung lautet »aus dem Nichts wachsen/entstehen« (»ex/de nihilo crescere/fieri«) und begegnet bei den Schriftstellern Petronius und luvenal; so sagt z.B. in Petronius' Roman »Satyrica« ein Gast über einen 118
reichen Mitfreigelassenen des Gastgebers: »Aus dem Nichts ist er emporgekommen!«1 Die Ausdrucksweise steht vielleicht in bewußt scherzhaftem Gegensatz zu dem auf Empedokles zurückgehenden philosophischen Grundsatz »Von nichts kommt nichts«, der in Rom durch den Epikureer Lukrez in der Form »De nihilo nihil« eingeführt worden war.2 Auch die deutsche Wendung »klein anfangen« (zuerst wenig besitzen; als Sprichwort: Jeder hat mal klein angefangen) hat einen antiken Vorläufer: Von dem Spruchdichter Publilius Syrus (1. Jh. v. Chr.) ist überliefert: »Ganz klein müssen die Anfänge von ganz Großem sein.« Und schließlich, nicht zu vergessen: -♦ »Aller Anfang ist schwer!« L: Otto 243 (Nr. 1228). 1: Petron. 38,7: »De nihilo crevit.« Ähnlich 43,1 (»ab asse cre- vit«). 71,12 (»ex parvo crevit«). luv. 5,133 (»quantus, ex nihilo quantus fieres«). 2: Lucr. 1,149-150. 205 u. 2,287; aufgegriffen von Pers. 3,83-84. 3: Publik Syr. N14: »Necesse est minima maximorum esse initia.« das süsse Nichtstun genußvolle Untätigkeit. In einem Brief an seinen Freund Ursus preist der römische Schriftsteller Plinius »jenes unproduktive, aber doch angenehme Nichtstun und Nichtssein« (lat.: »illud iners quidem, iucundum tarnen nil agere, nihil esse«).1 Daraus entstand im Italienischen die Redensart vom »il dolce far niente«, das neben der deutschen Übersetzung (»süßes Nichtstun«) auch im Original zitiert wird. L: Böttcher 85 (Nr. 492-493); Büchmann 344; Duden 12,246; Mletzko 88.118.1: Plin. ep. 8,9,1. Niet- und nagelfest sehr fest fixiert (z.B.: alles, was nicht niet- und nagelfest ist: alles Bewegliche), eigentlich »durch Nieten und Nägel befestigt«. In der Komödie »Asinaria« (»Eselsspiel«) des Dichters Plautus hat die Kupplerin Cleaereta dem jungen Athener Argyrippus, der ihre Tochter Philenion liebt, aber kein Geld mehr hat, ihr Haus und den Umgang mit dem Mädchen verboten. Sie sagt zu ihm: »Dein Herz ist mit Cupidos Nagel in unserm Haus fest an- 119
geheftet; greife nach den Rudern schnell und nach den Segeln, dann mach dich auf und davon...«1 Die Wendung »mit dem Nagel befestigt« (»clavo fixus«; »figere«: »anheften, befestigen«, vgl. »Fix«stern) begegnet auch bei anderen lateinischen Autoren; z. B. sagt der reiche Gastgeber Trimalchio bei Petron zu seiner Frau: »Du kennst mich: Was ich einmal beschlossen habe, ist mit einem Reißnagel befestigt«, d.h. unverrückbar.2 Im Deutschen ist das Bild im Zeitalter der industriellen Revolution um den Metallbolzen, den »Niet« (umgangssprachlich »Niete«), erweitert worden. L: Duden 11,517; Otto 85 (Nr. 395). 1: Plaut. Asin. 156-157: »Fixus hie apud nos gst animys tuys clavQ Cupidinjs. / rgmigig. velgque quantum pQteris fgstina et fugg.« 2: Petron. 75,7: »Nosti me: quod semel destinavi, clavo tabulari fixum est.« Ferner: Cic. Verr. 5,22,53; Arnob. adv. nat. 2,43. aus der Not eine Tugend machen aus einer Notlage das Beste machen, eine schlimme Lage geschickt ausnutzen; oft als Sprichwort: Man muß aus der Not eine Tugend machen. Die Redensart ist lateinisch als »de necessitate virtutem facere« zuerst bei dem Kirchenvater Hieronymus belegt. In einem Trostbrief an die gerade verwitwete Furia spricht er ihr zu, sich auf keine neue Bindung einzulassen: »Ergreife bitte die Gelegenheit und mache aus der Not eine Tugend!«1 Doch schon der Rhetoriklehrer Quintilian verwendete eine ähnliche Formulierung: »Wir wollen lieber aus dem Ende ein Heilmittel, aus der Not einen Trost machen.«2 Die englischen und französischen Fassungen (»to make a virtue of necessity« bzw. »faire de neces- site vertu«) nutzen die direkt aus dem Lateinischen hervorgegangenen Substantive. Die deutsche Fassung ist seit dem 16. Jh. nachzuweisen.3 Bisweilen wird sie erweitert oder ironisch abgewandelt, wie etwa von Gerhard Uhlenbruck: »Aus der Notlüge macht man heute eine Tugend.«4 L: Borchardt-Wustmann-Schoppe 355; Böttcher 87-88 (Nr. 507); Büchmann 348; Duden 11,519 und 12,60-61; Macrone 206; Mletzko 89. 124; Otto 241 (Nr. 1217); Wander 3,1050 (Noth 1 30). 1: Hieron. ep. 54,6 (PL 22,552): »Arripe, quaeso, occasio- nem et fac de necessitate virtutem.« Vgl. Hieron. in Rufin. 3,2 (PL 23,479): »Ich bin dir dankbar, daß du aus der Not eine Tugend machst« (»habeo gratiam, quod facis de necessitate virtutem«); man beachte die unterschiedlichen Nuancen: Bei der ersten Stelle ist die Wendung positiv als Rat, bei der zweiten leicht abwertend gemeint (du machst ja nur a. d. N. e. T.). In ersterem Sinne vgl. auch Hieron. Comment. Bern. 120
p. 138,2. 2: Quint. decl. 4,10: »Faciamus potius de fine remedium, de necessitate sola- tium.« 3: Zimmerische Chronik 3, S. 230: »Darumb mußten sie user der not eine tugent machen.« Ferner Fritz von Stolberg an F. H. jacobi (jacobis Briefwechsel Bd. 2, S. 151): »Sie hatten aus der Noth Tugend gemacht...« Borchardt-Wustmann-Schoppe 355. 4: Mieder, AntiSprichwörter 98 mit Beleg. S: Engl. »To make a virtue of necessitiy« (zuerst in Chaucers »Troilus and Criseyde«, um 1374); frz. »faire de necessite vertu«. Not kennt kein Gebot In der Not darf gegen Regeln und Verbote verstoßen werden. In der Fassung »Die Notwendigkeit kennt keine Feiertage« findet sich bei Palladius (de agri cultura 1,6,7) die leicht nachvollziehbare Einsicht, daß notwendige Arbeiten in der Landwirtschaft auch am Feiertag nicht unterbleiben können. Daß in der deutschen Ausprägung der Begriff »Gebot« Eingang gefunden hat, liegt zum einen sicher an dem eingängigen Reim von »Not« und »Gebot«; zum anderen dürfte hier aber auch die Bibel eingewirkt haben, die von ähnlichen Konflikten zwischen bäuerlicher Lebenswelt und Gebot der Feiertagsheiligung zu berichten weiß. Am bekanntesten ist sicher die Episode, in der Jesus und seine Jünger für das Ausraufen von Ähren am Sabbat getadelt werden (Markus 2,23-28). Fast im Sinne unseres Sprichworts »Der Mensch denkt und Gott lenkt« legt Curtius Rufus Alexander dem Großen die Er- kentnis in den Mund, daß auch im Krieg alles Planen und Überlegen gegenüber der Notwendigkeit zurückstehen muß: »Der Zeitpunkt, zu dem ich kämpfen mußte, war für den Feind günstiger als für mich, aber die Notwendigkeit steht über der Überlegung, ganz besonders im Krieg, wo es uns selten möglich ist, uns den Zeitpunkt auszusuchen.«1 Der Spruchdichter Publilius Syrus machte daraus eine allgemeine Formulierung: »Die Notwenigkeit gibt das Gesetz, nicht beugt sie sich ihm«;2 er hat aber noch mehr Weisheiten über die Findigkeit der Not parat, wie: »Der Not ist jedes Wurfgeschoß nützlich.«3 L: Mletzko 39. 90; Otto 241 (Nr. 1215); Tosi 426 (Nr. 910). 1: Curt. 7,7,10. 2: Publik Syr. N 23 3: Publik Syr. N 28. 121
Not lehrt beten in der Not besinnen sich die Menschen auf Gott und bitten ihn um Hilfe. Bei dem Historiker Livius mahnt der römische Diktator Camil- lus 390 v. Chr. seine Mitbürger, nicht in das von Rom eroberte Veji überzusiedeln und damit die heimischen Götter im Stich zu lassen; ihnen allein aber habe man es zu verdanken, auch die kürzlich erlittene Niederlage und Besetzung durch die Gallier überstanden zu haben (-♦ sein Schwert in die Waagschale werfen): »So wurden wir besiegt, besetzt und losgekauft und von Göttern und Menschen so sehr gestraft, daß wir dem Erdkreis als warnendes Beispiel dienen. Unser Unglück hat uns dann wieder an die religiösen Verpflichtungen erinnert.«1 Adalbert von Chamisso verwendete das daraus entstandene Sprichwort als Kehrreim seines Gedichts »Das Gebet einer Witwe«, worin eine alte Frau für ihren unbarmherzigen Herrn betet, da die Verfluchung ihrer früheren Herrn ihr nur Not gebracht hat. Heute jedoch ist damit fast immer Kritik an dem Betenden verbunden, da ihn nur die Not - nicht innere Überzeugung - zum Beten bringt. L: Mletzko 18. 90; Duden 12,364; Wander 3,1054-1055 (Noth 228). 1: Liv. 5,51,8-9: »...adversae deinde res admonuerunt religionum.« harte Notwendigkeit die unangenehme, aber nicht zu ändernde Notwendigkeit. Vgl.: der Not gehorchen, Erfordernissen Rechnung tragen. Die »harte« Notwendigkeit geht auf das Motiv der »grausigen Notwendigkeit« (»dira necessitas«) bei dem Dichter Horaz zurück:1 Gegen sie, d.h. gegen Tod und Angst, können Reichtum und Luxusgüter nichts ausrichten. Daß an der Notwendigkeit kein Weg vorbei führt, weiß auch der lateinische Spruchdichter Publilius Syrus: »Wenn du der Not nicht gibst, was sie fordert, nimmt sie es sich«;2 und: »Der Weise verweigert der Notwendigkeit nichts.«3 Die Römer kannten daher auch bereits die sprachliche Wendung »der Not gehorchen« (»necessitati parere«). So heißt es bei dem Historiker Livius: »Es soll der Not gehorcht werden, die nicht einmal die Götter überwinden.«4 122
L: Bartels 63; Böttcher 73 (Nr. 402-403); Büchmann 327; MIetzko 41. 89; Otto 240-241 (Nr. 1214). 1: Hör. c. 3,24,6. 2: Publil. Syr. N 33. 3: Publil. Syr. N 52. 4: Liv. 9,4,16; vgl. Cic. off. 2,21,74. O Öl ins Feuer giessen ein Übel noch schlimmer machen, einen Streit noch verschärfen, die Leidenschaften weiter anheizen (auch: Öl in die Flammen gießen); aber: * Öl auf die Wogen gießen: die Leidenschaften besänftigen. Die Redensart »oleum addere Camino« (»Öl in den Kamin hinzugeben«; in gleicher Bedeutung wie im Deutschen) verwendete bereits im 1. Jh. v. Chr. der Dichter Horaz.1 Nach dem Zeugnis des griechischen Neuplatonikers Porphyrios gab es im 3. Jh. das »verbreitete Sprichwort: Öl ins Feuer«.2 Das deutsche »Öl ins Feuer gießen« ist seit dem 16. Jh. belegt.3 Die Tatsache, daß eine Wasserfläche durch Öl geglättet wird (daher das deutsche »Öl auf die Wogen gießen«), war ebenfalls schon im Altertum bekannt. L: Borchardt-Wustmann-Schoppe 362; Böttcher 71 (Nr. 388-389); Büchmann 329; Duden 11,529; MIetzko 32. 92; Otto 253 (Nr. 1283). 1: Hör. s. 2,3,321: »»oleum adde Camino« (»Gib Öl in den Kamin«). 2: »Et usus est vulgari proverbio: oleum in incen- dium« nach Otto 253 (Nr. 1283), bei dem sich weitere Beispiele finden. 3: Namenlose Sammlung von 1532: »Laß den Hund schlaffen, schüt nit Öhl ins fewr, rieht keinen ha- der an, erzürne keinen bösen.« Borchardt-Wustmann-Schoppe 362. zu Olims Zeiten (scherzhaft) vor langer Zeit (auch: aus Olims Zeiten: aus lange zurückliegender Zeit). 123
Dies ist ein Scherzausdruck aus dem Gelehrtenschulunterricht: Aus lat. »olim« (einst) wurde der Eigenname »Olim« erfunden.1 Die Wendung ist zum ersten Mal 1618 in Martin Rinckarts »Jubelkomödie«2 und dann öfter3 belegt. L: Borchardt-Wustmann-Schoppe 363-364; Duden 11,529. 1: Die niederdeutsche Ableitung von »öling« (alt) ist irrig: Borchardt-Wustmann-Schoppe 363-364. 2: V. 169. 3: Beispielsweise 1738 bei j. Chr. Günther, Curieuse Lebensbeschreibung, 165,24: »Du weißt, ich bin dein Freund aus alter Olims-Zeit.« Ähnlich sagt Chr. F. Henrici (Picander) einmal zu einem alten Studienfreund von vor 20 Jahren: »Freund von denselben alten Tagen, da Olim uns studieren ließ.« Alles bei Borchardt-Wustmann-Schoppe 363. ein gutes/schlechtes Omen ein gutes/schlechtes Vorzeichen. In der Antike glaubte man allgemein, daß man den Willen der Götter, die Kräfte des Kosmos und damit den guten oder schlechten Ausgang einer Sache im voraus erkennen könne. Eine ganze Wissenschaft entwickelte sich, die sich mit der Einholung und der Deutung dafür bedeutungsträchtiger Zeichen beschäftigte (vgl. -♦ Augurenlächeln, -» Auspizien). Als »Omen« (lat.: »omen«: Vorzeichen, PI. omina; dt. PI. Omina o. Qmen) wurden dabei vor allem Vorgänge bezeichnet, die nicht gezielt herbeigeführt wurden und denen aufgrund ihrer Außergewöhnlichkeit (z. B. ein Uhuschrei bei Tage in der Stadt) oder der Umstände, unter denen sie auftraten (z. B. das Stolpern auf der Schwelle auf dem Weg zu einem wichtigen Termin), Bedeutung beigemessen wurde. Im diesem Sinne kann man einen zufälligen Umstand, der als bedeutungstragend angesehen werden könnte, halb scherzend, halb ernsthaft als gutes oder schlechtes Omen bezeichnen. im Orkus verschwinden spurlos verschwinden, völlig zugrunde gehen (auch: i. O. sein / landen). Hinab in den Hades! / Zum Orkus hinab!: Es soll in völlige Versenkung und Vergessenheit geraten. Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab: scherzhafter Kommentar beim Verlust einer Sache, der man nicht nachweint. Der Orkus (lat.: »Orcus«) war bei den Römern die Bezeichnung 124
für das Reich der Toten, die Unterwelt, wie sie ausführlich von Vergil im 6. Buch seiner »Äneis« geschildert wird. Sie ist der Ort, von wo es kein Zurück mehr gibt: »Aber Fluch dir, du übler, dunkler Orkus, / Der du alles, was schön ist, stets verschlingst!« klagt der Dichter Catull - wenn auch leicht ironisch - beim Tod des Vogels seiner Geliebten.1 Daneben wurde der Begriff aber auch als Synonym für den Gott der Unterwelt, Pluto (griech. Hades), verwendet. Schiller ließ sein Gedicht »Nänie« (Totenklage) 1799 mit den Versen enden: »Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich, / Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.« Das Schöne und Vollkommene wird immerhin in der Klage noch einmal gewürdigt, während das Alltägliche unbeachtet (sozusagen sang- und klanglos) vergeht. Heutzutage verschwinden zumeist Dinge, die niemand mehr zu sehen bekommen soll - wie etwa brisante Akten -, durch Vernichtung »im Orkus«. L: Böttcher 14 (Nr. 12-1 3); Duden 12,106-107; Otto 257-258 (Nr. 1 301 -1 306). 1: Catull. 3,13-14. P Papier ist geduldig Dem Papier kann man alles anvertrauen, schriftlich läßt sich alles sagen; auch: Geschriebenes (z.B. in Zeitungen) muß nicht immer wahr sein. Im Juni 56 v. Chr. richtet Cicero einen Brief an Lucius Lucceius, der sich für das Jahr 59 vergeblich als Konsusi beworben hatte und dann unter die Geschichtsschreiber gegangen war. Cicero brennt vor Begierde, sich durch dessen Schriften verherrlicht und gefeiert zu sehen, wagt aber kaum, dieses Anliegen offen zu äußern: »Schon mehrfach war ich drauf und dran, mit Dir persönlich über dieses Thema zu sprechen, immer hielt mich eine 125
beinahe etwas bäurische Befangenheit zurück; aber jetzt, wo ich Dir nicht gegenübersitze, wage ich mich schon kecker damit heraus: Ein Brief [hier lat. »Charta«: »Papier, Buch«] wird ja nicht rot«1 (schämt sich nicht). Das Motiv wurde um 400 von dem Kirchenvater Ambrosius aufgegriffen (»Ein Buch wird nämlich nicht rot«)2 und später im Deutschen in leichter Veränderung übernommen. L: Böttcher 64 (Nr. 327-329); Duden 11,534; Mletzko 40. 92; Otto 125 (Nr. 602); Wander 3,1174 (Papier 4). 1: Cic. fam. 5,12,1: »Coram me tecum eadem haec agere saepe conantem deterruit pudor quidam paene subrusticus, quae nunc expromam ab- sens audacius; epistula enim non erubescit« (Übers. H. Kasten). 2: Ambros. de virg. 1,1,1: »über enim non erubescit.« Vgl. Hist. Apoll, reg. Tyr. p. 24,12 Riese. * »Pater, peccavi« sagen um Verzeihung bitten, eine Schuld eingestehen. Lateinisch »Pater, peccavi« bedeutet »Vater, ich habe gesündigt« und stammt aus dem neutestamentlichen Gleichnis vom verlorenen Sohn, wo der »verlorene« Sohn nach seiner Rückkehr den Vater mit diesen Worten um Vergebung bittet.1 Der Satz ist zur Beichtformel und zu einem liturgischen Element im Zusammenhang mit Buße und Umkehr geworden. So lautet »Vater, ich habe gesündigt vor dir« der Antwortgesang beim ersten Bußgottesdienst.2 L: Böttcher 144 (Nr. 889); Duden 11,538 und 12,381. 1: Lk. 15,11-32; darin V. 18 und 21 Vulgata. 2: Cotteslob Nr. 56,3; Thema: Das große Gebot. PAX AUCUSTA eine glanzvolle Friedenszeit durch eine Vormacht, einen Herrscher etc. (auch unter Ersetzung des Adjektivs, z. B.: Pax Americana). Nach der schrecklichen Zeit der Bürgerkriege des 1. Jh. v. Chr. war der Friede, der durch die lange Alleinherrschaft des Au- gustus geschaffen wurde, eine dringend herbeigesehnte Segnung. Augustus nutzte dies, um den Frieden zum hervorstechenden Merkmal seiner Herrschaft zu machen. In seinem Tatenbericht rühmt er sich, daß während seiner Regierungszeit der Janustempel (-♦ janusköpfig) zum Zeichen des Friedens häufiger geschlossen war als jemals zuvor in der römischen Ge- 126
schichte. Im Jahre 10 v. Chr. wurde der Kult der Friedensgöttin Pax (lat.: »pax«: »Friede«) eingeführt; bei der Neugestaltung des Marsfeldes ließ Augustus dort einen Altar des Friedens (ara Pa- cis) errichten. Der Begriff »pax Augusta« taucht erstmals bei dem Historiker Velleius Paterculus auf: »Ausgebreitet in die Gegenden des Ostens und Westens, und was auch immer von Norden und Süden begrenzt wird, hält der kaiserliche Frieden [pax Augusta] in allen Winkeln der Erde die Furcht vor Räuberei fern.«1 Diese Worte sind nun nicht auf Kaiser Augustus, sondern auf seinen Adoptivsohn und Nachfolger Tiberius (Kaiser 14-37 n. Chr.) gemünzt, unter dem Paterculus seine militärische Karriere durchlief. Sie dürften aber um so besser illustrieren, welche Vorzüge man damals allgemein im Kaisertum sehen konnte; bei Paterculus zumindest ist von -♦ Cäsarenwahn noch keine Rede. 1: Vell. Pat. 2,126,3. ETWAS IN PETTO HABEN etwas planen, etwas vorbereitet haben; bisweilen auch: eine Fähigkeit besitzen, etwas intellektuell beherrschen. Der Ausdruck »in petto« ist die italienische Übersetzung von lateinisch »in pectore« (»in der Brust«). Das, was man in der Brust hat, als Metapher für das, was man denkt, findet sich bereits bei Sallust (86-34 v. Chr.): »Der Ehrgeiz zwang viele, das eine in der Brust verschlossen, das andere offen auf der Zunge zu tragen.«1 Ein ähnlicher Gegensatz zwischen heimlich Gedachtem und öffentlich Ausgesprochenem liegt auch in der päpstlichen Formel vor, die vermutlich noch stärker zur Entstehung der Redensart beigetragen hat: Der Papst behält seit dem 15. Jh. bisweilen die Namen der in einem geheimen Kardinalskonsistorium bestimmten Kardinäle noch bis zu einer öffentlichen Sitzung für sich, indem er sagt: »Andere behalten wir vorläufig in unserer Brust [in pectore], um sie nach unserem Gutdünken zu irgendeiner Zeit bekanntzugeben.«2 L: Bartels 201; Büchmann 373; Duden 11,540. 1: Sali. Cat. 10. 2: »Alios In pectore reservamus arbitrio nostro quandocumque declarandos.« 127
der Plebs (von lat. plebs: die Plebs, d.h. die nichtpatrizische Bevölkerung) Pöbel; plebejisch: von niederer Herkunft, gewöhnlich. Die römische Bevölkerung zerfiel in zwei Gruppen: Patrizier und Plebejer. Die Patrizier waren die Mitglieder jener Familien, die bei Einrichtung der Republik (nach der Tradition 510 v. Chr.) zur staatstragenden Schicht gehörten, und stellten damit so etwas wie einen Geburtsadel dar. Alle römischen Bürger, die nicht einer dieser Familien angehörten, waren automatisch Plebejer. In der frühen Republik war die Bekleidung der Staatsund Priesterämter und die Ausübung anderer wichtiger staatlicher Funktionen wie die Rechtssprechung auf die Patrizier beschränkt. Die sich daraus ergebenden Spannungen zwischen Patriziern und Plebejern führten zu den Ständekämpfen, in denen sich die Plebejer die politische Gleichberechtigung mit den Patriziern erkämpften und zur Vertretung ihrer Interessen die Institution des Volkstribunats (-♦ Volkstribun) hervorbrachten. Damit war auch für plebejische Familien der Weg frei zu sozialem und politischem Aufstieg. Die Familien, denen es gelang, in die politische Führungsschicht aufzusteigen, bildeten zusammen mit den Patriziern einen neuen Amtsadel, die Nobi- lität, in der die plebejischen Mitglieder den patrizischen weder an Einfluß noch an Vermögen nachstanden. Anders als im Deutschen ist in Rom die Bezeichnung »Plebs« und »plebejisch« also weder abwertend, noch stellt sie eine soziale Katego- risierung dar. Es ist zu beachten, daß der Pöbelhaufen im Deutschen »der Plebs« (Maskulinum) ist, die Bevölkerungsgruppe im antiken Rom dagegen mit dem aus dem Lateinischen übernommenen Geschlecht korrekt als »die Plebs« (Femininum) bezeichnet werden muß. Daß mit der Entstehung der Nobilität die Aufteilung in Patrizier und Plebejer nicht außer Gebrauch und in Vergessenheit geriet, lag nicht nur an dem großen Traditionsbewußtsein der Römer, sondern auch an der Tatsache, daß es nunmehr bestimmte Funktionen gab, die lediglich den Plebejern vorbehalten waren: Nur Plebejer durften das Amt des plebejischen Ädilen oder des -♦ Volkstribuns ausüben, nur Plebejer hatten Stimmrecht in der Volksversammlung der Plebs (concilium plebis), deren Beschlüsse seit 287 v. Chr. immerhin Gesetzeskraft hatten. 128
das Prä haben (auch: das Prag haben) den Vorrang/Vorzug haben (auch: ein Prä/Prae haben); (mundartl.:) immer das Pree haben wollen: sich vordrängen, die erste Geige spielen wollen; seltener auch: das Prä/Prae behalten/erhalten/lassen. Hier liegt ein alter Kartenspielerausdruck vor; der auf lateinisch »prae« (»vor«) zurückgeht. Er ist seit Ausgang des 16. Jh. sehr häufig bezeugt.1 Über die Studentensprache ist die Wendung bis in die Umgangssprache und die Mundarten gedrungen. In übertragener Bedeutung wird die Wendung seit dem 17. Jh. verwendet.2 L: Bartels 205; Borchardt-Wustmann-Schoppe 387-388; Duden 11,554.1: Auch in der Verbindung »das Prä und den Vorzug haben«, was wohl dem heutigen Ausdruck »in der Vorhand sein« entspricht: Borchardt-Wustmann-Schoppe 387. 2: Borchardt-Wustmann-Schoppe 388 mit folgenden Beispielen: F. W. v. Ditfurth, Volkslieder des Dreißigjährigen Krieges Nr. 56 (»...das Prae von allen Völkern...«); ein Lied von 1656 (»...sie hat das prae am Zürcher See...«); Grimmeishausen, Simplicissimus 1,425: »Ein jeder hoffte, seiner Gattung Soldaten das prae zu erhalten.« * PRO DOMO REDEN in eigener Sache sprechen; auch lat. oratio pro domo: Rede zum eigenen Nutzen. In seiner Rede »pro domo« (»Für sein Haus«; oder: »De domo suo ad pontifices«, d.h. »Über sein Haus gegenüber den Pon- tifices«) trat Cicero 57 v. Chr. für sich selbst ein: Nachdem er im Jahre 58 wegen angeblich ungesetzlicher Hinrichtung der Anführer der Catilinarischen Verschwörung verbannt worden war; war sein Haus am Nordosthang des Palatin, eines der schönsten in Rom; der Staatskasse zugefallen, über einen Strohmann in die Hände seines Erzrivalen P. Clodius Pulcher gefallen und teilweise abgerissen worden, teilweise der Göttin Liber- tas geweiht worden. In seiner Rede wollte Cicero nun von dem Kollegium der Oberpriester die Rückgabe seines Hauses erreichen. »Pro domo« bezeichnet seitdem ein Reden zum eigenen Vorteil oder zur Rechtfertigung seiner selbst. L: Bartels 140-141; Böttcher 61-62 (Nr. 305); Büchmann 316; Duden 11,556 und 12,389; Reichert 44. B: Die Kaffeefirma Dallmayr verwendet als Markennamen »Dall- mayr Pro Domo«. 129
DER WUNDE PUNKT Bereich, in dem jemand anfällig oder empfindlich ist. In einer Komödie des Dichters Terenz sagt der Athener Antipho zu seinem Sklaven Geta; der gegenüber Antiphos Vater eine ungeschickte Bemerkung über ein Mädchen gemacht hat: »Was war verkehrter, als diesen wunden Punkt zu berühren?«1 Lateinisch »ulcus« (»Geschwür, wunder Punkt«) wurde wie im Deutschen für das verwendet, was nicht »berührt«, d.h. angesprochen werden soll: »Alles, was du davon berührt hast, ist ein wunder Punkt [ulcus].«2 Von »ulcus« ist übrigens das lateinische Wort »ulcisci« (»sich rächen«) abgeleitet, womit »Rache« eigentlich ein »Eitern«, das »Entwickeln eines Geschwürs« ist; bekanntlich ist ja Rache meistens für denjenigen süß (-♦ Rache ist süß), der sich an einem eigenen wunden Punkt getroffen fühlt. L: Duden 11,559; Mletzko 16. 94.144; Otto 353 (Nr. 1810). 1: Ter. Phorm. 690: »Quid minus utibile fyjt, quam hoc ylcus tangere?« 2: Cic. de nat. deor. 1,37,104: »Quicquid horum attigeris, ulcus est.« Vgl. Plat. Ax. 368c. R Rache ist süss (scherzhaft auch: Rache ist Blutwurst) es tut gut, sich rächen zu können; oder (drohend): Ich werde mich rächen! Dieses beliebte Sprichwort geht auf den römischen Satiriker Iu- venal zurück, der in einem seiner Gedichte das Vergehen des Treuebruchs behandelt. Als Beispiel dient ihm die Unterschlagung von 10000 Sesterzen, die Calvinus, der Adressat der Satire, durch einen Freund erlitten hat. Anders jedoch als man erwarten möchte, tritt Iuvenal nicht für eine rigorose Bestra- 130
•-% 9»r- z-- =u. 1; ^rfl Js ^ **■* Die Rotten verlassen dos sinkende Schiff.
fung des Täters ein: Eine Tötung wäre sinnlos (der Verlust bleibt ja bestehen), und die Rache überhaupt ist verwerflich - echte Bestrafung könne es nur durch eigenes Schuldbewußtsein und durch Gewissensängste geben. Und so stellt er fest: >»Rache ist doch ein teureres Gut als das Leben selbst.< I Gewiß sagen dies die Ungebildeten, deren Brust man bisweilen aus keinem / oder einem geringfügigen Grund entflammt sieht.«1 Entsprechend wird »Rache ist süß« heute oft scherzhaft gebraucht, da man eigentlich weiß, daß sie nicht der richtige Weg ist. Ein deutsches Sprichwort weist darauf hin: »Die Rache ist süß, man verdirbt sich aber oft den Magen daran.«2 L: Duden 11,562-563; Mletzko 94. 118; Wander 3,1451 (Rache 6. 7. 16. 17. 23). 1: luv. 13,180-182: »>£t vindkta bonym vita iucyndius ipsa< / ngmpe hoc indoctL quorym praecßrdia nyllis / interdum aut levibys videas flagrgntia causis.« 1: Wander 3,1451 (Rache 3); vgl. die Variante: »Rache ist süß, verzeihen süßer.« B: »Rache ist ein Gericht, das am besten kalt genossen wird« ist ein klingonisches Sprichwort in dem Film »Star Trek VI«. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff ein vom Unglück Bedrohter wird von allen verlassen; auch: Alle Anzeichen deuten auf eine Gefahr oder gar Katastrophe hin. Das Phänomen, daß Tiere drohende Gefahren früh wahrnehmen können, war schon den Römern bekannt. Daher das Fortgehen von Ratten aus einem Gebäude als schlechtes -♦ Omen. Cicero jedoch schreibt in einem Brief an seinen Freund Atticus am 17. April 44 v. Chr.: »Mir sind zwei Baracken eingestürzt, und die übrigen ziehen Risse. Daraufhin haben nicht nur die Mietsleute, sondern sogar die Ratten das Weite gesucht. Alle Welt nennt das ein Malheur, ich kaum eine Unbequemlichkeit.«1 Auch der Naturforscher Plinius d. Ä. berichtet: »Wenn ein Gebäude einzustürzen droht, so wandern vorher die Mäuse aus, und die Spinnen fallen zuerst mit ihren Geweben hinab.«2 Im Deutschen steht das anstelle der Gebäude eingetretene Schiff vermutlich im Zusammenhang mit der verbreiteten Metapher vom Staatsschiff und der (Mitte des 20. Jh. aus England übernommenen) Wendung -♦ im gleichen Boot sitzen: Wer eine Gemeinschaft in Gefahr verläßt, wird geradezu als Ratte, die frühzeitig von Bord geht, diskreditiert. Eine nette Anwendung der Redensart stammt von Gerhard Uhlenbruck: »Leserat- 132
ten verlassen nie das sinkende Schiff - des verehrten Bestseller- Autors.«3 L: Duden 11,568; Mletzko 94. 102; Otto 234 (Nr. 1171); Wander 3,1494 (Ratte 6). 1: Cic. Att. 14,9,1: »Tabernae mihi duo corruerunt reliquaeque rimas agunt; itaque non solum inquilini, sed mures etiam migraverunt« (Übers. H. Kasten). 2: Plin. nat. 8,103: »Ruinis imminentibus musculi permigrant, aranei cum telis primi cadunt.« 3: Mieder, Phrasen 270 mit Beleg. den Rubikon überschreiten einen Weg einschlagen, auf dem es kein Zurück mehr gibt, alles aufs Spiel setzen, eine folgenreiche Entscheidung treffen; am R. stehen: an einem Punkt stehen, der eine wichtige, folgenreiche Entscheidung erfordert. Der Rubikon ist ein kleiner in die Adria mündender Fluß im Apennin,1 der in römischer Zeit der Grenzfluß zwischen Italien und der Provinz Gallia Cisalpina war. Als zu Beginn des Jahres 49 v. Chr. Pompeius den Staatsnotstand ausrufen ließ und den Senat von Caesar verlangen ließ, dieser müsse seine Provinz Oberitalien abgeben und sein Heer entlassen, überschritt Caesar mit seinem Heer den Rubikon als die Grenze seiner Provinz Gallien und begann damit den Bürgerkrieg gegen Pompeius.2 Vor Überschreiten des Flusses zögerte Caesar und sagte: »Jetzt können wir noch umkehren. Haben wir aber diese kleine Brücke überschritten, dann müssen die Waffen alles entscheiden.«3 Als er noch zögerte, soll plötzlich ein großer und schöner Mann erschienen sein, der einem Spielmann die Trompete entriß, das Angriffssignal blies und zum anderen Ufer hinübereilte. Dies wurde als göttlicher Wink verstanden, und Caesar sagte: »So wollen wir gehen, wohin der Götter Zeichen und der Feinde Ungerechtigkeit uns rufen!« Als Bild für die Unumkehrbarkeit des nun folgenden Handelns fügte er seinen wohl bekanntesten Ausspruch an: »Der Würfel ist gefallen!« (-♦ Die Würfel sind gefallen).4 Die Wendung »den Rubikon überschreiten« für eine folgenreiche und unumkehrbare Entscheidung erscheint englisch seit dem frühen 17. Jh.5 und wohl erst in dessen Folge auch im Deutschen. In der Motivationspsychologie hat Heinz Heckhausen das Bild des Rubikon im sogenannten »Rubikon-Modell« gebraucht, um die entscheidende Grenze zwischen der Phase der Willensbildung (Motivationsphase) und der der Willens- 133
ausführung (Volitionsphase) zu markieren. Auch hier dient der Rubikon als Metapher für den Punkt, an dem eine Umkehr nicht mehr möglich ist: Der Prozeß des Abwägens verschiedener Alternativen wird abgebrochen und die Handlung konsequent auf ein Ziel ausgerichtet.6 L: Büchmann 368; Duden 11,590 und 12,404; Macrone 172-173; Wander 3,1751. 1: Es handelt sich wahrscheinlich um den heutigen Fiumicino, der zur Zeit Mussolinis in Rubicone umbenannt war; doch auch der Pisciatello und der Uso wurden bisweilen als der antike Rubikon angesehen. 2: Zu den Details dieser Auseinandersetzung siehe Hans-Martin Ottmer, Die Rubikon-Legende. Untersuchungen zu Caesars und Pom- peius' Strategie vor und nach Ausbruch des Bürgerkrieges, Boppard 1979. 3: Suet. Caesar 31.4: Suet. Caesar 32. 5: Macrone 173 mit Beispielen. Das Verb »to rubicon« als »überraschend besiegen« tauchte im späten 19. jh. auf und bezeichnete auch einen entscheidenden Sieg beim Kartenspiel Cribbage: Macrone 173 mit einem Beispiel bei R. F. Foster. 6: Vgl. Rosa Maria Puca, Motivation diesseits und jenseits des Rubikon, Wuppertal 1996, S. 48-52. S: Engl. »To cross/pass the Rubicon«. S Die Sache spricht für sich Es bedarf keiner weiteren Erklärung. Oft auch: Die Tatsachen sprechen für sich. Daß eine Sache so augenscheinlich ist, daß nichts mehr dazu auszuführen ist, war bereits griechisch und lateinisch ein geläufiges Motiv: »Die Dinge selbst haben es klargemacht« heißt es z. B. bei Plutarch.1 Bei den Römern findet sich zuerst bei dem Komödiendichter Plautus: »Die Sache selbst ist Zeuge.«2 Ein »Sprechen« der Sache wurde allerdings erst von Cicero eingeführt, der in seiner Verteidungsrede für Milo von einer pikanten Begebenheit berichtet, die seinem Mandanten widerfahren sei: »Bei vollbesetztem Hause kürzlich auf dem Kapitol fand sich ein Senator, der behauptete, Milo habe [verbotenerweise] eine Waffe bei sich: Da entkleidete er sich in diesem 134
hochheiligen Gebäude (da ja der [gute] Lebenswandel eines solchen Bürgers und Mannes nicht genug Glauben erweckte), so daß - während er selbst schwieg - die Sache für sich selbst sprach.«3 In einer Fabel des Phaedrus wird dies noch zu einem »Schreien« gesteigert: Als ein Hirt versehentlich einem Schaf ein Hörn abbricht und bittet, es möge ihn nicht an den Herrn verraten, sagt das Schaf: »Obwohl ich empörend verletzt worden bin, will ich doch schweigen; aber die Sache selbst wird hinausschreien, was du angestellt hast.«4 L: Mletzko 99. 113. 119; Otto 297 (Nr. 1522). 1: Plut. Pomp. 23: eÖTiXüxre 6* a\>xd xd itpäYnaxa. Weitere griech. Belege bietet Otto 297 (Nr. 1522). 2: Plaut. Aul. 421: »res ipsa t£St(is) est.« Ähnliche Stellen bei Plautus und Terenz nennt Otto 297 (Nr. 1522). 3: Cic. Mil. 24,66: »Frequentissimo senatu nuper in Capitolio Senator inventus est qui Mi- lonem cum telo esse diceret: nudavit se in sanctissimo templo, quoniam vita talis et ci- vis et viri fidem non faciebat, ut eo tacente res ipsa loqueretur.« Vgl. Sen. benef. 2,11,6. 4: Phaedr. append. 24,5: »...sed rgs clamabit ipsa, quid deliquens.« ohne Saft und Kraft kraftlos, schwunglos, fade; auch: saft- und kraftlos. Der »Saft« (lat.: »sucus«) ist schon seit den Römern eine Umschreibung für Blut und damit Sinnbild von Frische und Lebenskraft. Er wurde oft alliterierend mit »sanguis« (»Blut«) verbunden: So schreibt beispielsweise Cicero nach seinem verlorenen Prozeß gegen Gabinius Ende Oktober 54 v. Chr. an seinen Freund Atticus: »Ach, mein lieber Pomponius, nicht nur allen Saft und alles Blut [>omnem sucum et sanguinem<] haben wir verloren, selbst die Farbe und das frühere Gesicht des Staates ist dahin! Es gibt kein Gemeinwesen mehr, an dem ich mich freuen, mit dem ich mich trösten könnte.«1 Im Deutschen wurde jedoch wegen des gleichen Wortauslautes die Verbindung »Saft und Kraft« bevorzugt. Eine ähnliche Verbindung, die ein und dieselbe Sache mit zwei Begriffen umschreibt, ist die verbreitete Zwillingsformel »Fleisch und Blut«, die den Körper des Menschen im Ganzen oder in seiner Leiblichkeit beschreibt.2 1: Cic. Att. 4,20(18),2: »Amisimus omnem non modo sucum et sanguinem, sed etiam colorem et speciem pristinam civitatis, nulla est res publica, quae delectet, in qua ad- quiescam.« Vgl. Brut. 9,36. »Und jenes war, wie ich meine, unverdorbener Saft und unverdorbenes Blut der Redner bis auf die heutige Zeit« (»et, ut opinio mea fert, sucus ille et sanguis incorruptus usque ad hanc aetatem oratorum fuit«). Cic. de or. 23,76: »Auch 135
wenn er nämlich nicht sehr viel Blut hat, so muß er doch einigen Saft haben« (»Etsi enim non plurimi sanguinis est, habeat tarnen sucum aliquem oportet«). 2: Vgl. aus Fleisch und Blut sein: ein Mensch sein; in Fleisch und Blut übergehen: zur festen Eigenschaft, Gewohnheit oder Überzeugung eines Menschen werden; oder von Kenntnissen: von jemandem vollkommen beherrscht werden. JEMANDEM SAND IN DIE AUGEN STREUEN jemandem etwas vormachen, jemanden über die Wahrheit hinwegtäuschen; (niederdt.:) übertreffen. Die Wendung beruht wohl auf dem Trick, bei einem Zweikampf dem Gegner durch Sand in den Augen die Sicht zu nehmen. Sie ist zuerst bei dem römischen Schriftsteller Gellius überliefert in bezug auf einen Gesprächsteilnehmer: »Und er streute diese [gemeint sind Wortleckerbissen, kleine Vorlesungen] gleichwie Staub in [unsere] Augen, als er jeden [von uns] anging.«1 Eine ähnliche Redensart lautete »jemandem Blendwerk gegen die Augen werfen« (»glaucumam ob oculos obi- cere«),2 die vielleicht in der deutschen Wendung »jemandem blauen Dunst vormachen« ihre Fortsetzung gefunden hat. Ein sehr junger heutiger Ausdruck ist die »Sandfrau« als Bezeichnung für eine Frau, die als Begleitung eines schwulen Mannes über dessen Homosexualität hinwegtäuschen soll. L: Borchardt-Wustmann-Schoppe 410; Duden 11,604; Otto 290 (Nr. 1483); Wander 3,1862 (Sand Nr. 35). 1: Gell. 5,21,4: »...easque (sc. inauditiunculas) quasi pulverem ob oculos, cum adortus quemque fuerat, adspergebat.« Vgl. Er. Ad. 2,9. 2: Plaut. MM. 148. S: Frz. »jeter (de) la poudre aux yeux«; ndl. »Hij stroolt hem zand in de oogen«. (nur noch) ein Schatten seiner selbst sein körperlich sehr schwach sein; auch: eine Erscheinung bieten, die in starkem Gegensatz zu früherem Glanz und Erfolg steht. Der Schatten einer Hoffnung: nicht die geringste Hoffnung; vgl.: nicht den Schatten von etwas (z.B. einer Ahnung) haben: etwas nicht im geringsten Maße haben. Dieses Bild hängt damit zusammen, daß der Schatten einer Sache oder eines Menschen nur ein schwaches und flüchtiges Abbild darstellt und - zumal das Original schon vergangen ist - den nur noch für kurze Zeit verbleibenden letzten Rest von etwas symbolisiert. Als erster gebraucht es der römische Dichter 136
Lukan (39-65), der in seinem Bürgerkriegsepos »Pharsalia« den von Caesar besiegten Pompeius (der vormals »der Große« - Pompeius Magnus - genannt worden war) als »Schatten eines großen Namens« (lat.: »magni nominis umbra«) bezeichnet.1 Erstmals bei dem Schriftsteller Varro begegnet übrigens die auch im Deutschen gebräuchliche Wendung »Schatten einer Hoffnung« im Sinne einer ganz geringen Hoffnung.2 Im Mittelalter entstand aus dem Lukan-Wort vom »Schatten eines großen Namens« die Aufforderung: »Um den Schatten eines großen Namens [d.h. um vergänglichen irdischen Ruhm] sollst du dir keine Gedanken machen.«3 Schiller griff das Motiv für seine »Maria Stuart« auf, die ihre Rivalin Elisabeth vergeblich zu rühren versucht (vgl. auch -♦ besser sein als sein Ruf); dabei weist sie auf ihr jetziges Erscheinungsbild hin: »Ich bin doch nur der Schatten der Maria!«4 L: Böttcher 82 (Nr. 475) und 364 (vor Nr. 2342); Duden 12,409; Otto 355 (Nr. 1819); Tosi 8 (Nr. 12). 1: Lucan. 1,1 35. 2: Varro bei Non. p. 26,29: »cum hie rapo umbram quoque spei devorassit« (p. 187 R.). 3: »Non sit tibi curae de magni nominis umbra«; so bei Thomas von Kempen, Imitatio Christi 3,24,2 nach Tosi 8 (Nr. 12). 4: Maria Stuart, 1801 (uraufgeführt in Weimar am 14. 6.1800), 3,4,2382. JEMANDEM WIE SEIN SCHATTEN FOLGEN fortwährend um jemanden herum sein, ganz dicht folgen. Vgl. das Sprichwort: * Ehre ist der Tugend Schatten. Anders als im vorangehenden Stichwort drückt der Vergleich mit einem Schatten hier eine äußerst enge Verbindung mit einer Person aus. Die lateinische Wendung »quasi umbra perse- qui« erscheint schon bei dem Komödiendichter Plautus: Als im ersten Akt der »Casina« die zwei Sklaven Olympio und Chali- nus auftreten, will Olympio den ihm ganz dicht folgenden Chalinus abschütteln und fragt ihn: »Warum, zum Teufel, folgst du mir?« Antwort: »Weil es mein fester Entschluß ist, / wie ein Schatten, wohin auch immer du gehen willst, dir stets zu folgen.«1 Ähnlich charakterisiert man heute mit der Redensart leicht verächtlich Menschen, die sich ständig an andere hängen, um etwas von ihnen zu erreichen. In der Antike ist das Bild aber nicht auf Personen beschränkt gewesen: Daß die Ehre »der Tugend Schatten« sei, also mit Tugend untrennbar verbunden, ist ein bei Cicero und anderen lateinischen Autoren oft formulierter Gedanke: »Auch wenn 137
nämlich der Ruhm nichts an sich hat, warum er erstrebt werden sollte, so folgt er doch der Tugend gleichwie ein Schatten.«2 L: Böttcher 55 (Nr. 258-259); Borchardt-Wustmann-Schoppe 421-422; Duden 11,611-612; Otto 155 (Nr. 764) und 355 (Nr. 1818). 1: Plaut. Cas. 91-92: »Quid ty, malym, me sgquere? Quia certym est mihi / quasi ymbra, quöquo tu ibis, tg sempgr sequi.« Bei Erasmus ad. 3,7 unter »velut umbra sequi«: Borchardt-Wustmann-Schoppe 422. 2: Cic. Tusc. 1,45,109: »Etsi enim nihil habet in segloria, cur expetatur, tarnen vir- tutem tamquam umbra sequitur.« Vgl. Sen. ep. 79,13; Hieron. ep. 108,3; epitaph. Pau- lae col. 175 Vall. S: Frz. »La gloire est la recompense de la vertu«. Wenn es am besten schmeckt, soll man aufhören Zu reichliches Essen mindert den Genuß, zu langes Auskosten einer guten Sache kann den Genuß beeinträchtigen; auch: höfliche Äußerung zur Ablehnung weiteren angebotenen Essens. Vgl. auch: Wenn es am schönsten ist, soll man gehen. In den »Attischen Nächten«, einer literarischen Blütenlese des Schriftstellers Gellius (2. Jh.), sind die Worte eines gewissen Fa- vorinus überliefert: »Die Experten der Küche und des Luxus meinen, daß kein Essen anständig sei, wenn es nicht dann, wenn es dir am besten schmeckt, fortgetragen und andere noch bessere und umfangreichere Speise an dessen Stelle gesetzt werden könne. Dies wird jetzt als Blüte beim Essen gehandelt bei denen, für die Aufwand und Übermaß vor den Scherzen kommen und die meinen, man dürfe keinen anderen Vogel als eine ganze Schnepfe verzehren.«1 Aus dem ersten Satz dieses Zitats, das alles andere als Enthaltsamkeit empfiehlt, wurde später - der Zeitpunkt läßt sich nicht nachweisen - das Stück »wenn es dir am besten schmeckt, (soll das Essen) fortgetragen (werden)« isoliert und als Ratschlag für echte Genießer, die zum rechten Zeitpunkt ein Ende finden, sprichwörtlich. L: Duden 11,628; Mletzko 11. 104; Wander 4,259 (schmecken Nr. 41). 1: Cell. 15,8,2: »Praefectl poplnae atque luxuriae negant cenam lautam esse, nlsl, cum lubentissime edls, tum auferatur et alia esca mellor atque amplior succenturietur. Is nunc flos cenae habetur inter istos, quibus sumptus et fastidium pro facetiis procedit, qui negant ullam auem praeter ficedulam totam comesse oportere.« 138
\ r^^V ,.^> '/ M ' / -% I .iniPgJ|-.Vvv.>.-a> '■■«'•'»^ '^^ / 1 ^:IFV* Wenn es om besten schmeckt, soll man aufhören.
Wer gut schmert, der gut fährt Bestechung ist unverzichtbar, um voranzukommen (auch hochdt: Wer gut schmiert, d. g. f.); oder allgemeiner: wer weiterkommen will, muß etwas investieren. Der Schriftsteller Petronius singt in seinem Schelmenroman »Satyrica« ein ironisches Loblieb auf das Geld, mit dem alles viel besser gelinge: »Jeder der Geld hat, der segelt mit sicherem Wind.«1 Das gleichbedeutende deutsche Sprichwort »Gold geht durch alle Türen« findet sich lateinisch bereits bei Apu- leius (»Mit Gold pflegen auch Stahltüren durchbrochen zu werden«),2 geht aber noch weiter auf griechische Vorbilder zurück.3 Bekannt war in diesem Zusammenhang der Ausspruch Philipps II. von Makedonien, der gesagt haben soll, daß »alle Festungen erobert werden könnten, an die nur ein mit Gold be- ladener Esel herankommen könne«.4 Ein späteres Sprichwort drückte es so aus: »Wenn das Gold spricht, ist jedes Reden hinfällig« (lat.: »auro loquente omnis sermo inanis est«). Die deutsche Fassung »Wer gut schmert, der gut fährt« ist seit dem Mittelalter in einer Fülle von Varianten belegt; aus dem Schmieren von Wagenrädern entstanden (mit dem Sinn: Wer gut schmiert, d.h. sich gut um den Wagen kümmert, fährt schneller), wurde sie dann auf das »Schmieren« mit Bestechungsgeld übertragen. Ohne jedoch wohl an Bestechung zu denken, hat die Deutsche Bundesbahn 1984 den Satz zu einem Werbeslogan umgestaltet: »Wie man fährt, so spart man.«5 L: Büchmann 341; Duden 11,629; Fritsch 48; Otto 50 (Nr. 222) und 247 (Nr. 1252); Reichert 145; Wander 4,276-278 (v. a. Nr. 23). 1: Petron. 1 37: »Qujsquis habgt num- mo_s, secyra navigat aj^ra.« 2: Apul. met. 9,18: »cum ... auro soleant adamantinae etiam perfringi fores.« 3: Men. monost. 538: »Gold öffnet alles, sogar die Türen des Hades« (xpvaoc, 6' dvoiYEi icdvxa k' ouSod n\)\a$. 4: Cic. Att. 1,16,122: »omnia castella expugnari posse, in quae modo asellus onustus auro posset ascendere«; vgl. Hör. c. 3,16,13. 5: Juni 1984, Lübecker Hauptbahnhof; nach Mieder, AntiSprichwörter 116. sich sein Schulgeld wiedergeben lassen KÖNNEN nichts gelernt haben, unbefriedigende Leistungen zeigen (z.B.: Du kannst dir dein Schulgeld wiedergeben lassen! Auch: Sich sein Lehrgeld wiedergeben/zurückgeben lassen; auch mit »sollen«). 140
In dem Roman »Satyrica« des Petronius geraten zwei Gäste bei einem Gelage miteinander in Streit. Als darüber Giton; der schöne Begleiter des Erzählers, laut lachen muß; richtet einer der Streitenden seine Wut gegen ihn und wirft ihm neben der Beschimpfung »Wie der Herr, so der Sklave« (-♦ Wie der Herr, so's Gescherr) an den Kopf: »Du wirst schon merken, daß dein Vater das Lehrgeld für dich aus dem Fenster geworfen hat!«1 Daraus wurde ins Deutsche der Ratschlag übernommen, jemand solle »sich sein Schulgeld wiedergeben lassen«. Schon in der Antike hätte das, in die Tat umgesetzt, ein ansehnlicher Betrag werden können, denn Bildung kostete - wie so oft - viel Geld. L: Böttcher 80 (Nr. 460); Büchmann 341; Duden 11,640 und 12,294; Otto 219-220 (Nr. 1097); Reichert 216.1: Petron. 58: »lam scies patrem tuum mercedes perdidisse.« AUF DIE LEICHTE SCHULTER NEHMEN etwas nicht ernst nehmen, unterschätzen (auch: auf die leichte Achsel nehmen). Die »Schulter« gibt es so im Lateinischen noch nicht, aber die Wendung »mit leichtem Arm betreiben« bedeutete, daß man sich bei etwas nicht die angemessene Mühe gibt oder es nicht ernst genug nimmt: »Die Konsuln, die jenes mit leichtem Arm getan hatten [d.h. nur kraftlos betrieben hatten], brachten die Sache vor den Senat«, berichtet Cicero in einem Brief an Atticus vom 1. Oktober 54 v. Chr.1 Ähnliche Mühe- oder Sorglosigkeit bezeichnete die Redewendung »mit lockerem Togabausch tragen«.2 Da etwas, was ohne großen Einsatz »mit leichter Hand« (oder auch ganz locker »mit links«) ausgeführt wird, schneller und leichter von der Hand geht, hat sich im Deutschen heute für »mit leichter Hand« der positivere Sinn von »mühelos, mit Leichtigkeit« durchgesetzt. L: Büchmann 329; Duden 11,640; Otto 58 (Nr. 271). 1: Cic. AU. 4,19(17),3: » Consu- les, qui illud levi brachio egissent, rem ad senatum detulerunt.« Vgl. Cic. Att. 2,1,6: »mit weichem Arm« (»molli bracchio«); Er. ad. 1,4,27. 2: Hör. s. 2,3,172 (»ferre sinu laxo«). 141
EIN SCHWARZER TAG ein Tag voller Mißerfolge oder Katastrophen. In der griechisch-römischen Antike gab es angeblich die Sitte, für schöne Tage weiße Steinchen, für schlechte Tage schwarze Steinchen zurückzulegen, um hinterher die Zahl der guten und schlechten Tage zu vergleichen.1 Nach einem Persius-Kom- mentar sei dies im Ursprung eine kretische Sitte gewesen, »da die Kreter, die definierten, daß das Leben aus Freude bestehe, freudige Tage mit weißem Steinchen und traurige mit schwarzem anzeigten, später eine Zählung der Steinchen vornahmen und schauten, wie viele freudige Tage im Jahr sie erlebt hätten, und sich vor Augen hielten, daß sie diese erlebt hatten«.2 Man konnte eine solche Bewertung im Kalender offenbar auch »mit Kreide oder Kohle«3 (also weiß bzw. schwarz) vornehmen. Entsprechend nannten die Griechen einen guten Tag oder Glückstag einen »weißen Tag«.4 Aber erst in Rom prägte man die umgekehrte Bezeichnung »schwarze Tage« für Tage, die man im Kalender als unheilvoll betrachtete. Dies waren vor allem die Tage, die den Kaienden, Nonen und Iden folgten, d.h. dem 1., 7. oder 9. und 13. oder 15. Tag jeden Monats. An diesen Tagen sollte man nichts Neues beginnen und keine Kulthandlungen vornehmen. Ein Tag konnte auch zum schwarzen Tag erklärt werden, weil sich an ihm eine bedeutende Katastrophe ereignet hatte, wie z.B. der Jahrestag der Schlacht an der Allia, einem Nebenflüßchen des Tiber im Nordosten von Rom, wo das römische Heer (der Überlieferung nach am 18. Juli 390 v. Chr.) von den Galliern vernichtet worden war (vgl. -♦ sein Schwert in die Waagschale werfen). In der Neuzeit ist vor allem der 25. Oktober 1929, an dem die Aktienkurse an der New Yorker Börse schlagartig fielen, als »Schwarzer Freitag« (»Black Friday«) in Erinnerung geblieben. L: Bartels 62; Böttcher 53 (Nr. 235-236) und 632-633 (Nr. 4115); Büchmann 366-367; Otto 64-65 (Nr. 299). 1: Belege bietet Otto 64-65 (Nr. 299); vgl. die Übertragung des Motivs auf das menschliche Schicksal bei Schiller, der in seinem »Lied von der Glocke« zu Beginn der 6. Strophe über das unbeschwerte Dasein eines Kindes dichtet: »Ihm ruhen noch im Zeitenschoße / Die schwarzen und die heitern Lose.« 2: Schol. zu Pers. 2,1, zitiert bei Otto 64 (Nr. 299). 3: »creta an carbone (notare)«, für Personen oder Dinge gebraucht: Hör. s. 2,3,246; Pers. 5,108. 4: Belegstellen bei Otto 65 (Nr. 299). Ähnlich kann man im Deutschen, wenn man ein glückliches Ereignis in Erinnerung behalten möchte, sagen: »Den Tag will ich mir im Kalender rot anstreichen.« 142
BEREDTES SCHWEIGEN ein aussagekräftiges Schweigen; ein Schweigen, das als solches einiges über das Verschwiegene verrät. Als Sprichwort: Mit Schweigen kann man viel sagen. Vgl. auch: Dazu sage ich jetzt nichts; keine Antwort ist auch eine Antwort. In seiner ersten Rede gegen den Verschwörer Catilina lehnt der Konsul und Redner Cicero eine Debatte des Senats über den Fall ab, vielmehr fordert er Catilina mit deutlichen Worten auf, ins Exil zu gehen. Dabei deutet er das Schweigen der Senatoren als stillschweigendes Einverständnis: »Was dich aber betrifft, Catilina: Indem sie ruhig bleiben, heißen sie es gut, indem sie es zulassen, beschließen sie es, und indem sie schweigen, schreien sie.«1 Das Motiv findet sich in verschiedenen Abwandlungen noch in anderen Werken Ciceros und bei anderen lateinischen Autoren.2 Die bekannte Rechtsregel »Wer schweigt, scheint zuzustimmen« (lat.: »Qui tacet, consentire videtur«) begegnet erst im 13. Jh. in den Dekretalen des Papstes Bonifaz VIII.3 In den Digesten des Kaisers Iustinian (533) wurde vorsichtiger formuliert: »Wer schweigt, stimmt nicht in jedem Falle zu; aber es ist doch auch wahr, daß er nicht leugnet.«4 L: Bartels 58-59; Böttcher 61 (Nr. 299); Büchmann 316; Duden 12,91. 392; Otto 339 (Nr. 1733-1734); Tosi 11-12 (Nr. 20-21). 1: Cic. Cat. 1,8,21: »De te autem, Catilina, cum quiescunt, probant, cum patiuntur, decernunt, cum tacent, clamant...« 2: Vgl. die Belege bei Otto 339 (Nr. 1733), der auch griechische Vorlagen nennt. 3: Bonifaz VIII., Über sextus decretalium 5,12,43. Vgl. Tosi 12 (Nr. 21) mit weiteren Belegen. 4: Dig. 50,17,142: »Qui tacet non utique fatetur: sed tarnen verum est eum non negare.« tiefes Schweigen ein völliges, dauerhaftes Schweigen. Nachem in Vergils »Aeneis« der trojanische Held Aeneas La- tium erreicht hat, erregt die ihm übelgesonnene Göttin Juno Krieg mit den italischen Stämmen. In einer Götterversammlung bittet Venus für ihren Sohn Aeneas und dessen Sohn As- kanius. Da beginnt Juno eine erbitterte Gegenrede mit den Worten: »Was zwingst du mich, [mein] tiefes Schweigen / zu brechen und vernarbten Schmerz durch Worte zu entblößen?«1 »Tief« ist auch heute noch meistens ein Schweigen, dessen Aufhebung vom Schweigenden nicht gewünscht ist. 143
L: Böttcher 70-71 (Nr. 380-381); Büchmann 324; MIetzko 107. 120. 1: Verg. Aen. 10,63-64: »Quid me alta silgntia cegis / rympere et Qbductym verbis volgare dolßz rem?« sein Schwert in die Waagschale werfen etwas mit militärischer Macht erzwingen, Willkür mit militärischer Überlegenheit rechtfertigen; häufig auch nur: etwas durch eigenes Zutun durchsetzen; auch unter Ersetzung des »Schwertes« durch beliebige andere Substantive, z. B.: seinen politischen Einfluß in die W. w.: etwas ins Spiel bringen, etwas geltend machen (und dadurch den Ausschlag geben). Der Sage nach nahmen im Jahre 390 v. Chr. nach der Schlacht an der Allia (vgl. -♦ schwarzer Tag) die Gallier Rom ein und forderten 1000 Pfund Gold als Lösegeld für den Abzug aus der Stadt.1 Als sich der römische Offizier Quintus Sulpicius über die dafür verwendeten falschen Gewichte der Gallier beklagte, soll der Gallierkönig Brennus (so nennt ihn Livius als erster) auch noch sein Schwert in die Waagschale geworfen haben; mit dieser Geste erhöhte er nicht nur die Menge des zu zahlenden Goldes, sondern wies auch unübersehbar auf die Möglichkeit des Siegers hin, Gewalt anzuwenden. Darüber hinaus soll der König das für die Römer schmachvolle Wort »Wehe den Besiegten!« (lat.: »Vae victis!«) gerufen haben, das in der Antike bald darauf sprichwörtlich wurde;2 dies kann man auch heute noch deutsch oder lateinisch zitieren, um auf das völlige Ausgeliefertsein eines Unterlegenen hinzuweisen. L: Bartels 185; Böttcher 52 (Nr. 232-234); Büchmann 366; Duden 12,423. 480; MIetzko 1 37. 1: Die Geschichte wird erzählt von Liv. 5,48,9. 2: Flor. 1,1 3,1 7; Fest, de verb. sign. S. 372 Müller; Plut. Cam. 28,6. Zitiert bei Plaut. Pseud. 1317. SEHEN UND GESEHEN WERDEN sich bewußt sehen lassen, um sich auf dem Laufenden zu halten und das eigene Image zu pflegen. Der römische Dichter Ovid vergleicht in seiner »Liebeskunst« die Frauen, die in großen Schwärmen im Theater oder bei Zirkusspielen zu sehen sind, mit Bienen und Ameisen und fügt 144
hinzu: »Um zu sehen kommen sie, und sie kommen um gesehen zu werden; dieser Ort ist ein Schaden für züchtige Keuschheit.«1 Im Englischen führte der Dichter Chaucer2 im 14. Jh. das Motiv, Ben Jonson3 später die Wendung »To see and be seen« ein. Mit der Ovidrezeption im Humanismus wurde sie auch im Deutschen gängig. L: Macrone 199.1: Ov. ars 1,99-100: »Spgctatym veniynt, veniynt spectgntur ut ipsae: / jlle locus casti damna pudQris habet.« 2: Die Frau von Bath »had the better leisure for to play / And for to see, and eke for to be seen / Of lusty (d. h. vibrierend) folk«. 3: In seinem Hochzeitsgedicht »Epithalamion« (1609): »As they came all to see and to be seen.« S: Engl. »To see and be seen«. BESSER SPÄT ALS NIE etwas kommt zwar spät zustande, aber es kommt immerhin zustande; auch (scherzhaft-ironisch): Jemand kommt doch sehr spät! Mit dem Zusatz »besser spät als nie« (lat.: »potius sero quam numquam«) forderten nach dem Bericht des Livius die Konsuln des Jahres 445 v. Chr.; Marcus Genucius und Gaius Cur- tius; die Senatoren zu beherztem Handeln auf.1 Ziel ihrer Attacken war der -♦ Volkstribun Gaius Canuleius, der in der heißen Phase der Ständekämpfe durch ein Gesetz die Eheschranke zwischen Patriziern und Plebejern (-* der Plebs) beseitigen wollte. In Schillers »Wallenstein«, 2. Teil (Die Piccolomini), ruft gleich zu Beginn der Feldmarschall Illo dem eintreffenden Kroatengeneral Graf Isolani zu: »Spät kommt Ihr - doch Ihr kommt! Der weite Weg, / Graf Isolan, entschuldigt Euer Säumen.« Die von Isolani in demselben Stück geäußerte und sprichwörtlich gewordene Maxime »Der Krieg ernährt den Krieg«2 geht übrigens ebenfalls auf Livius zurück.3 L: Böttcher 361 (Nr. 2314); Büchmann 333; Duden 11,670 und 12,71.1: Liv. 4,2,11. 2: 1,2,136. 3: Liv. 34,9. S: Engl. »Better late than never«; frz. »Mieux vaut tard que ja- mais«. Das Spiel ist aus! Es ist vorbei. Oft auf Verbrechen bezogen: Jemand ist / Du bist überführt. 145
Der römische Kaiser Augustus soll auf seinem Sterbebett gesagt haben: »Und wenn es denn / wohl gut ist, gebt Beifall dem Spiel / und laßt uns alle mit Freude nach Hause gehen!«1 Damit bezeichnete er sein Leben als Theaterstück, das er als Schauspieler nun zu Ende gespielt habe. Als Abschlußwort für eine Theatervorstellung stellt sich auch der nachantike Satz »Das Spiel ist vorbei« (lat.: »Acta est fabula«) dar, der allerdings zugleich dieselbe Bedeutung annahm wie bereits der antike Verzweiflungsruf »actum est (de me)« (»es ist aus/vorbei [mit mir], es ist [um mich] geschehen«).2 Heutzutage ist das »Spiel«, das aus ist, meistens eine List, ein Betrug oder ein anderes Verbrechen. L: Zanoner9 (Nr. 33). 1: Suet. Aug. 99: »ei Se n | ex01 KoXcoq tu) Kaiyviü) Öoie Kpo- xov | Kai Trgvxeq niiäc; M^ä xaP<*c, Kpcme|ivaTe« (ed. Ailloud, 1954). 2: Beispielsweise Ter. Eun. 54-55; griech. KenpaKrai Eur. Hipp. 778; vgl. Er. ad. 1,3,39. S: Engl. »The game is over«; ital. »Lo spettacolo e finito.« NICHT SPRUCHREIF SEIN noch nicht entscheidungsreif (auch: veröffentlichungsreif) sein. »Schuldig« und »nicht schuldig« lautete lateinisch »con- demno« (»ich verurteile«) bzw. »absolvo« (»ich spreche frei«). Wenn der Sachverhalt allerdings noch unklar war und man daher ein erneutes Beweisverfahren für notwendig hielt, konnte man als Geschworener »Non liquet« (es ist nicht flüssig, klar, einleuchtend) auf dem Stimmtäfelchen notieren. Beispielsweise berichtet Cicero in seiner Verteidigungsrede für Cluen- tius über einen früheren Prozeß im Jahre 74 v. Chr., in dem Cluentius der Ankläger gewesen war: »Einsichtsvolle Männer, die noch durch die alte Schule der Gerichte gegangen waren, vermochten weder diesen ganz und gar schuldigen Menschen freizusprechen, noch wollten sie ihn, bei dem man vermutete, daß Geld gegen ihn eingesetzt worden sei, ohne weiteres verurteilen, solange diese Sache noch nicht untersucht war; sie erklärten also, der Fall sei ihnen nicht klar.«1 Noch heute bedeutet »non liquet« im Zivilrecht die Feststellung, daß ein Sachverhalt uneindeutig geblieben ist und daß weder Beweise dafür noch solche dagegen vorliegen. L: Bartels 116; Büchmann 315; Duden 12,363; Mletzko 64. 1: Cic. Cluent. 28,76: »Deinde homines sapientes et ex vetere illa disciplina iudiciorum, qui neque absolvere 146
hominem nocentissimum possent neque eum, de quo esset orta suscipio pecunia op- pugnatum, re illa incognita primo condemnare vellent, non liquere dixerunt.« Vgl. Cell. 14,2; Clc. Caec. 10,29; Qulnt. inst. 3,6,12. einen Stein rühren großes Mitleid erregen, selbst den Gefühllosesten beeindrucken (häufiger noch: einen Stein erweichen; zum Steinerweichen: höchst mitleiderregend). Der Stein steht bereits bei den lateinischen Komödiendichtern Plautus und Terenz als Bild für einen gefühllosen und dummen Menschen; man hört dort: »Was stehst du so da; du Stein?« oder »Du hältst mich wohl ganz für einen Stein, nicht für einen Menschen!«1 In der späteren Dichtung wurde das Rühren eines unbeweglichen Herzens zum häufigen Motiv, wofür allerdings die Wendung »Stahl bewegen« (»adamanta movere«) bevorzugt wurde: »Mit Tränen wirst du Stahl bewegen.«2 L: Duden 11,687; Otto 4-5 (Nr. 19). 1: Ter. Heaut. 831 bzw. Hec. 214; weitere Stellen nennt Er. ad. 1,4,89. 2: Ov. ars 1,659: »lacrlmls adamanta movgbis.« Vgl. Ov. am. 3,7,57; Trist. 4,8,45; Martial. 7,99. die Suppe auslöffeln (, die man sich eingebrockt hat) mit den Folgen einer Handlung fertig werden müssen, für etwas geradestehen müssen (auch: Wie man's einbrockt, muß man's essen / Selbst eingebrockt, selbst ausgegessen). In der Komödie »Phormio« des römischen Dichters Terenz sagt der Schnorrer Phormio zu seinem Freund Geta, daß er mit den Schwierigkeiten seiner Idee, sich ein Mädchen zu verschaffen, nun selbst fertigwerden müsse: »Du hast es eingebrockt, du mußt es auslöffeln.«1 Das lateinische Verb für »einbrocken« (»interere«) bedeutet eigentlich »hineinreiben«, so daß der Grammatiker Donat anmerkte, so werde unter Bauern von der Benutzung eines Knoblauchmörsers gesprochen.2 Das deutsche Wort »einbrocken« stammt dagegen von »brechen« und bezieht sich auf das Hineinbrechen von Brot in die billige und daher jahrhundertelang in den breiten Bevölkerungsschichten vorherrschende Brotsuppe. Erasmus von Rotterdam überliefert für das frühe 16. Jh. ein 147
anderes, aber gleichbedeutendes lateinisches Sprichwort: »Was du dir auf den Spinnrocken gelegt hast, mußt du auch spinnen.«3 In heutigem Deutsch entspricht dem - viel abstrakter - auch: »Wer a sagt, muß auch b sagen.« L: Büchmann 314; Duden 11,707 und 12,62; Mletzko 1 3. 29. 109; Otto 1 75-1 76 (Nr. 869); Wander 4,975 (Suppe 74). 1: Ter. Phorm. 318: »Tute hoc intrlstj; tibi o_mne est gxedgndum...« 2: »napoiiiia apta parasito, quae de cibo est. Hoc autem inter rusticos de alliato moretario dici solet« nach Otto 1 75-176 (Nr. 869). Vgl. Er. ad. 1,1,85. 3: Er. ad. 1,1,85. B: Eugen Roth, Gedicht »Immer dasselbe« (1948): »Ein Mensch vor einer Suppe hockt, / Die ihm ein Unmensch eingebrockt...« S: Engl. »Asyou have brewed, so you mustdrink«. T Tabula rasa machen »reinen Tisch machen«, d.h.: einen Streit bereinigen, gründlich Ordnung herstellen, einen Neuanfang ermöglichen. In seiner »Liebeskunst« empfiehlt der Dichter Ovid; von Schmeicheleien und Bitten in Liebesbriefen reichlich Gebrauch zu machen. Dabei spricht er von den »freigekratzten Täfelchen« (»tabellae rasae«),1 d.h. den Wachstäfelchen, auf denen Mitteilungen für den täglichen Gebrauch eingeritzt und nach Erfüllung ihres Zwecks durch Glättung des Wachses wieder entfernt wurden, so daß die Tafel erneut beschrieben werden konnte. Nun hatte der griechische Philosoph Aristoteles in seiner Seelenlehre das Bild einer unbeschriebenen Wachstafel für den Verstand des Menschen verwendet: Er sei wie eine Wachstafel, die dafür bestimmt sei, beschrieben zu werden (vgl. dt. »unbeschriebenes Blatt«); für solche Überlegungen griff im 13. Jh. Albertus Magnus den Ausdruck »freigekratzte Tafel« (tabula rasa) 148
£ % # Tobulo roso machen.
auf;2 auch bei Thomas von Aquin symbolisierte diese Tafel noch die aufnahmebereite menschliche Seele.3 Im Humanismus wurde jedoch im Zuge der Ovidrezeption die »tabula rasa« in ihrer ursprünglichen Funktion als römische Form des Schmierpapiers wiederentdeckt. Daher wird sie parallel zu der deutschen Redewendung »reinen Tisch machen« anstelle des Tisches verwendet, um einen - fast noch radikaleren und gründlicheren - Neuanfang zu bezeichnen. L: Bartels 174; Duden 11,708. 723 und 12,448; Mletzko 97. 121. 1: Ov. ars 1,437. 2: De anima 3,2,17: »tabula rasa et plana et polita« (eine glatte, ebene, saubere Tafel) nach Büchmann 307. 3: Summa theologiae 1,79,2: »Der menschliche Verstand ... ist am Anfang nach den Worten des Philosophen »wie eine Tafel, auf der nichts geschrieben ist« (»intellectus humanus... in principio est >sicut tabula, in qua nihil scriptum«, ut Philosophus dicit«). in den Tag hinein leben ohne Sorge um die Zukunft leben, ohne Plan und Ziel leben. Diese Redensart ist als »in diem vivere« unter den lateinischen Autoren vor allem bei Cicero gängig, der z. B. sagt: »Ein Kennzeichen von Barbaren ist es, in den Tag hinein zu leben.«1 Eras- mus von Rotterdam kennt um 1500 auch die Form »ex tempore vivere«2 (»aus dem Augenblick«, d.h. aus dem Stegreif leben), womit sehr deutlich wird, daß es dieser Wendung um das un- geplante, »unvoreingenommene« und dadurch so erholsame Leben geht. Entsprechend heißt es in Thomas Manns »Zauberberg«: »Ich erhole mich am besten, wenn ich so in den Tag hinein lebe, ohne viel Abwechslung.«3 L: Duden 11,710; Otto 114 (Nr. 537). 1: Cic. Cic. de or. 2,40,169: »Barbarorum est in diem vivere.« Vgl. Phil. 2,34,87; Tusc. 5,11,33; Liv. 22,39,13; 27,12,4; 40,8; Colum. 3,3,6; Plin. ep. 5,5,4; Hieron. ep. 7,5. Ähnlich Cic. Phil. 5,25 (»in horam vivere«). 2: Er. ad. 1,8,62. 3: Frankfurt 1960 (Erstausg. 1924), S. 199 nach Duden 11,710. jeder Topf findet seinen Deckel Jeder Mensch findet einen passenden Partner; bisweilen negativ: Jeder Schlechte findet einen Gesinnungsgenossen. Der Kirchenvater Hieronymus (um 350-420) überliefert den Satz: »Diesem Topf ist der würdige Deckel zugekommen.«1 Damit meint er jedoch, daß das Volk nun die Regierung erhalten 150
jeder Topf findet seinen Deckel.
habe, die seiner würdig sei, die zu ihm passe. Im gleichen Sinne sagt er an anderer Stelle kritisch: »Und sofort fand der Topf seinen Deckel, und dreckige Spuren vermischten die reinste Quelle römischen Glaubens mit Kot.«2 Das Sprichwort, das nach einer Bemerkung des Hieronymus im Volk sehr verbreitet war, geht wahrscheinlich auf die griechische Vorlage »Die Schüssel fand den Deckel« (griech. eupev r\ Xonac, tö 7Uü|ia) zurück, die aber nur als Titel einer Satire Varros (1. Jh. v. Chr.) bekannt ist. Während der Satz in seiner italienischen Form den antiken Sinn behalten hat, wurde er im Deutschen positiv auf zwei Partner, die so zueinander passen, wie wenn sie füreinander bestimmt sind, umgedeutet. Für die ursprüngliche Aussage des Sprichworts sagt man nunmehr nüchtern-sachlich: »Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient.« L: Mletzko 22. 33. 122; Otto 267-268 (Nr. 1355); Zanoner 9 (Nr. 25). 1: Hieron. ep. 7,5. 2: Hieron. ep. 127,9. Vgl. adv. Rufin. 3,24. S: Ital. »Questa petola trova il suo degno coperchio«. ein Tribunal abhalten richten. Vor ein Tribunal bringen: vor ein Gericht bringen. Als »Tribunal« (lat.: »tribunal«) bezeichnete man ursprünglich einen erhöhten Sitzplatz (vgl. »Tribüne«), besonders den, den ein Beamter oder Feldherr während seiner Amtshandlungen einnahm. So verstand man mit der Zeit unter »tribunal« einen Amtssitz. Zur Bedeutung »Gericht« kam es dann, weil der Beamte, der besonders häufig in der Öffentlichkeit auf seinem Tribunal zu sehen war, der dem Gerichtswesen vorstehende Prätor war. Besonders häufig wurde der Begriff des Tribunals später für Sondergerichte verwendet (»Revolutionstribunal der Französischen Revolution«, »Kriegsverbrechertribunal von Nürnberg«); es kann aber auch in scherzhaft-übertragener Bedeutung jede Aussprache bezeichnen, in der jemand mit anderen streng ins Gericht geht, wie z.B.: »Der Schulleiter machte aus der Dienstbesprechung ein Tribunal.« 152
Triumph großer Erfolg. Triumphe feiern: großen Erfolg haben. Einem erfolgreichen römischen Heerführer stand bei seiner Heimkehr das Recht auf einen Triumph zu; d.h. das Recht, seinen Feldzug durch eine feierliche Prozession des Heeres zum Jupitertempel zu beenden. Da allerdings für diese Gelegenheit der Senat eine Ausnahmegenehmigung erteilen mußte, die das Betreten der Stadt durch das Heer erlaubte, gab es faktisch so etwas wie ein Genehmigungsrecht des Senates für Triumphe. Der Triumphzug folgte einer festen Marschroute und einem bestimmten Aufbau. An der Spitze des Zuges gingen die Senatoren. Ihnen folgte der Teil, der für das Publikum der interessanteste gewesen sein dürfte: Die Vorführung der Beute und die Darstellung der Kriegstaten. Zu diesem Zweck wurden zum Beispiel auch Bilder der geschlagenen Schlacht mitgetragen, oder was auch immer sonst geeignet schien, den Krieg dem Publikum zu illustrieren. Es folgten anschließend die Gefangenen, wobei es nicht darauf ankam, möglichst viele, sondern möglichst hochrangige Gefangene vorzuführen. Sie schritten dem Wagen des Triumphators unmittelbar voraus. Dieser stand in einer Quadriga. Die Verwendung von vier Schimmeln wurde erst seit Julius Caesar üblich. Am Tag des Triumphes trug der Triumphator eine spezielle Tracht, nämlich eine purpurfarbene Toga, die ihm aus dem Tempelschatz des Jupiter zur Verfügung gestellt wurde. Diese Tracht war die alte Königstracht, wie sie die Könige Roms in alten Zeiten getragen haben sollen, aber natürlich auch die Tracht des Himmelskönigs Jupiter selbst. Ebenfalls in Anlehnung an die Jupiterstatue wurde das Gesicht des Triumphators rot bemalt. Bekanntermaßen stand hinter ihm ein Sklave, der ihm von Zeit zu Zeit sagen mußte: »Respice post te, te hominem esse memento« - »Blicke hinter dich und bedenke, daß du ein Mensch bist!« Wahrscheinlich aber brauchte sich der Triumphator meistens gar nicht umzublicken, um sich als Mensch zu fühlen, denn direkt hinter seinem Wagen folgten die Soldaten, die zu diesem Anlaß respektlose und häufig zotige Sprechchöre über ihren Feldherren vortrugen. L: Duden 11,736. 153
* Triumvirat eine gemeinsame Herrschaft dreier Personen, auch im übertragenen Sinne. »Triumvir« (bzw. »Tresvir«: »Dreiermann«) war ein häufiger Titel im alten Rom. Er bezeichnete ein Mitglied eines Kollegiums, das aus drei Männern (»tres viri«) bestand. Es gab ein Dreimännerkollegium, das für die Münzprägung zuständig war, und ein weiteres, das dem Prätor bei der Rechtspflege half. Daneben wurden derartige Kollegien auch für besondere Zwecke gebildet, z. B. mit der Aufgabe der Landverteilung. In die historische Überlieferung sind besonders zwei Triumvirate eingegangen: Das sogenannte 1. Triumvirat, bestehend aus Caesar, Pompeius und Crassus (60 v. Chr.), und das sogenannte 2. Triumvurat, bestehend aus Octavian, Marc Anton und Lepidus (43 v. Chr.). Daß das erste Triumvirat überhaupt als ein solches bezeichnet wird, ist etwas irreführend, bildeten die drei Triumvirn hier doch kein Kollegium und hatten keine Ämter, weder ordentliche noch außerordentliche, inne. Stattdessen war das sogenannte 1. Triumvirat eine reine Privatabsprache zwischen Caesar, Pompeius und Crassus, in der die drei eine politische Zusammenarbeit vereinbarten. Unmittelbares Ziel des Bündnisses war es, Caesar zum Konsul zu machen, was auch für das Jahr 59 gelang. Im Gegensatz dazu hatte das sogenannte 2. Triumvirat tatsächlich staatsrechtliche Bedeutung, wurden hier doch drei Männer nach der Ermordung Caesars (44 v. Chr.) mit der Wiederherstellung des Staates (als »tresviri rei publicae constituendae«) beauftragt. Tatsächlich verbirgt sich hinter diesem Titel eine Alleinherrschaft dieser drei Männer, die diese weidlich ausnutzten, nicht zuletzt zur schonungslosen Verfolgung ihrer politischen Gegner. Ihr berühmtestes Opfer dürfte Cicero gewesen sein, der allzu heftige Reden gegen Marc Anton geschleudert hatte. Die Bedeutung des »Triumvirats« als einer geteilten, aber doch unumschränkten Herrschaft mag somit auf dieses Vorbild zurückgehen. L: Böttcher 61 (Nr. 301). 154
* TUSCULUM ruhiger, behaglicher Landsitz. In dem Ort Tusculum südlich von Rom, am Fuß der Albanerberge in der Nähe des heutigen Frascati, besaßen viele reiche Römer Landsitze. So liebte es z.B. Cicero (106-43 v. Chr.), sich in sein »Tusculanum« (seinen »tuskulanischen« [Landsitz]) zurückzuziehen. Er hatte seine Villa dort 68 v. Chr. erworben. »An meinem Tusculanum habe ich eine solche Freude, daß ich mich nur rundherum wohlfühle, wenn ich hier bin.« schrieb er im Februar 67 an seinen Freund Atticus.1 Er richtete sich eine Bibliothek ein und genoß auf seinem Landsitz vor allem die ruhige, ungestörte wissenschaftlich-literarische Tätigkeit. Bekannt wurde der Ort durch Ciceros »Tuskulanische Gespräche« (Tusculanae disputationes) über verschiedene Fragen der Ethik, die er dort in unfreiwilliger Zurückgezogenheit unter der Diktatur Caesars (45/44 v. Chr.) verfaßte. Obwohl in der Gegend heute einige Mauerreste erhalten sind, ist der genaue Standort von Ciceros Villa unbekannt. Der Ort »Tusculum« ist dagegen für erholsame, geistig fruchtbare Zurückgezogenheit ein Begriff geblieben. L: Böttcher 63 (Nr. 316); Büchmann 368.1: Cic. Att. 1,6,2: »Nos Tusculano ita delecta- mur ut nobismet ipsis tum denique cum illo venimus placeamus.« B: »Sammlung Tusculum« heißt eine umfangreiche Reihe zweisprachiger Textausgaben antiker Werke im Verlag Artemis & Winkler. 155
u Ein Unglück kommt selten allein Auf Unangenehmes folgen oft weitere Schwierigkeiten, Unglücke häufen sich oft. Auch unter Ersetzung des Substantivs, z. B.: Ein Maulwurf kommt selten allein. In der »Aulularia« (Goldtopf-Komödie) des Dichters Plautus kreisen die Gedanken des alten Euclio allein um seinen Goldtopf, der ihm gestohlen wurde. Als ihn in dieser Situation der junge Lyconides um Verzeihung für eine Schuld bittet (er meint die voreilige Liebe zu Euclios Tochter), bezieht Euclio dies wie selbstverständlich auf diesen Diebstahl. Als er dann aber begreift, daß Lyconides von dem Kind spricht, das seine Tochter erwartet, ruft er aus: »So kleben sich mir an ein Übel üble Dinge in Menge!«1 Bei Terenz findet sich »ein Unglück aus dem anderen«.2 Im Deutschen gibt es neben »Ein Unglück kommt selten allein« auch Varianten wie »Ein Unglück tritt dem andern auf die Fersen«. Ein Sprichwort stimmt halt selten allein. L: Böttcher 54 (Nr. 244) und 125 (Nr. 754); Duden 11,748 und 12,475; Otto 207 (Nr. 1019). 1: Plaut. Aul. 801: »ita mihi §d malum malgfi res plyrumae se adglytlngnt!« 2: Ter. Eun. 988: »aliud ex alio malum«. Viele weitere Belege und griechische Vorläufer nennt Otto 207 (Nr. 1019). USUS SEIN üblich; allgemeine Praxis sein. Zumeist in der Form: Das ist hier so Usus. Das lateinische Wort »usus« (vom Verb »uti«: gebrauchen) bedeutet »Gebrauch, Nutzen« und findet sich demgemäß in deutschen Fremdwörtern wie »Utensilien« (Gebrauchsgerätschaften) oder »Utilitarismus« (Prinzip der Nützlichkeit). Daneben erhielt es die Bedeutungsnuance »Ausübung, Praxis, Vorgehensweise« und ist in diesem Sinne in die deutsche Wendung »Usus sein« eingegangen. 156
V * Valet sagen aufgeben, verlassen. Hierbei handelt es sich um eine Verkürzung der lateinischen Abschiedsformel »valete« (Lebt wohl!), so daß »Valet sagen« ein »Lebewohl sagen« zu einer Sache oder Tätigkeit bedeutet. So heißt es beispielsweise bei Marion Gräfin Dönhoff: »Er rief seine Zuhörer auf, dem Materialismus Valet zu sagen und sich wichtigeren Aufgaben zuzuwenden.«1 L: Duden 11,753.1: Die Bundesrepublik in der Ära Adenauer, Reinbek 1963, S. 63 nach Duden 11,753. Vandausmus (auch: Wandalismus) zerstörungswütiges Verhalten, sinnlose Verwüstung; Vandale/Wandale: brutaler, zerstörungswütiger Mensch. Die Vandalen waren ein ostgermanisches Volk, das in der Völkerwanderungszeit eine bedeutende Rolle spielte. Von 429 bis 534 existierte ein eigenständiges Vandalenreich in der Gegend des heutigen Tunesien, das außerdem die Balearen, Sardinien, Korsika und Sizilien umfaßte.1 Berühmt als Zerstörer und Plünderer wurden die Vandalen besonders durch die zweiwöchige Plünderung Roms unter Geiserich (455), die von Prokop drastisch geschildert wird.2 Im Humanismus des 16. Jh. wurde das Bild der Germanen als Kulturzerstörer neu belebt, im Dreißigjährigen Krieg auf die Schweden bezogen (der schwedische König trug die »Goten und Vandalen« im Titel) und auch im Frankreich des 18. Jh. z. B. bei Diderot und Voltaire gepflegt. An einzelnen Stämmen wurden die Hunnen, Goten, Tataren und - allmählich überwiegend - die Vandalen genannt.3 Den Begriff »Vandalismus« prägte auf diesem Hintergrund Henri-Baptiste Gregoire (1750-1831), Bischof von Blois, während der Franzö- 157
sischen Revolution: Am 10. Januar 1794 verurteilte er mit dem Wort »vandalisme« das zunehmende Wüten der Republikaner gegen Kunstwerke.4 Am 31. August erschien sein »Bericht über die Zerstörungen, verursacht durch den Vandalismus«, in dem er die Kunstvernichtung und die Bücherverbrennungen der Jakobiner geißelte.5 In seinen »Erinnerungen« bemerkte er dazu: »Ich schuf dies Wort, um die Sache zu töten.«6 Heutzutage wird der Begriff hauptsächlich für Sachbeschädigungen und Zerstörungen in Städten durch zumeist jugendliche Täter gebraucht.7 L: Böttcher 89 (Nr. 520); Büchmann 384-385. 1: Aur. Vict. 1,13. 2: Prok. 15. 3: In Deutschland finden sich die »Vandalen« Im übertragenen Sinne seit 1 772: Büchmann 385 mit Belegen und weiterer Literatur. 4: Alexander Demandt, Vandalismus. Gewalt gegen Kultur, Berlin 1997, S. 15. 5: »Rapport sur les destructions operees par le vandalisme«, im Konvent zu Paris verlesen am 28. 8. 1794, gedruckt erschienen am 31. 8. 1794: Demandt [s.o.] S. 15. 6: »Memoires« (Paris 1837) 1,346. 7: Zu diesem Phänomen ausführlich: Edwin Kube und Leo Schuster, Vandalismus. Erkenntnisstand und Bekämpfungsansätze, Wiesbaden, 3. Aufl. 1985. VERBOTENE FRÜCHTE etwas Verlockendes, das nicht angetastet werden darf; ein verbotener Genuß. Als Sprichwort: Verbotene Frucht schmeckt am besten / Verbotene Früchte schmecken gut. Das Motiv der verbotenen Frucht ist vor allem aus der Sünden- fallerzählung in 1. Mose 3,2-6 bekannt, in der Eva auf Geheiß der Schlange Adam dazu bringt, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Allerdings sind »verbotene Speisen« und die Verlockung, die von Verbotenem ausgeht, auch ein beliebtes Motiv bei dem römischen Dichter Ovid: In der Legende vom Goldenen Zeitalter in seinen »Metamorphosen« beschreibt er, wie die bisher nur von Pflanzen lebenden Menschen plötzlich danach trachteten, Tiere zu erlegen, und damit ihre paradiesische Unschuld zerstörten: »Woher kommt dem Menschen so großer Hunger nach verbotenen Speisen?«1 Auch ohne die »Speisen« ist der Grundgedanke bei Ovid sehr häufig.2 So stellt er beispielsweise in seinen »Amores« dar, daß in der Liebe Verbote völlig vergeblich seien (im Gegenteil: »Wer sündigen darf, sündigt weniger«); er begründet dies mit der allgemeinen Erkenntnis über die menschliche Natur: »Wir streben immer nach Verbotenem und wünschen Verwehrtes.«3 158
L: Böttcher 77 (Nr. 439) und 94 (Nr. 539); Duden 11,222; Otto 183 (Nr. 948). 1: Ov. met. 15,1 38: »ynde famgs homini vetitorum tanta cibo_rum est?« 2: Alle Belege nennt Otto 183 (Nr. 948). 3: Ov. am. 3,4,1 7: »Nitimur in vetitym sempe/ cupimusque ne- gata.« sein Veto einlegen etwas durch sein Einspruchsrecht zum Scheitern bringen. »Veto« (»Ich verbiete«) war die Formel, mit der der -► Volkstribun die Amtshandlung aller anderen Amtsträger unterbinden konnte. Dieses Recht war ursprünglich als Schutzmaßnahme der plebejischen Bürger (-> Plebs) gegen die Willkür patrizi- scher Amtsträger entstanden, wurde aber im Verlauf der Ständekämpfe legalisiert und blieb ein wichtiges Instrument der Politik. Entsprechend versteht man heute unter dem Vetorecht das Recht einer einzelnen Person oder Instanz, einen Beschluß durch Einspruch aufzuheben. Anders als das moderne Vetorecht war das Recht des Volkstribunen an das persönliche Einschreiten desselben gebunden, so daß es bei heftigen politischen Auseinandersetzungen nicht selten zu handgreiflichen Auseinandersetzungen kam, in denen wiederholt auch -♦ Volkstribunen ums Leben kamen. L: Bartels 208. EIN SELTENER VOGEL ein ungewöhnlicher Mensch. Der römische Dichter Persius (34-62 n. Chr.) schreibt in einer seiner Satiren, daß er sich freue, wenn seine Dichtung Erfolg habe, wo er doch ein »seltener Vogel« (»rara avis«) sei, doch habe er es nicht auf das Lob seines Publikums abgesehen.1 Mit dem Begriff des »seltenen Vogels« spielt Persius wohl auf das Motiv des weißen Raben (»corvus alvus«) an, der bereits den Griechen als große Seltenheit der Natur ein Begriff war; bei dem Satiriker luvenal (um 60-140) bezeichnete dieser einen Menschen mit sehr seltenen, ungewöhnlichen Eigenschaften (wie etwa dt. »ein bunter Hund«).2 Aber auch den »seltenen Vogel« gebrauchte luvenal in diesem Sinne, als er beschrieb, welche Voraussetzungen eine Frau mitbringen müsse, um als Ehe- 159
frau in Betracht zu kommen: Sie müsse bescheiden, attraktiv, reich, gebärfähig, ehrfürchtig gegenüber den Ahnen und jungfräulicher als die Sabinerinnen vor ihrem Raub sein - und damit sei sie in der Tat ein so »seltener Vogel« wie ein schwarzer Schwan.3 Nur (so fragt der Dichter dann auch): Wer könne eine solch auffallende Frau überhaupt ertragen? Eine ähnliche Ansicht vertrat der Kirchenvater Hieronymus: »So dürfte eine Frau gut und lieblich sein - womit sie jedoch ein seltener Vogel ist.«4 Im Deutschen begegnet der seltene Vogel im Sinne einer ungewöhnlichen Erscheinung erstmals bei Luther: »Und solt wissen, das von anbegynn der wellt gar eyn seltzam vogel ist umb eyn klugen fursten, noch viel seltzamer umb eyn frumen forsten.«5 Im Sprachgebrauch wandelte sich der »seltene« Vogel dann über den »seltsamen« auch in einem »komischen« Vogel um und kann heute für eine in beliebiger Hinsicht außergewöhnliche oder auffallende Person verwendet werden. L: Böttcher 82-83 (Nr. 479-481); Büchmann 340; Duden 11,659; Macrone 158; Mletzko 110. 1 34; Otto 51-52 (Nr. 232). 1: Pers. 1,46. 2: luv. 7,202: »Dennoch ist jener glücklich, auch seltener als ein weißer Rabe« (fejix [He tarnen, corvQ quoque ra/ior älbo). 3: luv. 6,165: »Rara avis in terns nigro_que simillima cycno.« 4: Hieron. adv. lov. 1,47: »Sic bona fuerit et suavis uxor, quae tarnen rara avis est«; vgl. adv. Pelag. 2,11; adv. Helvid. 20. 5: Von weltlicher Obrigkeit... (1523), Weimarer Ausg. 11,267. * ein (rechter) Vokativus einer, dem nicht zu trauen ist, gerissener Schlaumeier. Der Vokativ ist in der Deklination der Substantive der Anredefall; da man diesen oft in mißbilligendem oder strafendem Sinn anwendet (»[o] du...«), hat sich in zahlreichen deutschen Mundarten die Bezeichnung »Vokativus« für eine Person herausgebildet, bei der mit Schulbildung zugleich List und Verschlagenheit gepaart sind. So spricht Grimmeishausen im 17. Jh. von einem »Apotheker, welcher gar ein arger Vokativus ist.«1 Ludwig Tieck formulierte 1828 positiver: »Er ist ein aufgeräumter Kopf, er ist erst von der Schule gekommen, was man so einen Vokativus nennt.«2 Heutzutage ist das Wort dagegen kaum mehr gebräuchlich. L: Borchardt-Wustmann-Schoppe 498-499; Grimm 26,452-453.1: Vogelnest 2,6 nach Borchardt-Wustmann-Schoppe 498. 2: Mit Beleg bei Grimm 26,452. 160
Volkstribun gefährlicher Populist, Demagoge, Vertreter der großen Masse. Das Anfang des 5. Jh. v. Chr. geschaffene Amt des Volkstribunen (Sg. Volkstribun, lat.: »tribunus plebis«) stand im republikanischen Rom außerhalb der eigentlichen Ämterlaufbahn (Quästor - Ädil - Prätor - Konsul) und diente ursprünglich dazu, Bürger aus dem einfachen Volk (aus der »Plebs«; vgl. dt. maskulin -> der Plebs) vor Willkürmaßnahmen der Patrizier zu schützen. Doch leiteten die zwei (später auf zehn vermehrten) Volkstribunen auch die nach Stimmbezirken geordnete Volksversammlung der Plebs (»concilium plebis«), deren Beschlüsse (»Plebiszite«, lat.: »plebiscita«) seit 287 v. Chr. für das gesamte Volk bindend waren; außerdem konnten sie durch ihr Vetorecht (-* sein Veto einlegen) die Amtshandlungen der anderen Amtsträger verhindern. Dadurch wurde das Volkstribu- nat sowohl für die Durchsetzung von Gesetzen als auch zur Förderung der eigenen Karriere eine wichtige Handhabe. Negativ in die Überlieferung eingegangen sind dabei die Volkstribunen Tiberius und Gaius Gracchus, die 133 bzw. 123-121 v. Chr. auf diesem Wege Landreformen durchzusetzen versuchten, und Publius Clodius, der als Volkstribun 58 v. Chr. seinen Erzfeind Cicero heftig bekämpfte (vgl. -► pro domo reden). Im Rom des 14. Jh. wurde der Titel von Cola di Rienzo (1313-1354) wiederbelebt, der am 20. Mai 1347 als »Volkstribun« den Adel der Stadt entmachtete, die Wiedereinrichtung der römischen Republik verkündete und diverse Reformen in Angriff nahm, bis er Ende desselben Jahres am Widerstand und Bann des Papstes scheiterte und fliehen mußte. Heute ist die Bezeichnung gleichbedeutend mit einem machtbesessenen Politiker, der insbesondere durch glänzende Rhetorik das Volk verführt und zur Unterstützung seiner eigenen Ziele veranlaßt. L: Grimm 26,500. B: »Premier Koizumi profiliert sich als wortgewaltiger Volkstribun: In Asien könnte seine nationalistische Pose für Ärger sorgen«: Untertitel in: Der Spiegel 18 vom 30. 4.01,5.156. 161
w DIE NACKTE WAHRHEIT die schlichte, blanke, schonungslose Wahrheit. In einem Klagegedicht über den Tod seines Freundes Quintilius Varus (23/22 v. Chr.) lobt der Dichter Horaz alte Ideale, die der Verstorbene verkörpert habe: »Also hält den Quintilius ewiger Schlummer / gefangen? Wann wird je die Scheu und der Gerechtigkeit Schwester, / die ungebrochene Treue, und die nackte Wahrheit, / je einen finden, der ihm gliche?«1 Auch bei späteren Autoren (Quintilian, Apuleius, Augustinus, Laktanz) wurde dann das Adjektiv »nudus« (»nackt«; wie dt. »nackt« zugleich auch: einfach, unverhüllt) gern mit »veritas« (»Wahrheit«) verbunden. L: Büchmann 325; Böttcher 72 (Nr. 395-396); Duden 12,353; Mletzko 85; Reichert 198. 1: Hör. c. 1,24,7: »£rgo Quintiliym pe/petuus sopQr / yrget; cgj Pudor et lystitiae sorg/ / incorrypta Fides nydaque Veritas / quando ullum invenigt parem?« Vgl. Sen. ep. 49,12 (»veritatis simplex oratio«). Stille Wasser sind tief In einem stillen oder schüchternen erscheinenden Menschen stecken verborgene Talente oder Leidenschaften; (auch negativer.) wer harmlos erscheint, kann gefährlich sein; ein stilles Wasser: ein ruhiger Mensch. Der römische Historiker Curtius Rufus (1. /2. Jh. n. Chr.) überliefert in seiner leicht romanhaften »Geschichte Alexanders des Großen«, daß bei einem Festmahl der medische Magier Coba- res folgendes zum besten gegeben habe: »er fügte noch hinzu, was bei den Baktrern gemeinhin verbreitet war: Daß ein ängstlicher Hund heftiger belle als beiße [-♦ Hunde, die bellen, beißen nicht]; und daß alle ganz tiefen Flüsse mit ganz leisem Ton dahinflössen.«1 Schon damals dürfte damit gemeint gewesen sein, daß unter einem ruhigen Äußeren eines Menschen oft tiefere, ungeahnte Seiten verborgen sind. 162
L: Duden 11,782; Zanoner 15 (Nr. 100). 1: Curt. 7,4,13: »...altissima quaeque flumina minimo sono labi.« S: Ital. »aqua cheta«. Viele Wege führen nach Rom Ein Ziel ist auf vielen Wegen erreichbar, ein Erreichen des Ziels ist geradezu unvermeidlich (auch: Alle Wege f. n. R.). Im römischen Altertum war Rom politisch - so wie auf geistigem Gebiet Athen und Alexandria - das Zentrum der Mittelmeerwelt, das durch viele gut ausgebaute Verkehrswege zu Wasser und zu Lande aus allen Himmelsrichtungen erreichbar war. Als Bild für die Vielfalt von Mitteln und Wegen zu ein und demselben Ziel wurde jedoch zuerst das Reisen nach Athen verwendet: Kaiser Iulian Apostata (Kaiser 361-363) äußerte Verständnis dafür, daß man zur Philosophie ebenso wie zur Wahrheit auf vielen verschiedenen Wegen gelangen könne, denn »auch wenn einer nach Athen reisen wolle, so könne er dahin segeln oder gehen, und zwar könne er als Wanderer die Heerstraßen benutzen oder die Fußsteige und Richtwege, und als Schiffer könne er die Küsten entlang fahren oder wie Nestor das Meer durchschneiden.«1 Der Gedanke wurde dann auf Rom als das Zentrum des Westreiches übertragen. Im Mittelalter schrieb der englische Dichter Chaucer: »Verschiedene Wege führen verschiedenes Volk auf rechtem Weg nach Rom.« Zugespitzt zu »Alle Wege führen nach Rom« wurde der Satz von Jean de la Fontaine 1694: »Tous chemins vont ä Rome«. Von Voltaire wurden diese Worte 1750 in einem Brief aufgegriffen und vielleicht in der Folge ins Deutsche übergeben. Englisch erscheint diese Wendung dann erstmals 1872. Mit » Viele Wege führen nach Rom« drückt man vor allem Verständnis aus, wenn jemand ein Ziel auf andere, vielleicht unkonventionelle Weise erreichen will. Die stärkere Variante »Alle Wege führen nach Rom« kann abgesehen von demselben Sinn auch noch auf den Alleinvertretungsanspruch des (in Rom residierenden) Papstes für die gesamte Christenheit anspielen, etwa in dem Sinne: »Es gibt kein echtes Christentum außerhalb des Katholizismus« (vgl. den lateinischen Satz »Nulla salus extra ecclesiam« - »Kein Heil außerhalb der Kirche!«). L: Böttcher 87 (Nr. 506); Duden 11,786; Macrone 201. 1: Oros. 6,358t. 163
meine Wenigkeit (bescheiden oder vorgeblich bescheiden/scherzhaft): ich. Der römische Historiker Valerius Maximus sammelte im 1. Jh. n.Chr. in seinen »Denkwürdigen Taten und Aussprüchen« Beispiele für den Rhetorikunterricht. In der Widmung an Kaiser Tiberius spricht er ergeben von »meiner Wenigkeit« (»mea par- vitas«). Nach ihm herrschte »mea parvitas« vor, doch finden sich auch andere Vokabeln (»mediocritas, vilitas, humilitas, exiguitas, tenuitas« u.a.). Daneben entwickelte sich griechisch nach Lk. 1,48 (»Denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen«)1 die Bescheidenheitsfloskel »meine Niedrigkeit« (r| xoc- Tceivcooiq \iov), die sich in den ersten christlichen Jahrhunderten unterschiedlich gestaltete und fortsetzte.2 Durch Otfried3 fand die Wendung Ende des 9. Jh. ins Althochdeutsche Eingang, ins Neuhochdeutsche erstmals 1624 bei Martin Opitz.4 L: Böttcher 79 (Nr. 447-448); Büchmann 339; Duden 11,797; Mletzko 1 39. 1: Criech.: cm erceßXeyev km xr\v Taneivcoaiv ttjc, öo\iA.r|<; ootou 2: Beispielsweise Bischof Leon- tios von Neapolis auf Zypern (um 590-668), Leben des Hl. Johannes d. Barmherzigen, Erzbischofs von Alexandrien (Hg. von H. Geizer, Freiburg 1893) nach Büchmann 339; vgl. Götze, Zeitschrift für deutsche Wortforschung 9,1907,87ff. 3: Evangelienbuch »Der Krist«, Widmung an König Ludwig, V. 26: »unsu smahu nidir« (unsere geringe Niedrigkeit, in Anlehnung an »mea humilitas«); Buch 5,25,89: »smahi min« (»meine Kleinheit«). 4: Buch von der Teutschen Poeterey, Brieg 1624, Kap. 5: »weil mir meine Wenigkeit und Unvermögen wol bewust ist.« Zur weiteren Entwicklung vgl. Götze [s.o.] und E. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, 91 ff. Wenn zwei dasselbe / das gleiche tun, so ist es nicht dasselbe / das gleiche Zwei scheinbar gleiche Handlungen werden je nach Person und Umständen unterschiedlich bewertet; was einem hochstehenden Menschen erlaubt ist, ist einem anderen nicht unbedingt erlaubt. In der Komödie »Die Brüder« des römischen Dichters Terenz erziehen zwei Brüder ihre Söhne sehr unterschiedlich (der eine altrömisch-streng, der andere griechisch-tolerant); als der strenge Vater um die Moral der Jugendlichen fürchtet, beruhigt ihn sein Bruder damit, daß beide Söhne - bei ihrem klugen, vernünftigen und bescheidenen Charakter - ruhig einmal schadlos über die Stränge schlagen dürften: »Viele Anzeichen 164
Wenn zwei dasselbe tun, so ist es nicht dasselbe.
gibt es im Menschen, aus denen man leicht vermuten kann: Wenn zwei dasselbe tun, kann man oft sagen: >Der eine darf es ungestraft, der andre nicht< - nicht weil die Sache unähnlich wäre, sondern der, der es tut.«1 Die Stelle wird jedoch mein- stens verkürzt zitiert: »Wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht dasselbe« (lat.: »Duo cum faciunt idem, non est idem«). In der Komödie »der Selbstquäler« desselben Dichters entlockt der listige Sklave Syrus seinem Herrn Chremes Geld, indem er ihn auf seine Verantwortung hinweist, der er sich nicht wie andere entziehen solle: »Nein, wenn es anderen erlaubt ist, ist es dir noch lange nicht erlaubt.«2 Im Mittelalter bildete man für diesen Gedanken den Reimspruch »Quod licet Iovi, non licet bovi« (»Was Jupiter erlaubt ist, ist einem Ochsen nicht erlaubt«). Doch werden damit üblicherweise nicht charakterliche Unterschiede (wie noch bei Terenz) als vielmehr Rangunterschiede (wie zwischen Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern etc.) hervorgehoben, um - in gelehrter Weise gegenüber den Niedrigergestellten - unterschiedliche Rechte zu begründen. L: Bartels 68-69. 150; Böttcher 57 (Nr. 272-274); Büchmann 31 3; Duden 11,844 und 12,527; Mletzko 22.147; Reichert 50; Wander 5,666 (Zwei 32); Zanoner 14 (Nr. 85). 1: Ter. Ad. 821-824: »Mylta in nomine... / signa insunt, ex quibus CQniectyra fecile fit, / duo quom idem faciunt safipe, ut pßssis dicerg: / >hoc licet impyne facere huic, illi no_n lic£t<, / non quo dissimilis res sit, sgd quo is, qui facit.« 2: Ter. Heaut. 797: »Immo ajiis si licet, tibi no_n liegt.« Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht... (..., und wenn er auch die Wahrheit spricht) wer lügt, verliert seine Glaubwürdigkeit. In der von Phaedrus (1. Jh. n. Chr.) erzählten äsopischen Fabel von »Wolf und Fuchs mit dem Affen als Richter« beschuldigt der Wolf den Fuchs des Diebstahls. Der Affe stellt schließlich nur die Unglaubwürdigkeit beider Kontrahenten fest: Der Wolf habe nie verloren, was er fordere, und der Fuchs stehle, wenn er es auch leugne. Damit illustriert Phaedrus die gleich zu Beginn der Fabel formulierte Moral: »Wer einmal für schändlichen Betrug bekannt geworden ist, findet keinen Glauben mehr, auch wenn er die Wahrheit sagt.«1 Denselben Gedanken erwähnt auch Cicero im Zusammenhang mit der Schwierigkeit, wahre 166
Traumeingebungen von falschen zu unterscheiden: »Daher scheint mir merkwürdig, wie diese Leute - während wir doch einem lügnerischen Menschen nicht einmal dann, wenn er die Wahrheit sagt, zu glauben pflegen - dann, wenn irgendeine Eingebung sich als wahr erwiesen hat, nicht eher aus den vielen [Gegenbeispielen] der einen [Eingebung] die Glaubwürdigkeit absprechen als daß sie aus der einen die unzähligen [anderen] bestätigen.«2 Andreas Tscherning übertrug die Verse des Phaedrus in seiner Fabel »Lügen Lohn« so: »Daß einem hier die Welt, der einmal Lügen liebt, / Auch wann er Wahrheit redt, nicht leichtlich Glauben gibt.«3 Ähnlich schreibt auch L. H. von Nicolay (1737-1820) in seinem Gedicht »Der Lügner«: »Man glaubt ihm selbst dann noch nicht, / Wenn er einmal die Wahrheit spricht.«4 L: Böttcher 78 (Nr. 444); Büchmann 338; Mletzko 78. 1: Phaedr. 1,10,1-2: »Quicym- que tyrpi frayde sgrnel innQtuk, / Etiamsi verum diät, a/nittit fidgm.« Stob. 12,18 schreibt den Gedanken schon dem Demetrios von Phaleron zu (um 320 v. Chr.). 2: Cic. div. 2,146: »ut mihi mirum videatur, cum mendaci homini ne verum quidem dicenti credere soleamus, quo modo isti, si somnium verum evasit aliquod, non ex multis po- tius uni fidem derogent quam ex uno innumerabilia confirment.« 3: Deutscher Ce- tichte Früling, Breslau 1642, S. 254. 4: Um 1790; »Vermischte Gedichte und prosaische Schriften«, 8 Bde., Berlin 1799-1810. B: In den 70er Jahren trug ein beliebtes Fernsehquiz mit Wolfgang Spier den Titel »Wer dreimal lügt...«. Wissen ist Macht Mit Wissen kann großer Einfluß ausgeübt werden; Wissen ist für Erfolg unerläßlich. Dieses Schlagwort geht auf eine zwar neuzeitliche, aber doch lateinische Formulierung des englischen Philosophen und Schriftstellers Francis Bacon (1561-1626) zurück, der 1597 in seinen »Essayes« schrieb: »Nam et ipsa scientia potestas est« (»Denn das Wissen selbst ist Macht«).1 In der englischen Zweitausgabe von 1598 übersetzte er: »For knowledge itself is power.« Bacon begründete den Gedanken so: »Menschliches Wissen und menschliche Macht fallen in eins zusammen, weil Unkenntnis einer Angelegenheit den Erfolg unmöglich gemacht hat.«2 Im 19. Jh. griff der Journalist und sozialdemokratische Politiker Wilhelm Liebknecht (der Vater Karl Liebknechts) das Wort Bacons auf: »Wissen ist Macht - Macht ist Wissen« sagte er 167
1872 in einem Vortrag. Weite Verbreitung erlangte die Devise auch durch ihre Verwendung in Max Kegels »Sozialistenmarsch« (1891), einem vielgesungenen Arbeiterlied: »Der Erde Glück, der Sonne Pracht, / Des Geistes Licht, des Wissens Macht, / Dem ganzen Volke sei's gegeben.« L: Böttcher 210 (Nr. 1225) und 520-521 (Nr. 3440); Büchmann 260; Duden 12,549; Mletzko 78. 142; Reichert 207; Wander 5,304 (Nr. 388). 1: Erstausgabe 1597, lateinisch veröffentlicht unter dem Titel »Meditationes sacrae«, Buch 1,11. Artikel (»De haeresibus«). 2: Novum Organum 1,3 (vgl. 2,1. 3): »scientia et potentia humana in idem coincidunt, quia ignoratio causae destituit effectum.« fromme Wünsche falsche Vorstellungen, Illusionen, gut gemeinte Wünsche (die aber wohl nie in Erfüllung gehen). 1627 veröffentlichte der belgische Jesuit Hermann Hugo in Antwerpen eine Schrift »Pia desideria« (»Fromme Wünsche«), die von Andreas Presson 16721 und Johann Georg Albinus 16752 ins Deutsche übertragen wurde. Von ihr angeregt, betitelte der evangelische Theologe Philipp Jakob Spener 1676 sein Werk »Pia desideria oder Hertzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren Evangelischen Kirchen«, mit dem er den lutherischen Pietismus maßgeblich bestimmte. Auch bei Goethe sind die »frommen« Wünsche noch ernsthafte, gute Wünsche: Er schreibt: »Indessen kann ich mir den frommen Wunsch nicht versagen«; oder ähnlich mit »frommen Worten«: »Möchten diese und tausend andere fromme Worte Kennern und Künstlern vorgelegt werden.«3 Durch den Beiklang jedoch, daß die Worte oder Wünsche zwar fromm sind, aber wohl ungehört bleiben, entwickelte sich in der Folgezeit die heutige negative Bedeutung im Sinne von »unerfüllbaren Wünschen«. L: Bartels 137-138; Büchmann 356; Duden 11,818-819; Grimm 4,243; Mletzko 37. 144. 1: Andreas Presson, Das Klagen der büßenden Seel oder die sogenannte Pia Desideria, Bamberg 1672. 2: Johann Georg Albinus, Himmel-flammende Seelen-Lust oder Hermann Hugonis Pia Desideria, Frankfurt 1675. 3: 17,284 und 45,108 nach Grimm 4,243. * Würden sind Bürden Hohe Ämter bringen große Verantwortung mit sich (Auch: Würde bringt Bürde). 168
Der klanglichen Nähe von »Würde« und »Bürde«, die im deutschen Sprichwort genutzt wird, entspricht lateinisch die Ähnlichkeit von »honos« (»Ehre, Würde«) und »onus« (»Last, Mühe«), durch die beide im Lateinischen gern verbunden wurden. Der Grammatiker und Schriftsteller Varro erläutert in seiner »Lateinischen Sprache« unter Zitierung eines wohl geläufigen Verses: »Ehre kommt von einer ehrenhaften Mühe; deshalb wird ehrenhaft genannt, was mühevoll ist, und man hat gesagt: >Mühe ist Ehre, die den Staat aufrecht erhält^«1 Vielerorts wird mit diesem Wortspiel betont, daß etwas scheinbar Gutes keine »Würde«, sondern eine »Bürde« sei: Beispielsweise spricht in Ovids fiktiven Briefen bekannter Frauen (»Heroides«) Deianira, die Frau des Helden Herkules, über den übergroßen Ruhm ihres Mannes. Ein großer Mann überlaste eine schwächere Frau wie bei zwei ungleichen Stieren vor dem Pflug (vgl. -♦ Caudinisches Joch); daher rät sie: »Last, nicht Ehre sind Glanz und Ruhm, ein Nachteil dem Träger, / wünschst du dich passend vermählt, nimm einen Mann, der dir gleicht!«2 Bei Li- vius schließlich verwirft ein Reiteroberst, der gemäß einem Volksbeschluß dem Diktator Fabius gleichgestellt sein sollte, dieses Plebiszit, da er dadurch »mehr belastet als geehrt« sei.3 Im Deutschen hat das Sprichwort dieselbe Verbindung mit den eigenen Vokabeln nachgebildet. L: Mletzko 21. 144; Otto 167 (Nr. 828); Reichert 78. 1: Varro ling. 5,73: »Honos ab honesta onere, itaque honestum dicitur, quod oneratum, et dictum: onus est hono_s, qui systingt rem pyblicam« (com. ine. v. 76 Ribb.). 2: Ov. her. 9,31-32: »No_n honor est, sed onys specigs laesyra fergntis; / siqua volgs aptg nybere, nybe pari.« 3: Liv. 22,30,4: »plebiscitum, quo oneratus sum magis, quam honoratus...«; viele weitere Beispiele nennt Otto 167 (Nr. 828). Die Würfel sind gefallen (richtiger auch im Sg.: Der Würfel ist gefallen, lat: »alea iaeta est«) Der Entschluß ist gefaßt, die Entscheidung ist getroffen, es gibt kein Zurück mehr. Bei dem griechischen Komödiendichter Menander erscheint der Vers: »Beschlossen ist die Sache: der Würfel soll geworfen sein«1 - d.h. das Wagnis wird unwiderruflich eingegangen. Bekannt wurde das Wort jedoch durch den Feldherrn und Politiker C. Iulius Caesar: Zu Beginn des Jahres 49 v. Chr. hatte Pom- peius den Staatsnotstand ausrufen lassen und den Senat 169
beschließen lassen, Caesar müsse seine Provinz Oberitalien abgeben und sein Heer entlassen. Daraufhin überschritt dieser am 10. /11. Januar 49 v. Chr. mit seiner 13. Legion den Rubikon, Grenzfluß seiner Provinz zum senatorisch verwalteten Italien (-> den Rubikon überschreiten) und begann damit den (für ihn erfolgreichen) Bürgerkrieg. Dabei soll er den zweiten Teil des Satzes - »Der Würfel soll geworfen sein!« - auf Griechisch zitiert haben2. Lateinisch übersetzte Sueton dies zu »Iacta alea est!« (»Der Würfel ist geworfen«),3 was zumeist in der Reihenfolge »alea iacta est« zitiert wird. Vielleicht dachte Caesar aber auch an das Sophokles-Wort »Denn immer fallen gut die Würfel des Zeus«,4 die er mit seinem Handeln nun praktisch selbst geworfen hatte. Das Bild des Würfels bei einem Wagnis mit ungewissem Ausgang ist in der lateinischen Literatur aber auch sonst häufig anzutreffen.5 Im Humanismus ist »alea iacta est« von Erasmus von Rotterdam in seiner Sprichwörtersammlung »Adagia« besprochen worden und daraufhin ins Deutsche eingegangen.6 Im Englischen gab der erste Sueton-Übersetzer Philemon Holland 1606 den Satz mit »the die be thrown« wieder, doch setzte sich später »The die is cast« durch. Heutzutage wird mit dem Wort weniger die Größe eines Wagnisses betont, dessen Ausgang noch aussteht, sondern die Unwiderruflichkeit einer Entscheidung oder die Unverrückbarkeit eines Ergebnisses. L: Bartels 37-38; Borchardt-Wustmann-Schoppe 518; Böttcher 65 (Nr. 333-334) und 192 (Nr. 1139); Büchmann 85. 368-369; Duden 11,820 und 12,556; Macrone 174-175; Otto 12-13 (Nr. 55); Reichert 72-73; Röhrich 5,1747; Stichwörter 69-73 u. Komm. 109-116; Surbeck 66-69. 1: Aus dem »Arrhephoros«: CAF 3,22, fr. 65,4. Criech.: »AeÖQYnevqv tö icpayn' äveppi<|>6ü) Kvßoc,.« 2: Plut. Pomp. 60,4; Reg. et imp. ap. ed Bernardakis 2,94,7 (zudem »jeder Würfel«); Plut. Caes. 32,5 erwähnt die griechische Sprache nicht. 3: Suet. Caesar 32. Erasmus vermutete in seiner Sueton-Ausgabe (Köln 1544) einen Fehler der Abschreiber und konjizierte wegen des griechischen Originals »iacta esto alea« (»Der Würfel soll geworfen sein«), ohne es jedoch so in den Text aufzunehmen. 4: Soph. fr. 895: »riei -y&p £v niircouciv oi Aiöc, icvßoi.« 5: Die Stellen bietet Otto 13 (Nr. 55). 6: Er. ad. 1,4,32. Der Ritter und Dichter Ulrich von Hütten (1488-1523) gebrauchte gern das gleichbedeutende deutsche Wort »Ich hab's gewagt!«: Böttcher 92 (Nr. 1139) mit Einzelheiten. B: Ein ehemaliger Wehrmachtssoldat erzählt, wie die Sentenz, als er mit seiner Truppe Mitte November 1942 über den Don in den Kessel von Stalingrad einrückte, unter den Soldaten die Runde gemacht habe: »Sagte der eine >Caesar dixit< [Caesar sagte], fuhr der andere fort >Rubiconem trans- gressus< [nach Überschreiten des Rubikon] und der dritte ergänzte, im Ton noch ernster und bedächtiger, >alea est iacta<. [...] Wie sich die Akzentuierung der Satzteile auch änderte, der >Rubico< als Schicksalsdrohung kam immer wieder ins Zentrum. Leise, bei einem kurzen Stillstand der Marschkolonne, fragte ich Schiwo: >Wessen Rubico?< Der Oberleutnant hörte die bange Frage und übertönte sofort, jede Antwort verbauend: 170
>alea est iacta<.« Aus: Wilhelm Raimund Beyer, Stalingrad - unten, wo das Leben konkret war, in: Wolfram Wette (Hg.), Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München 2. Aufl. 1995, 240-254, darin S. 242. S: Engl. »The die is cast«; vgl. das Adj. »aleatory« (seltener dt. »aleatorisch«: vom Zufall abhängig). X JEMANDEM EIN X FÜR EIN U VORMACHEN jemanden betrügen. Diese im Mittelalter entstandene Redensart geht auf die römischen Zahlzeichen »X« für die Zehn und »U« (das bis zum 10. Jh. noch wie das V geschrieben wurde) für die Fünf zurück: Wenn man das »V« mit zwei Strichen nach unten hin zum »X« erweiterte, stellte man jemandem mit kleinem Aufwand gleich das Doppelte in Rechnung: »Wenn der Wirth schreibt ein X vor [für] ein V [sprich: U], so kompt er seiner Rechnung zu«, d. h. so bessert er seine Rechnung auf. Vom Anschreiben der Gasthausschulden mit Kreide durch den Wirt leiten sich auch die Wendungen »bei jemandem in der Kreide stehen« (jemandem etwas schulden) und »jemandem etwas ankreiden« (etwas nachtragen) her. Der Ausdruck »mit doppelter Kreide anschreiben«, der seit dem 14. Jh. belegt ist, nimmt ebenfalls auf die genannte Änderung von U in X Bezug. Mit den zwei Ebenen von Sinn und reinem Wortlaut spielte Karl Kraus 1909 in einem Aphorismus: »Den Leuten ein X für ein U vormachen - wo ist die Zeitung, die diesen Druckfehler zugibt?«1 L: Borchardt-Wustmann-Schoppe 283-284. 520-521; Wander 5,477 (X 6). 1: Karl Kraus, Beim Wort genommen, München 1955, S. 76 nach Mieder, Sprichwörter 115. 131. 171
z andere Zeiten, andere Sitten Bräuche und Gewohnheiten ändern sich mit der Zeit (vgl.: Andere Länder, andere Sitten); häufig pessimistisch: Wie haben sich doch die Sitten zum Schlechten verändert! Vgl.: Die Zeiten ändern sich: auf früher geltende Gegebenheiten kann man sich nicht verlassen. In der Komödie »Das Mädchen von Andros« des Terenz (2. Jh. v. Chr.) will ein Vater den sorglosen Lebenswandel seines Sohnes Pamphilus verbessern; zu seinem Sklaven Davos sagt er über ihn: »Solang's zu seiner Jugend paßt', erlaubt' ich's ihm, sich auszutoben! / Doch nun bringt dieser Tag ein anderes Leben und erfordert andere Sitten. /Jetzt wünsch ich, Davos, bitt' mir aus, er muß zum rechten Weg zurück.«1 Möglicherweise gab es damals bereits das (erst später belegte) griechische Sprichwort »anderes Leben - andere Lebensweise«, auf das hier eine Anspielung vorliegen könnte.2 In jedem Falle ist bei Terenz noch das veränderte individuelle Leben (anderes Alter, neue soziale Umstände) gemeint. Das weiter ausgreifende Wort »Zeiten« stellte erst der Redner Cicero (1. Jh. v. Chr.) den »Sitten« gegenüber: Sein berühmtes »Oh Zeiten, oh Sitten!« (lat.: »O tempora, o mores«) rief er z.B. als Einleitung seiner ersten Rede gegen den Verschwörer Cati- lina3 und meinte damit: »Welch schlimme Sitten wie diese Vorgänge hier muß man in diesen Zeiten erleben!« Der lateinische Wortlaut wurde im 18. Jh. von Friedrich dem Großen gern zitiert und erlangte als Kehrreim von Emanuel Geibels »Lob der edlen Musika« (erschienen 1843) größere Verbreitung.4 Das bekannte lateinische Sprichwort »tempora mutantur et nQs mutamur in Ulis« (»Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen«) geht dagegen erst auf König Lothar I. (Kg. des fränkischen Mittelreiches 843-855) zurück, der gesagt haben soll: »Alle Dinge ändern sich, auch wir ändern uns in ihnen.«5 172
Wer zuerst kommt, mohlt zuerst. H-r
L: Böttcher 59 (Nr. 289-290) und 161-162 (Nr. 993); Duden 11,827; Mletzko 8. 110. 145; Otto 15 (Nr. 66) und 343 (Nr. 1757); Wander 5,534 (Zeit 241). 1: Ter. Andr. 188-190: »Dum tgmpus ad eam rgm tulit, sivl, anlmum ut gxplergt suo_m; / nunc hie dies aliam vitam dgfert, alios mores pQStulat: / dehinc DQStulQ sive agquomst te o_ro, Dave, ut rgdeat iam in viam.« 2: »äXkoq ßioc, äXkr\ öiaita«: Zenob. 1,22; Macar. 1,86. Vgl. Er. ad. 1,9,6. 3: Cic. Cat. 1,1; In Verrem 4,25,56; Pro rge Deiotaro 11,31; De domo sua 53,137; weitere Stellen nennt Otto 343 (Nr. 1757); antike Zitate des Cicerowortes belegt Bartels 124. 4: Belege bietet Büchmann 315. 5: »Qmnia mytantyr, nos et mutamur in illis«: Matthias Borbonius in: janus Cruterus, Deliciae poetarum German- orum, Frankfurt a.M. 1612, S. 681/91, nach Böttcher 161-162 (Nr. 993). mit Zuckerbrot und Peitsche mit Belohnung und Strafe zugleich. In der »Geldtopfkomödie« des lateinischen Dichters Plautus sagt der geizige Euclio, der unverhofft einen Goldschatz gefunden hat, mißtrauisch über den reichen Megadorus, der ihn eigentlich aus Interesse an seiner Tochter anspricht: »Aha, jetzt will er was, darum macht er Versprechungen. Er sperrt schon das Maul auf, um mein Gold zu fressen. In der einen Hand hält er einen Stein, und Brot zeigt er mit der anderen.«1 Der Kirchenvater Hieronymus (um 350-420) schreibt daher in einem Brief, er wolle dem Adressaten gegenüber gerade nicht so vorgehen und »in der einen Hand einen Stein halten und mit der anderen Brot anbieten«.2 Gregor von Nazianz gebrauchte etwa in derselben Zeit auf Griechisch einen ähnlichen Vergleich: »...wie wenn jemand mit der einen Hand eines Mannes Haupt streichelte und mit der anderen auf die Backe schlüge.«3 Die deutsche Wendung »mit Zuckerbrot und Peitsche« stammt dagegen erst aus dem 19. Jh. 1873 schrieb eine Breslauer Zeitung: »Wie man aus Passau erfährt, ist Bischof Heinriche Versuch, mit Zuckerbrot und Peitsche die Gewährung der Heiligengeistkirche an die dortigen Altkatholiken zu hintertreiben, kläglich gescheitert.«4 L: Duden 11,834; Wander 5,615.1: Plaut. Aul. 194: »Altera many fert lapidem, panem ostgntat altera.« 2: Hieron. ep. 81,1,4. 3: Greg. Naz. ep. 16,6. 4: Bote aus dem Riesengebirge, Breslau 1873, Nr. 13, Hauptblatt nach Wander 5,615 mit weiteren Belegen, darunter dem ersten Vorkommen des Wortes im Jahr 1872. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst Der Schnellste hat (verdientermaßen) auch den größten Nutzen; wer zu spät kommt, kann keine Ansprüche mehr 174
stellen. Die negative Entsprechung lautet: Wer nicht kommt zur rechten Zeit, der muß sehen, was übrig bleibt; vgl.: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Die große Bedeutung der Schnelligkeit zur Wahrung der eigenen Interessen ist schon in der lateinischen Komödiendichtung ein geläufiger Gedanke: Im »Pseudolus« des Plautus soll Harpax, der Bote eines makedonischen Offiziers, in dessen Auftrag das Mädchen Phönizium von dem Kuppler Ballio abholen; doch dieser hat sie inzwischen schon einem als Harpax auftretenden Mittelsmann des listigen Pseudolus übergeben, hält nun den echten Harpax selbst für einen Schwindler und sagt: »Gleich kannst du Pseudolus / berichten: Ein anderer hat die Beute davongetragen, der als Harpax / eher kam.«1 Bei dem Dichter Terenz sagt in der Komödie »Phormio« der Kuppler Do- rio zu Phaedria, dem er bei rechtzeitiger Bezahlung das Mädchen Pamphila geben wolle: »Wenn du es mir eher bringst, Phaedria, / will ich meinem Grundsatz folgen, daß mächtiger sei, wer eher am Geben ist. Leb wohl!«2 Nachantik griff man die alliterierende Zusammenstellung von »potior« (»mächtiger«) und »prior« (»eher, früher«) auf und bildete die kurzen Sprichwörter »Wer früher (kommt), ist mächtiger« und »früher an Zeit - mächtiger an Recht«.3 Erst im Deutschen jedoch fand die Mühle in den Gedanken Eingang: Im »Sachsenspiegel« des Ritters Eike von Repgow (vor 1224), der ersten und bedeutendsten deutschsprachigen Rechtssammlung, wird formuliert: »Die ok irst to der molen kumt, die sal erst malen.«4 L: Böttcher 165 (Nr. 1014); Duden 11,834 und 12,535; Mletzko 66. 79. 126. 147. 1: Plaut. Pseud. 1198: »projn tu Psejy_dolo_ / nuntigs abdyxisse alium pragdam, qui qc- currit prio_r / Harpax...« Vgl. Trin. 568. 2: Ter. Phorm. 533: »...si mi prior tu attuleri', Phaedria, / mea lege utar, yt potio_r sit qui prior ad dandymst. valg.« 3: »Potior est, qui prior est«, »Prior tempore potior iure«. 4: Berliner Handschrift von 1369, kritisch hg. von C. G. Homeyer, Berlin 3. Aufl. 1861, 2. Buch, Art. 59, § 4 nach Böttcher 165 (Nr. 1014). Zustände wie im alten Rom! unmögliche, heruntergekommene Verhältnisse; vgl.: paradiesische Zustände: herrliche, wunderbare Verhältnisse. Diese umgangssprachliche Redensart ist wahrscheinlich erst im 19. Jh. entstanden. Sie setzt nämlich die Vorstellung eines 175
mächtigen, aber zugleich dekadenten und sittlich verdorbenen Römischen Reiches voraus: Vor allem mit Blick auf die römische Kaiserzeit (um 30 v. Chr. - 476 n. Chr.) wird an maßlosen Luxus, despotische Willkür und kulinarische wie sexuelle Ausschweifungen gedacht, die schließlich die Römer anderen Völkern unterlegen gemacht und zugrunde gerichtet hätten. Dieses Bild, das in Ansätzen bereits durch kulturpessimistische Stimmen im antiken Rom selbst (v. a. durch den Historiker Sal- lust; zu Ciceros »O tempora, o mores!« vgl. -♦ andere Zeiten, andere Sitten) vorgeprägt war, wurde durch christliche Schriftsteller wie Eutropius und Laktanz als heidnisch-negatives Gegenbild zu christlicher Moral ausgebaut. Im Europa des 18. und 19. Jh. erlangte es in Literatur und bildender Kunst immer stärkere Verbreitung1 und verfestigte die Klischees von römischen Orgien, Grausamkeiten und Zügellosigkeiten. Von ihnen wird noch im 20. Jh. die Darstellung Roms in Romanen und Spielfilmen beherrscht.2 Erst in jüngster Zeit führen ein breiteres archäologisch-historisches Interesse und ein gewisser Realismus in Hollywood-Produktionen wie »Gladiator« (USA 2000) allmählich zu einer leichten Korrektur des landläufigen Rombildes. L: Duden 11,842. Weiterführende Lit.: Gustav Sichelschmidt, Wie im alten Rom. Dekadenzerscheinungen damals und heute, Kiel 1984. 1: Beispielsweise leitete Pierre-Fran- £ois Hugues Hancarville, Bilder aus dem Privatleben der römischen Cäsaren, (1780, dt. Erstausgabe 1909) sein Buch mit den Worten ein: »...Ich schildere den Mißbrauch, den diese ersten Imperatoren - in späteren Zeiten von ihren Nachfolgern nur zu getreulich nachgeahmt - von ihrer ungeheuren Gewalt machten; ich schildere die Knechtschaft eines freien Volkes, die Erniedrigung der Welteroberer, die fürchterliche Verderbnis, die sich in der Vaterstadt eines Fabricius und Cato einnistete und bald sich über das ganze Reich verbreitete.« 2: Gemälde des 19. jh. wurden zu Vorbildern für Theaterkulissen und dann für die ersten Stummfilme um 1910, deren Tradition in den 50er jähren in Filmen wie »Quo vadis?« oder »Ben Hur« fortgesetzt wurde. Man denke z. B. auch an den Freizeitpark »Delos« im Spielfilm »Futureworld - Das Land von übermorgen« (USA 1976), in dem die Besucher in ein völlig zügelloses antikes Rom zurückversetzt werden. Der Zweck heiligt die Mittel zur Erreichung eines höheren Zwecks darf jedes Mittel angewandt werden. Der Jesuitenpater Hermann Busenbaum schrieb 1652 in seinem »Handbuch der Moraltheologie«: »Wenn der Zweck erlaubt ist, sind auch die Mittel erlaubt« (lat.: »Cum finis est lici- tus, etiam media sunt licita«).1 Obwohl »Gewalt und Unrecht« 176
anschließend ausdrücklich ausgeschlossen werden,2 gilt der Satz oft als typischer Grundsatz jesuitischer Moral: »Der Zweck heiligt die Mittel, sagt der Jesuit« heißt es z. B. in einem Klosterspiegel des 19. Jh.3 Dies ist unter anderem auf Blaise Pascal (1623-1662) zurückzuführen, der 1656 einen Jesuiten sagen ließ: »Wir verbessern die Schlechtigkeit des Mittels durch die Reinheit des Zwecks«.4 Bereits Thomas Hobbes (1588-1679) hielt in seiner Schrift »Über den Bürger« für zulässig, zum Zwecke der Selbsterhaltung jedes Mittel anzuwenden: »Weil denn das Recht, zu einem Zweck zu streben, demjenigen nichts hilft, dem man das Recht versagt, die nötigen Mittel anzuwenden, so folgt daraus, daß, da jeder das Selbsterhaltungsrecht hat, auch jeder berechtigt ist, alle Mittel anzuwenden und jede Handlung vorzunehmen, ohne die er sich selbst nicht erhalten kann.«5 Sinngemäß wurde die Anwendung aller möglichen Mittel im Interesse der Staatsräson auch schon von Niccolö Ma- chiavelli (1469-1527) vertreten. Der inhaltlich sehr problematische Satz hat auch im Sprichwort Widerstand erfahren: »Der Zweck heiligt die Mittel nicht« oder auch lat. »Non sunt facienda mala, ut eveniant bona« (»Man darf nichts Böses tun, damit Gutes geschehe«) sind im 19. Jh. als sprichwörtlich belegt.6 Im 20. Jh., das die Folgen konsequenter Anwendung vom Zweck geheiligter Mittel schmerzlich zu spüren bekommen hat, setzte der jüdische Denker Martin Buber dem deutlich entgegen: »Niemals heiligt der Zweck die Mittel, wohl aber können die Mittel den Zweck zu- schanden machen.«7 L: Böttcher 204 (Nr. 1198); Büchmann 358; Duden 11,843 und 12,564; Mletzko 29. 83. 146; Wander 5,664. 1: Medulla theologiae moralis 4,3,7,2,3; vgl. 6,6,2,2,1,8: »Wem der Zweck erlaubt ist, dem sind auch die Mittel erlaubt« (»Cui licitus est finis, etiam licent media«). 2: »praecisa vi et iniuria«: Wander 5,664 (Zweck Nr. 3). 3: Klosterspiegel in Stichwörtern, Bern 1841, 11,3 nach Wander 5,664 (Zweck Nr. 3). 4: »Nous corrigeons le vice du moyen par la purete de la fin«: »Les provinciales, ou lettres escrites par Louis de Montalte ä un provincial de ses amis...«, 1656, Brief 7. 5: De cive 1,8. 6: Wander 5,664 (Zweck Nr. 2). 7: Mieder, Antisprichwörter 149 mit Beleg. Im Zweifel für den Angeklagten Wenn eine Schuld nicht eindeutig bewiesen ist, muß der Angeklagte freigesprochen werden. Die auch lateinisch als »In dubio pro reo« bekannte Regel er- 177
scheint in dieser bündigen Form zuerst bei dem Mailänder Kriminologen Egidio Bossi (1487-1546).] Der Grundsatz wird jedoch schon in der Antike mehrfach genannt: So hielt der Jurist Paulus (um 200) unter Berufung auf Kaiser Antoninus Pius fest, daß bei Stimmengleichheit im Richterkollegium zugunsten des Angeklagten (»pro reo«) zu entscheiden sei.2 Sein Zeitgenosse und Kollege Ulpian begründete dieses Vorgehen unter Berufung auf Kaiser Trajan: »Denn es ist besser, die Tat eines Schuldigen ungestraft zu lassen, als einen Unschuldigen zu verurteilen.«3 L: Bartels 92; Büchmann 353-354; Mletzko 9; Reichert 51. 1: Aegidius Bossius, Tracta- tus varii, qui omnem fere criminalem materiam complectuntur; nach D. Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, Darmstadt 1982,91 f. 2: Digesten 42,1,38. 3: Digesten 48,19,5. Vgl. ferner: Ps.-Aristot. problemata physica 29,13,951a 20ff.; Gaius, Digesten 50,17,125, vgl. auch Marcellus im gleichen Kap. § 192; Bonifatius VIII, über sextus decretalium 5,12,11. 178
Literaturhinweise Bartels: Klaus Bartels, Veni vidi vici. Geflügelte Worte aus dem Griechischen und Lateinischen, München, 3. Aufl. 1997 Böttcher: Böttcher, Kurt u.a., Geflügelte Worte. Zitate, Sentenzen und Begriffe in ihrem geschichtlichen Zusammenhang, Leipzig 1981 Borchardt-Wustmann-Schoppe: W. Borchardt/G. Wustmann/G. Schoppe, Die sprichwörtlichen Redensarten im deutschen Volksmund nach Sinn und Ursprung erläutert, 7. Aufl. (neu bearb. von Alfred Schirmer) Leipzig 1954 Büchmann: Geflügelte Worte. Der klassische Zitatenschatz, gesammelt und erläutert von Georg Büchmann, fortgesetzt von Walter Robert-Tornow u.a., 41., durchges. Aufl., bearbeitet von Winfried Hofmann, Berlin 1998 Der Kleine Pauly: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike, 5 Bde., München 1979 Der neue Büchmann: Der neue Büchmann. Geflügelte Worte, gesammelt und erläutert von Georg Büchmann, fortgesetzt von Walter Robert-Tornow u.a., bearbeitet und weitergeführt von Eberhard Urban, Niedernhausen i.Ts. 1994 Duden 11: Duden Redewendungen und sprichwörtliche Redensarten. Wörterbuch der deutschen Idiomatik, bearbeitet von Günther Drosdowski und Werner Scholze-Stu- benrecht, überarb. Nachdr. der 1. Aufl., Mannheim 1998 Duden 12: Duden Zitate und Aussprüche, bearbeitet von Werner Scholze-Stubenrecht, Überarb. Nachdr. der 1. Aufl., Mannheim 1998 Fritsch: Andreas Fritsch, Index sententiarum ac locutionum. Handbuch lateinischer Sätze und Redewendungen, Saarbrücken 1996 Grimm: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 33 Bde., Leipzig 1854-1971, Nachdruck München 1984 Kluge: Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 21. Aufl. 1975 Macrone: Michael Macrone, It's Greek to Me! Brush up your classics, New York 1991 Mieder, Antisprichwörter: Wolfgang Mieder, AntiSprichwörter. Band III, Wiesbaden 1989 Mieder, Investigations: Wolfgang Mieder, Investigations of Proverbs, Proverbial Expressions, Quotations und Cliches, Bern 1984 Mieder, Phrasen: Wolfgang Mieder, Phrasen verdreschen. Antiredensarten aus Literatur und Medien, Wiesbaden 1999 Mieder, Proverbs: Wolfgang Mieder, American Proverbs. A Study of Texts and Contexts, New York 1989 Mieder, Sprichwörter: Wolfgang Mieder, Deutsche Sprichwörter in Literatur, Politik, Presse und Werbung, Hamburg 1983 Mletzko: Manfred Mletzko, Variatio delectat, Bamberg 1998 Otto: August Otto, Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Römer, Leipzig 1890 (Nachdruck Hildesheim 1962) Otto, Nachträge: Reinhard Haussier (Hg.), Nachträge zu A. Otto, Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten der Römer, Darmstadt 1968 RE: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung Stuttgart 1894ff. [Band, Halbband, Spalte] Reichert: Heinrich G. Reichert, Unvergängliche lateinische Spruchweisheit. Urban und human, Wiesbaden 4. Aufl. 2000 Röhrich: Lutz Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, 5 Bde., Freiburg i. Br. 1994 Rössing: Roger Rössing, Wie der Hering zu Bismarcks Namen kam. Unbekannte Geschichten zu bekannten Begriffen, Frechen, 7. Aufl. 1998 Stichwörter: Friedrich Maier (Hg.), Stichwörter der europäischen Kultur (Reihe: Antike und Gegenwart. Lateinische Texte zur Erschließung europäischer Kultur), mit Lehrerkommentar (Komm.), 2. Aufl. Bamberg 1992 179
Stichwörter Komm.: Friedrich Maier (Hg.), Stichwörter der europäischen Kultur (Reihe: Antike und Gegenwart. Lateinische Texte zur Erschließung europäischer Kultur). Lehrerkommentar, 2. Aufl. Bamberg 1992 Surbeck: Rolf Surbeck (Hg.), Fernsehen in die Antike. Die Welt von gestern mit den Augen von heute, Basel o. j. [Eine Serie von 51 Beiträgen, erschienen von April 1993 bis Mai 1994 im Basler Magazin der Basler Zeitung] Tosi: Renzo Tosi, Dizionario delle sentenze Latine e Greche, Mailand 1991 Wander: Karl Friedrich Wilhelm Wander, Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk, Leipzig 1867-1880 Zanoner: Angela Maria Zanoner, Dizionario delle frasi Latine piü celebri, Mailand 1993
Von der Achillesferse bis zum Zyniker KU Ml ARD |>o III Kl Das uisscn nur * , di Götter , . Drutst In' Hrtlcnsartrn aut tlt'in (irtrt hist lim * . / T* 1 S'. i Reinhard Pohlke Das wissen nur die Götter Deutsche Redensarten aus dem Griechischen 240 Seilen Gebunden mit Schutzumschlag ISBN 3-7608-1964-8 Artemis & Winkler Viele Redewendungen und Begriffe, die im Alltagsdeutsch üblich sind, haben ihre Wurzel in der griechischen Sprache. Reinhard Pohlke hat sie systematisch zusammengetragen und gründlich untersucht. Beim »Ödipus-Komplex« offenbart schon der Name die Herkunft. Aber was ist, wenn wir einen »Bärenhunger« haben, jemanden »an der Nase herumführen« oder ihm »Hörner aufsetzen«? Eine vergnügliche und lehrreiche Lektüre zugleich.
WrER ETWAS »AD ACTA« LEGT, ist sich meist bewußt, daß diese Formulierung aus der lateinischen Sprache stammt. Wer hingegen durch »Abwesenheit glänzt«, weil er »in den Tag hinein lebt« und »Luftschlösser baut«, der sollte nicht schwatzhaft sein und noch »Ol ins Feuer gießen«, sondern »das süße Nichtstun« eher in »beredtem Schweigen« genießen - ob ihm die lateinische Wurzel der Redensart bekannt ist oder nicht. Dem Erfolgstitel das wissen nur DIE GÖTTER. DEUTSCHE REDENSARTEN AUS dem griechischen stellen Annette und Reinhard Pohlke nun das Pendant fürs Lateinische gegenüber. Artemis Annette pohlke, geboren 1967, studierte Geschichte, Latein und Ev. Theologie an der Freien Universität Berlin. Sie ist als freiberufliche Dozentin und Autorin tätig. Reinhard pohlke, geboren 1966, unterrichtet an einem Berliner Gymnasium u.a. die Fächer Latein und Griechisch. ISBN 3-7bDö-lSb?-E 783760n819679