Автор: Binder Julius   Busse Martin   Larenz Karl  

Теги: hegel   philosophie  

Год: 1931

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BINDER / BUSSE /LARENZ EINFÜHRUNG IN HEGELS RECHTSPHILOSOPHIE FlLOZOF iuLi- v • bkist AR SMUßliiöts kro Juflosäavije UZAGREfiU

Einführung in Hegels Rechtsphilosophie von Prof. Dr. Julius Binder Dr. Martin Busse / Privatdoz. Dr. Karl Larenz SveaöUitta kr» •U ZAG-hEÖU 19 3 1 Junker und Dünnhaupt Verlag, Berlin
Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1931 by Junker und Dünnhaupt Verlag, Berlin. Gedruckt bei A. Heine G. m. b. H., Gräfenhainichen.
Vorwort Die hier vereinigten drei Vorträge wurden im Sommer 1931 im rechtsphilosophischen Seminar in Göttingen gehalten. Die beiden ersten Vorträge bildeten die Einleitung, der letzte den Abschluß des Seminars. Sie sind so der Ausdruck gemeinschaft- licher Semesterarbeit und einer in ständigem Gedankenaus- tausch zwischen Lehrer und Schüler erworbenen Einheitlich- keit der Auffassung und wollen daher als ein Ganzes genommen werden. Ihre Absicht ist, zu Hegel hin- und in sein Denken einzuführen; so wie sie aus unseren gemeinschaftlichen Erörte- rungen entstanden sind, so wollen sie zu weiteren Erörterungen des Gegenstandes Anlaß geben und ihnen Richtung und Weg weisen. Göttingen, im August 1931. Die Verfasser.
Inhalt. Seite Hegels Begriff der Philosophie und der Rechtsphilosophie von Privatdozent Dr. Karl Larenz...........................5 Das Thema der Rechtsphilosophie Hegels von Dr. Martin Busse.......................................30 Das System der Rechtsphilosophie Hegels von Professor Dr. Julius Binder............................56
Hegels Begriff der Philosophie und der Rechtsphilosophie. Von Karl Larenz. Mit der Erneuerung des Hegelstudiums gewinnt heute auch Hegels Rechtsphilosophie an Bedeutung. Waren es früher eigentlich nur einzelne Teile, wie Hegels Lehre von der Strafe und vor allem seine Staatsauffassung, die die Aufmerksamkeit auf sich lenkten, so gilt heute wieder das Interesse Hegels Rechtsphilosophie als Ganzem, in der wir das bisher uner- reichte Vorbild einer dialektischen Philosophie des Rechts und des Staates erblicken. Nachdem die Entwicklung des philo- sophischen Bewußtseins in der Gegenwart so weit fortge- schritten ist, daß die Probleme Hegels wieder unsere eigenen Probleme geworden sind, nachdem insbesondere die Dialektik wieder als die Methode des philosophischen Denkens erkannt worden ist1), und nachdem unsere Zeit auch zu Hegel selbst wieder den Zugang gefunden hat2), kann niemand mehr an Hegels Rechtsphilosophie vorübergehen, dem es ernsthaft um die philosophische Erkenntnis des Rechts und des Staates zu tun ist. Bis vor kurzem war es gerade auch in der rechtsphilo- sophischen Literatur noch möglich und leider üblich, Hegel x) Vgl. Jonas Cohn, Theorie der Dialektik; Arthur Liebert, Geist und Welt der Dialektik; Siegfried Marek, Die Dialektik in der Philosophie der Gegenwart. 3) Aus der zahlreichen. Hegelliteratur der letzten Jahre nenne ich als die wichtigsten Werke: Richard Krönet, Von Kant zu Hegel; Nicolai Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus Bd. II Hegel; Hermann Glöckner, Hegel Bd. I Die Voraussetzungen der Hegelschen Philosophie; Theodor Haering, Hegel, sein Wollen und sein Werk Bd. I; ferner die Einleitungen Georg Lassons zu seiner Ausgabe der Werke Hegels und die Verhandlungen des ersten Hegelkongresses 1930.
6 Karl Larenz. entweder zu ignorieren oder ihn ohne tieferes Verständnis für sein Denken leichthin abzutun; einzelne, aus dem Zusammen- hang gelöste und damit ihres Sinnes beraubte Sätze mußten vielfach dazu herhalten, um Hegel die unsinnigsten Ansichten zu imputieren, die man dann freilich leicht „widerlegen“ konnte. So hat man aus Hegels Ausspruch, daß das Wirkliche vernünftig sei, immer wieder geschlossen, daß Hegel jedes Be- stehende als solches schon für gerechtfertigt halte, und ein be- sonders tiefsinniger Kritiker hat neuerdings herausgebracht, daß dann ja selbst das Verbrechen gerechtfertigt sei, da es doch wirklich wäre1). Der ahnungslose Kritiker, der sich für soviel klüger hält als Hegel — denn er weiß ja, daß das Ver- brechen unrecht ist, was Hegel nicht gewußt haben soll! — hat leider nur eine Kleinigkeit übersehen: daß nämlich die „Wirk- lichkeit“ für Hegel einen höheren Grad von Gültigkeit hat als die bloße „Existenz“, daß das gewöhnlich so genannte Wirkliche in der Sprache Hegels nur ein Existierendes ist und allein das- jenige, worin die Idee existiert, „wirklich“ ist „Wirklich- keit“ ist für Hegel der Ausdruck für die dia- lektische Einheit des Wesens und der Erschei- nung oder auch der Idee und der Existenz. Was aber das Verbrechen betrifft, so hätte jener überaus kluge Kri- tiker nur den § 97 der Hegelschen Rechtsphilosophie zu lesen brauchen, in dem Hegel ausführt, daß das Verbrechen zwar „eine positive, äußerliche Existenz, aber in sich nichtig“ sei, woraus sich für Hegel die Unwirklichkeit des Verbre- chens als eines nur Existierenden und im Gegensatz dazu dann die Wirklichkeit des Rechts ergibt, das sich in der Be- strafung des Verbrechers gegen das geschehene Unrecht durch- setzt, es zu dem macht, was es „an sich“ ist — nämlich zu einem nichtigen, vergehenden Dasein — und darin sich selbst als die in Existenz getretene Idee, also als „wirklich“ behauptet. Schließlich hätte ihn, falls er eben Hegel überhaupt gelesen hätte, die von Hegel häufig am römischen Recht geübte Kritik davon überzeugen können, daß Hegel keineswegs alles x) E. E. Hölscher, Sittliche Rechtslehre 1930, Bd.l S. 199. ,
1 T’ >'t- V ‘ r ' ü ZÄ3KL4W Hegels Begriff der Philosophie und der Rechtsphilosophie. 7 Bestehende für gerechtfertigt ansah; es hätte ihm die von Hegel ausdrücklich als „sehr wichtig“ bezeichnete Bemerkung nicht entgehen können, daß „eine rechtliche Bestimmung sich aus den Umständen und vorhandenen Rechtsinstitutionen als vollkommen gegründet und konsequent zeigen lassen und doch an und für sich unrechtlich und unvernünftig sein kann1)“. Die Beispiele einer derartig verständnislosen Kritik, deren Plattheit durch die Häufigkeit der Wiederholung nicht geringer wird, ließen sich leicht vermehren. Demgegenüber dürfte es an der Zeit sein, sich auf d i e Aufgabe zu besinnen, deren Lö- sung vor jeder ernsthaften Auseinandersetzung stehen muß, nämlich mit der Sache ernst zu machen und Hegel, statt ihm unbesehen die törichtesten Ansichten zu unterstellen, erst einmal in seiner Sprache und Denkweise verstehen zu lernen. Es ist daher die Aufgabe dieser Vorträge, die Voraussetzungen und die Grundgedanken der Hegelschen Rechtsphilosophie darzu- legen, so wie sie sich aus seinem System selbst ergeben. Eine der Hauptschwierigkeiten, die sich dem Verständnis der Rechtsphilosophie entgegenstell en, ist der Umstand, daß sie als ein Glied des ganzen Hegelschen Systems nicht allein aus sich heraus verständlich ist, sondern die in den andern Teilen, vor allem in der Logik entwickelten Begriffe voraussetzt und in ihrer Anlage und Methode durch die Anlage und Methode des ganzen Systems bestimmt wird. Dieser Umstand fällt um so mehr in das Gewicht, als in Hegels System jeder Begriff seine eigentümliche Bedeutung erst durch den Fortgang des Systems selbst erhält Der Weg zu Hegels Rechtsphilosophie führt nur durch sein System, und unsere Einführung hat daher diesen Weg aufzuzeigen und ihn verständlich zu machen. Dabei kann es sich, wenn die Darstellung wirklich zu Hegel hin- und nicht nur um ihn herumführen soll, nicht nur darum handeln, Hegels Begriffe in die geläufige Sprache des wissen- schaftlichen Allgemeinbewußtseins zu übersetzen, wie das wohl manchmal gefordert wird. Denn es ist nicht so, daß Hegel § 3 S. 22 der Aüsg. von Lasson.
8 Karl Larenz. seine Gedanken etwa absichtlich oder aus mangelnder Aus- drucksfähigkeit — Hegel war im Gegenteil ein Meister der Sprache! — in dunkle Worte gekleidet hätte, sodaß wir sie nur mit den uns geläufigen Ausdrücken zu verdeutlichen hätten, um die Schwierigkeiten des Verständnisses aus dem Wege zu räumen. Vielmehr sind seine Begriffe der adäquate Ausdruck seines Denkens, und die Schwierigkeit und Dunkel- heit der Begriffe liegt nicht darin, daß sie den Gedanken schwerfällig, ungenau oder unvollständig widergäben, sondern darin, daß sich die Gedanken in einer Ebene des Denkens be- wegen, die von der gewöhnlichen Ebene unseres Bewußtseins so sehr verschieden ist, daß die Sprache sie in der uns ge- läufigen Bedeutung der Worte nicht wiederzugeben vermag, so daß also dieses Denken mit Notwendigkeit sich erst seine eigene Sprache schaffen mußte und nur in dieser ihm gemäßen Sprache verstanden werden kann. Wer daher Hegels Gedanken kennen lernen will, der muß seine Sprache verstehen und mehr noch in ihr denken lernen, und das wird ihm in eben demselben Maße gelingen, als er in Hegels Gedanken einzu- dringen vermag. Es ist schlechterdings nicht möglich, Hegels Gedanken anders wiederzugeben als in der Sprache ihres Schöpfers, und so steht jede einführende Darstellung vor der gleichen Schwierigkeit, an der das Verständnis Hegels bisher so häufig gescheitert ist: daß, wer Hegels Sprache nicht kennt, seine Gedanken nicht versteht, und wer seine Gedanken nicht kennt, seine Sprache nicht versteht. Worauf es daher ankommt, ist, mit Hegels eigenen Worten zu reden, „die Anstrengung des Be- griffs auf sich zu nehmen“; alle mitgebrachten Vor- stellungen, Meinungen und Vorurteile beiseite zu lassen und sich der Entwicklung des Gedankens anzuvertrauen, nicht nur die Worte in ihrer geläufigen Bedeutung aufzunehmen, son- dern den Gedanken nachzudenken und sich der Entwicklung des Gedankens im Resultate, d. h. im Begriff, den es zu ent- wickeln gilt, bewußt zu bleiben. Denn, um es noch einmal zu sagen, der Begriff ist nur das, als was er in der
Hegels Begriff der Philosophie und der Rechtsphilosophie. 9 vorausgegangenen Entwicklung des Gedan- kens geworden ist, und dieses Werden des Begriffes, seine Deduktion, ist daher von seinem Inhalt oder seiner Be- deutung unabtrennbar. Der Begriff nun, der zuerst entwickelt werden muß, um Hegels Rechtsphilosophie ihrer Anlage und Methode nach verständlich zu machen, ist der Begriff der Rechtsphilosophie. I. Der Begriff der Philosophie. Die Frage nach dem Begriff einer Wissenschaft schließt die nach ihrem Gegenstand und ihrer Methode ein. Die Philo- sophie findet ihren Gegenstand nicht wie irgendeine Einzel- wissenschaft vor, sondern bestimmt ihn, ebenso wie die Methode, erst in ihrem eigenen Fortgänge. Der Begriff der Rechtsphilosophie setzt den der Philosophie voraus, und die Entwicklung beider Begriffe fällt in die Philosophie selbst. Wir müssen also zeigen, wie der Begriff der Philosophie und weiterhin der der Rechtsphilosophie sich für Hegel innerhalb seiner Philosophie bestimmt. Die Philosophie ist Wissen, d. h. denkende Erfassung der Wirklichkeit. Sie ist aber nicht nur Wissen schlechthin, son- dern ein Wissen, das sich seiner bewußt ist, das um sein eigenes Wesen weiß. Mit diesem Ausgangspunkt steht Hegel in der Linie, die von Kant ausgeht. Kritik des Wissens, der Erkenntnis war die Leistung Kants. Kant reflektierte aber noch nicht auf das Erkennen, das er in seiner Kritik selbst betätigte, das Wissen, das um sich weiß. Fichte dagegen machte das seiner selbst bewußte Wissen in seiner Wissen- schaftslehre zur Grundlage aller Wissenschaft. Den Weg, den Kant betreten und Fichte mit deutlicherem Bewußtsein fort- geführt hatte, vollendet Hegel in seiner „Phänomenologie des Geistes“1). Sie will den Weg des Wissens zum Be- 1) Über die Phänomenologie des Geistes und ihr Verhältnis zur Rechtsphilosophie vgl. Busse, Hegels Phänomenologie des Geistes und der Staat, Berlin 1931, S. 3ff. u. 79ff.
10 Karl Larenz. wußtsein seiner selbst aufzeigen, einen Weg, der durch alle Stufen des „erscheinenden Wissens“ bis zum seiner selbst be- wußten, philosophischen oder spekulativen Wissen hinführt, und will so das spekulative Wissen begründen, dessen Ent- faltung und Darstellung die Logik und die alle Zweige der Philosophie umfassende „Enzyklopädie“ enthält. Wir unterscheiden also das Wissen, das seiner noch nicht be- wußt ist, das unphilosophische Wissen, und das Wissen, das sich weiß, das philosophische Wissen. Das seiner noch unbe- wußte Wissen hat den Gegenstand sich gegenüber und denkt ihn als etwas von ihm selbst Verschiedenes, seinem eigenen Wesen Fremdes. Es weiß nicht sich, sondern: den Baum, das Haus, den Tag, die Nacht, ein sinnliches „Dieses“, ein „Hier“ und ein „Jetzt“. Der Baum steht an einer bestimmten Stelle, ob ich oder ein anderer es nun weiß oder nicht; er ist also für das unphilosophische Wissen ein Jenseits, ein von ihm Un- abhängiges. Aber indem ich num von dem Baume Kenntnis nehme, mehr noch, indem ich ihn als einen Baum bezeichne und damit das konkrete sinnliche Etwas mit der Allgemein- vorstellung „Baum“ verbinde, die als solche ein Gedanke ist, der allein meinem Wissen und nicht einer ihm fremden Reali- tät angehört, hat sich bereits ein Wandel in der Stellung des Wissens zum Gegenstände vollzogen. Der Gegenstand wird Inhalt des Bewußtseins, indem er, dieser sinnlich Ein- zelne, als etwas Allgemeines erkannt wird. Als ein Allgemeines gehört er dem Wissen an. Ich kann nun wohl noch sagen, daß dieser Baum unabhängig von meinem Wissen oder von dem Wissen eines andern bestimmten Subjekts da ist, aber als dies Allgemeine „Baum“ ist er nicht unabhängig von einem Wissen schlechthin. Denn nur für ein Wissen ist er als etwas Allgemeines. Ist der Gegenstand „an sich“ oder seinem Wesen nach nicht nur ein Einzelnes, sondern ein Allgemeines, das Allgemeine aber nur „für uns“ oder für das Wissen, so ist der Gegenstand an sich, was er für uns ist, oder er ist, als was er gewußt wird. Das Sein ist in das Wissen einbezogen, es steht ihm nicht mehr fremd
Hegels Begriff der Philosophie und der Rechtsphilosophie. U gegenüber, sondern ist nur eine Erscheinungsform des Wissens als des Allgemeinen. , Was eben gesagt wurde, ist die Erkenntnis, zu der das philo- sophische Wissen gelangt. Das seiner noch unbewußte Wissen , weiß hiervon nichts. Es fährt fort, den Gegenstand als schlecht- hin außerhalb des Wissens befindlich zu betrachten. So be- findet es sich in einem doppelten, ihm selbst freilich unbe- wußten Widerspruch. Der eine Widerspruch betrifft sein Ver- hältnis zum Gegenstand. Er wird als dem Wissen fremd vor- ausgesetzt und soll doch erkannt werden, in das Wissen ein- gehen. Der andere Widerspruch betrifft sein Verhältnis zum philosopischen Wissen, das es als ihm entgegengesetzt be- trachtet, und das doch dasselbe Wissen ist, insofern es nur um sich weiß. Dieser doppelte Widerspruch ist aber, recht gesehen, ein einziger. Denn das philosophische Wissen hebt den einen zugleich mit dem andern auf, indem es erkennt, daß das Wissen, also es selbst, diese doppelte Gestalt hat, einmal sich im Gegensatz zum Gegenstände und dann sich mit ihm als eins zu wissen. Das philosophische Wissen erkennt also, daß die Entgegensetzung des Wissens und des Gegenstandes nur der einen Gestalt des Wissens angehört, und hebt diesen Gegen- satz zugleich mit dem Gegensatz der beiden Gestalten des Wissens auf, indem es sich selbst als Wissen in die beiden Ge- stalten des philosophischen und des unphilosophischen Wissens unterscheidet. So ist der Widerspruch des unphilosophischen Wissens und seines Gegenstandes gleichbedeutend mit dem Gegensätze der beiden Gestalten des Wissens, er ist ein Wider- spruch nicht, wie es das seiner unbewußte Wissen annimmt, zwischen dem Bewußtsein und einem Jenseits des Bewußt- seins, sondern innerhalb des Bewußtseins selbst. DerGegen- satz, der dem Realismus als ein absoluter er- scheint, ist aufgehoben in der Einheit des Be- wußtseins, das diesen Gegensatz als mit dem in ihm selbst gesetzten Gegensatz der beiden Gestalten des Wissens gleich- bedeutend weiß. Der Realismus als erkenntnistheoretisches Prinzip ist damit aufgehoben. Hegels Philosophie erweist sich
12 Karl Larenz. so, erkenntnistheoretisch gesehen, als zu Ende gedachter Idea- lismus, der seine höhere Wahrheit gegenüber dem realistischen Standpunkt dadurch erweist, daß er diesen selbst als eine not- wendige, aber nur vorläufige Gestalt des Wissens anerkennt. Das empirische Wissen, dem sein Gegenstand etwas ihm Fremdes bleibt, gelangt nicht zum Begriff, sondern nur zur Vorstellung. Denn Begreifen bedeutet für Hegel, etwas in sicheinbegreifen. Das begreifende Denken ist daher das philosophische Denken, das sich mit seinem Gegenstände als eins weiß und ihn so in sich einbezieht. Das vorstellende Denken dagegen stellt den Gegenstand nur vor sich hin, es schreibt ihm bestimmte Merkmale zu, deren inneren Zu- sammenhang es jedoch nicht zu erkennen vermag. Der Gegen- stand geht nicht in seinen Merkmalen und deren notwendigen Zusammenhang auf, sondern wird durch sie nur annäherungs- weise gekennzeichnet und daher nicht begriffen. Ein sinnlich einzelnes Ding kann nur auf solche Weise vorgestellt, nach seinen einzelnen Merkmalen beschrieben und umschrieben, nicht aber begriffen werden. Was wir gemeinhin einen Begriff nennen, nämlich eine Summe von Merkmalen oder Vor- stellungselementen, ist für Hegel kein Begriff, sondern eine Allgemeinvorstellung. Der Begriff setzt die Einheit des Denkens und seines Gegenstandes oder vielmehr ihre Ineinssetzung vor- aus oder richtiger, erist diese Ineinssetzung, das Auf- heben des Unterschiedes. So ist er nicht eine äußerliche Zu- sammenfassung unterschiedener selbständiger Elemente, wie die Allgemeinvorstellung, sondern Einheit der in ihm selbst gesetzten Unterschiede, das ist Inbegriff seiner Momente. Jedes Moment stellt das Ganze des Be- griffs auf eine eigentümliche Weise dar und ist zugleich eine notwendige Stufe in der logischen Bewegung des Begriffs. So ist der Begriff des unphilosophischen Wissens, wie wir ihn ent- wickelt haben, eine notwendige Stufe in der Entwicklung des Begriffs des Wissens, das sich selbst in das unphilosophische und das philosophische Wissen unterscheidet und als das letztere diesen Unterschied wieder aufhebt. Diese Selbstunter-
Hegels Begriff der Philosophie und der Rechtsphilosophie. 13 Scheidung und Aufhebung des Unterschiedes im Wissen, die logische Bewegung des Begriffs, ist d i e D i a 1 e k t i k. In der dialektischen Entwicklung des Begriffs bleiben die beiden einander zunächst entgegengesetzten Momente (z. B. das philosophische und das unphilosophische Wissen) nicht ein- ander fest gegenüber stehen, sondern das eine der beiden Mo- mente erweist sich als übergreifend, d. h., es nimmt das andere in sich auf und wird so zum Ganzen. Der spekulative Begriff, von dem Hegel in der Rechtsphilosophie § 7 sagt, daß der Ver- stand, das unphilosophische Denken, ihn gerade immer das Unbegreifliche nenne, ist dieses Übergreifen des einen Mo- ments über das andere, wodurch es Totalität oder Inbegriff wird. Das philosophische Denken ist spekulatives oder dialek- tisches Denken, indem es sich nicht in Vorstellungen, sondern in Begriffen bewegt und diese Bewegung nicht als die subjek- tive Zutat des erkennenden Subjekts, sondern als die imma- nente S elbs t be wegung des Begriffs in der Unter- scheidung und Aufhebung seiner Momente erkennt. Es ist ein weit verbreitetes Mißverständnis, Hegels Dialektik stelle ein Schema dar, das in äußerlicher Weise von ihm an die Gegenstände herangetragen würde, und durch das diese nun vergewaltigt würden. Diese Ansicht gehört selbst dem unphilo- sophischen Wissen an, das den Gegenstand nur als etwas Vorge- fundenes und dem Bewußtsein gegenüber Fremdes betrachtet. Für das philosophische Wissen, das sich mit seinem Gegen- stände eins weiß, ist'dagegen seine eigene Bewegung die des Gegenstandes selbst und die Dialektik daher nicht ein dem Gegenstände äußerlich aufgezwungenes Schema, sondern der bewußt gewordene Gang der Sache selbst. Dialektisch denken heißt nicht, den Reichtum des Wirklichen in ein vorhandenes Schema pressen, sondern ihn aus seiner eigenen Bewegung verstehen. Das Urbild dieser Bewegung ist die des Selbst- bewußtseins, das sich als Bewußtsein seiner selbst und als Be- wußtsein eines ihm fremden Gegenstandes unterscheidet und in der Unterscheidung dieser seiner Momente sich als ihre Einheit weiß. Um ein Beispiel aus der Rechtsphilosophie zu
14 Karl Larenz. nennen, so ist diese Bewegung die des Willens und seiner Ver- wirklichung, indem der Wille als seelischer Vorgang, als das Bewußtsein der Tat, dieser als einer äußeren Wirklichkeit ent- gegengesetzt ist und doch zugleich mit ihr eins ist, insofern die Tat als sein Zweck ihm auch innerlich angehört. Der Aus- druck dieser Einheit des Willens mit sich selbst in seiner Tat ist die Zurechnung ; seine Taten kann der Mensch nicht ver- leugnen, sie gehören seinem Willen als dessen eigne Wirklich- keit an; daher ist der Mensch für Hegel das, was seine Taten sind (R.-Phil. § 124). Die Dialektik vollzieht sich in der Form der Setzung einer These, einer Antithese und der Synthese. Aber dieser äußere Gang des dialektischen Schlusses darf nicht mißverstanden werden. Er erweckt die Vorstellung, als ob These und Anti- these sich fest gegenüberstünden und die Synthese als ein Drittes hinzukäme, so etwas wie eine „mittlere Linie“ oder ein „Kompromiß“ wäre, Vorstellungen, die das Wesen der Hegelschen Dialektik völlig verkennen. These und Antithese verhalten sich nicht zueinander wie zwei sich fest gegenüber- stehende Größen, sondern die These setzt die Antithese als ihren Gegensatz, ohne den sie selbst nicht gedacht werden kann, und setzt zugleich sich als das über- greifende Ganze, das den Gegensatz in sich aufhebt und so die Synthese ist. Die Entgegensetzung der These und Anti- these wird dadurch aufgehoben, daß der Widerspruch gedacht wird, der darin liegt, daß ein Moment selbst das Ganze ist oder vielmehr wird, indem es über das Entgegen- gesetzte übergreift und sich so — als These — ebensowohl von ihm unterscheidet, wie — als Synthese — sich mit ihm eins setzt. Die Synthese kommt so nicht zur These und zur Anti- these hinzu, sondern ist die Bewegung von der These zur Antithese, eine Bewegung, in der beide nicht nur als einander notwendig fordernd und bedingend erkannt werden, sondern die eine zugleich die Entgegensetzung in sich enthält l) Hierüber siehe meine Schrift „Hegels Zurechnungslehre und der Begriff der objektiven Zurechnung“, Leipzig 1927.
Hegels Begriff der Philosophie und der Rechtsphilosophie. 15 und sie aufhebt. Die Aufhebung des Gegensatzes bedeutet eben- sowohl seine Erhaltung wie seine Überwindung: er wird er- halten als Moment der ganzen Bewegung, die der Begriff ist, überwunden, indem diese Bewegung als Einheit gedacht wird. Die dialektische Einheit ist so nicht die den Gegensatz von sich ausschließende formale Identität des Verstandes, sondern sie ist der gedachte Widerspruch, die „Identität der Identität und der Nichtidentität^1). Um das noch- mals an der bereits aufgezeigten Dialektik des Erkennens zu er- läutern, so lautet die These: das Subjekt erkennt nur sich selbst, die Antithese: das Subjekt erkennt nicht sich selbst, sondern ein anderes, das Objekt. Die Wahrheit ist, daß das Subjekt er- kennt, daß der Unterschied des Subjekts und des Objekts in es selbst fällt; so erkennt es auch im Objekt sich selbst, die Syn- these lautet also: das Subjekt erkennt das Objekt als sich selbst, es hebt den Gegensatz seiner und des Objekts in seinem Erkennen auf. So ist das Subjekt von dem Objekt ebenso unter- schieden wie mit ihm eins, und diese insichselbstwider- spruchsvolle Einheit ist der Begriff des Subjekts und des Erkennens. Der Begriff des Erkennens ist die Wahrheit des Erkennens und damit die Wahrheit der Philosophie. Was bedeutet für Hegel der Gedanke der Wahrheit? Das unphilosophische Wissen versteht darunter die Übereinstimmung des Wissens mit dem Gegenstände. Der Gegenstand gilt ihm als das Feste, dem das Wissen gleich werden soll, um wahr zu werden. Diese Vor- stellung ist mit dem Realismus überwunden. Ist der Gegen- stand nicht etwas dem Wissen gegenüber Fremdes, sondern nichts anderes als das Wissen selbst, so kann die Wahrheit nur in der Übereinstimmung des Wissens mit sich selbst gelegen sein. Diese Übereinstimmung bringt eine Philosophie wie die Fichtes, die sich schon zum Idealismus erhoben, aber * Ü So spricht Hegel zuerst in dem Aufsatz über die Differenz des Fichteschen und des Schellingschen Systems das Prinzip des Absoluten aus; Erste Druckschriften S. 77. Vgl. auch Logik I, S. 59. (Ausgabo Lasson.) Einführung in Hegels Rechtsphilosophie. 2
16 Karl Larenz. noch nicht die dialektische Natur des Wissens völlig durch-* schaut hat, in einem vorangestellten, abstrakten Grundsatz zum Ausdruck, der die Form des Satzes A = A hat, eine abstrakte Verstahdesidentität bedeutet. Aber da dieser Grund- satz nichts als die reine, von jedem Unterschied freie, und daher ganz inhaltslose Identität besagt und das Wissen, um zu einem irgendwie bestimmten Inhalt zu gelangen, einen Unterschied machen muß, so tritt dem ersten Grund- satz ein zweiter entgegen, der ihm und damit dem Prin- zip der Identität widerspricht. Der erste Grundsatz, die Iden- tität, gilt aber als das Wahre, der zweite Grundsatz als eine Einschränkung der Wahrheit, und das Streben geht daher dahin, ihn und alles weitere aus ihm Abgeleitete wieder auf den ersten Grundsatz zurückzuführen. Dieses Streben kommt aber nicht zum Ziel, da das Beginnen widerspruchsvoll ist, der Widerspruch aber noch nicht als das Prinzip der Wahrheit er- kannt ist. Für das dialektische, spekulative Denken dagegen ist das Wahre nicht die formale Identität des ersten Grundsatzes, sondern die Einheit als der sich aufhebende Unterschied. Wahrheit oder Übereinstimmung des Wissens mit sich selbst bedeutet ihm nicht eine solche Einheit, die den Unterschied ausschließt, sondern die sich in sich selbst unter- scheidet. Die Wahrheit ist daher für Hegel nicht in einem abstrakten Prinzip oder Grundsatz ausgedrückt, sondern sie ist „das Ganze“ des sich unterscheidenden und in seinen Unter- schieden mit sich eins bleibenden Wissens. In der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes, die jeder lesen sollte, der Hegel kennen lernen will, hat er sich am deutlichsten über diesen Be- griff der Wahrheit ausgesprochen. „Das Wahre ist das Ganze'4, es ist „das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen“ (S. 14). „Unter mancherlei Folge- rungen, die aus dem Gesagten fließen, kann diese herausgehoben werden, daß das Wissen nur als Wissenschaft oder als System wirklich ist und dargestellt werden kann; daß ferner ein sog, Grundsatz oder Prinzip der Philosophie, wenn er wahr ist, schon darum auch falsch ist, insofern er nur als Grundsatz oder
Hegels Begriff der Philosophie und der Rechtsphilosophie. 17 Prinzip ist“ (S. 16). Die Philosophie spricht die Wahrheit also nicht in einem abstrakten Grundsatz aus, sondern ent- wich eit si e als das S y ste m des sich begreifenden Wissens. Jener oberste Grundsatz einer schon idealistischen, aber noch nicht dialektischen Philosophie bedeutet für diese nicht nur das Prinzip der Wahrheit, sondern bildet den absoluten Anfang der Philosophie, hinter den nicht mehr zurückgegangen werden kann. Er ist der feste Punkt, von dem alles Denken seinen Aus- gang nimmt, auf dem es als seinem letzten Grunde beruht, in den es aber nicht zurückkehrt. Ist dagegen erkannt, daß das Wahre nicht in einem solchen abstrakten ersten Grundsatz ent- halten ist, sondern das Ganze des Wissens ist, so gibt es keinen absoluten Anfang der Philosophie. Solange eine Er- kenntnis nur erst Anfang und noch nicht ein durch das Ganze des Wissens vermitteltes Resultat ist, kommt ihr noch keine Wahrheit zu. Soll daher die Philosophie, wie allerdings zu fordern ist, schon in ihrem Anfang wahr sein, so muß der An- fang mit dem Resultat übereinstimmen. Im Resultat muß das Wissen zu seinem Anfang zurückkehren und der Anfang sich ebenso als Anfang wie als Resultat, als vorausgesetzt oder un- mittelbar wie als abgeleitet oder vermittelt erweisen. Die Be- wegung der Philosophie ist so der Kreis, der in sich zurück- läuft, das Ganze derselben „e i n K r e i s 1 a u f i n s i eh s e 1 b s t, worin das Erste auch das Letzte und das Letzte auch das Erste wird“. (Logik I S. 56). Freilich ist das Bild des Kreises wie jedes Bild nur eine unvollkommene Wiedergabe des Gedankens, denn es erweckt den falschen An- schein, als sei der Ausgangspunkt mit dem Resultat abstrakt identisch, während in Wahrheit im Resultat die ganze Be- wegung enthalten und es daher mit dem Ausgangspunkt ebenso identisch wie nicht identisch, also in dialektischer Weise eins ist. Es ist so mit ihm eins, wie die Synthese mit der These, wie das Ganze mit seinem ersten Moment; es ist dasselbe, aber als das in sich Reichere, Entwickelte oder als seine Wahrheit, denn das Allgemeine, das sich im System zur konkreten Totalität ent- wickelt, „verliert durch sein dialektisches Fortgehen nicht nur 9*
18 Karl Larenz. nichts, noch läßt es etwas dahinten, sondern trägt alles Er- worbene mit sich und bereichert und verdichtet sich in sich“. (Logik II, S. 502). Indem sich so der Ausgangspunkt im Resultat als aufgeho- benes Moment erweist, stellt das Resultat die Wahrheit des Ausgangspunktes dar und ist der Grund, aus dem die Bewe- gung hervorgeht und in den sie zurückgeht. Das, was in der Philosophie das Erste, Begründende ist, erweist sich also eben- so als ein Letztes und Begründetes; so ist in der Bewegung der Gedanken innerhalb der Philosophie „das Vorwärtsgehen ein Rückgang in den Grund zu dem Ursprünglichen und Wahr-\ haften, von dem das, womit der Anfang gemacht wurde, ab- hängt und in der Tat hervorgebracht wird“. (Logik I S. 55.) Die Bewegung des Wissens steigt von der einfachsten Bestimmung des Anfangs durch immer reichere Bestimmungen bis zur Totali- tät empor, in der das Wissen mit sich übereinstimmt; diese Be- wegung ist aber nur möglich, weil die Totalität schon im Be- ginne vorausgesetzt wurde, oder weil sie die ursprüngliche Ein- heit ist, in der die Unterschiede einbegriffen sind, und die s i c h selbst als die Einheit dieser Unterschiede er- kennt. Sie erkennt sich gemäß dem idealistischen Gedanken der Einheit des Wissens und des Seins als die sich wissende Totalität des Seins, oder als Geist „Daß das Wahre nur als System wirklich, oder daß die Substanz wesentlich Subjekt ist, ist in der Vorstellung ausgedrückt, welche das Absolute als Geist ausspricht.“ (Phänomenologie S. 17.) Der Begriff des Geistes ist der zentrale Begriff der Hegel- schen Philosophie. Der Geist ist die Substanz, die sich weiß, das konkret Allgemeine, das alle Besonderungen in sich faßt und sich in ihnen selbst bestimmt, die Totalität des Wissens und seiner Gegenstände, das Wahre, das das Gapze oder Sy- stem ist. Als das Resultat der Bewegung ist er das Hervorbrin- gende; er bringt sich in ihr hervor und verwirklicht sich in demselben Maße, als er sich als alle Wirklichkeit erkennt. Die Philosophie als das sich wissende Wissen ist so Selbsterkennt- nis des Geistes. Die Glieder des Systems sind die Momente der'
Hegels Begriff der Philosophie und der Rechtsphilosophie. 19 sich entwickelnden Einheit des Wissens und seiner Gegen- stände; so zerfällt das System in die Logik als das. Wissen im reinen Elemente des Gedankens, in die Naturphilosophie als das Wissen einer gegenständlichen Welt, die zwar für das Wissen allgemein oder Gedanke ist, aber sich selbst nicht so weiß, und in die Philosophie des Geistes, der sich ebenso als Gegenstand wie als Subjekt weiß. Die Philosophie der Natur und des Geistes machen zusammen das aus, was man Meta- physik zu nennen pflegt, die „Wissenschaft der Dinge in Ge- danken erfaßt“. (Enzyklopädie § 24.) Aber auch die Logik ist schon Metaphysik, und die' Metaphysik ist auch Logik, denn da für Hegel die wahre Natur der Gegenstände ihre nur ge- danklich erfaßbare Allgemeinheit und das Allgemeine jdie Na- tur des Denkens ist, so sind die Formen des Denkens die Momente der Gegenstände selbst. Hegels Sy- stem als „Panlogismus“ zu bezeichnen, ist nur dann gerechtfer- tigt, wenn man dabei an den Logos oder den Geist im Sinne Hegels denkt, der ebenso Substanz wie Wissen oder Subjekt ist. Der Ausdruck erweckt aber dann einen falschen Anschein, wenn man, wie es gewöhnlich geschieht, bei der Logik nur an die reinen Formen des von den Gegenständen getrennten Den- kens, an die gewöhnliche formale Logik denkt, die nicht, wie Hegels dialektische Logik, bereits Metaphysik ist. Das System ist aber, wie Logik und Metaphysik, so auch Religionsphilosophie, denn es stellt das ewige Wesen Gottes als sein Werden im Geiste dar. Gott ist selbst das Ganze, der ewige Prozeß als einfache, ruhige Wesenheit gedacht. Die Re- ligion Jst das Bewußtsein Gottes in der Form der Vorstellung, die Philosophie in der Form des Begriffs. „Gott ist so das Re- sultat der Philosophie, von dem erkannt wird, daß es nicht bloß das Resultat ist, sondern ewig sich her vor bringt, das Vor- ausgehende ist.“ (Religionsphilosophie I S. 32.) Wenn man Hegels Philosophie als „Pantheismus“ bezeichnet, so verkennt man meistens, daß ihm Gott nicht gleich der Summe der Gegen- stände, sondern deren „Resultat“ ist, daß er sie in sich begreift und zugleich das Ursprüngliche und Tätige ist, das sie ewig
20 Karl Larenz, hervorbringt, und sich darin ebenso von ihnen unterscheidet, wie diese Unterscheidung wieder aufhebt „Panlogismus“ und „Pantheismus“ sind daher einseitige und schiefe Bezeichnungen für Hegels Philosophie, wenn sie nicht gerade in dem eigentümlichen Sinne verstanden werden, der sich aus Hegels System selbst ergibt. Die Wahrheit dieser einseitigen Bezeichnungen ist die, daß die Philosophie für Hegel in allen ihren Teilen ebenso Logik, wie Metaphysik der Natur und des Geistes und Religionsphilosophie ist, und wenn sie sich in diese Teile gliedert, keiner gegen die übrigen isoliert werden darf. II. Der Begriff der Rechtsphilosophie. Wenn wir uns nun vom Begriff der Philosophie zu dem der Rechtsphilosophie wenden, so wissen wir, daß das Verhältnis beider Begriffe nur das einer Einheit im Unterschiede, also ein dialektisches sein kann. Das bedeutet, daß der Begriff der Rechtsphilosophie in dem der Philosophie schon als eines seiner Momente mitgedacht ist und aus ihm nur entwickelt zu werden braucht. z Die Philosophie ist ihrem Begriffe nach Selbsterkenntnis des Geistes als der sich wissenden Substanz. Der Geist.ais der tätige Prozeß seiner Selbstverwirklichung unterscheidet sich als Wille und als Denken. Eines ist nicht ohne das andere: das Denken ist eine bewußte Tätigkeit und daher auch Wille, der Wille tätiges, Zwecke setzendes Bewußtsein, also auch Denken. Das übergreifende Moment ist das Denken, denn in ihm , erfaßt der Geist sich selbst und setzt er den Unterschied des Denkens und des Wollens in sich selbst. Darum erfaßt sich der Geist auf der höchsten Stufe seiner Selbsterkenntnis, als absoluter Geist, wesentlich wieder als Denken. Als begreifendes oder wahrhaft denkendes Denken ist er hier die Philosophie. Als Wille da- gegen, der seinen Zweck vermittelst einer ihm entgegen- stehenden und ihm so noch äußerlichen Realität verwirklicht,
Hegels Begriff der Philosophie und der Rechtsphilosophie. 21 entfaltet er sich auf der Stufe des objektiven Geistes1). Wäh- rend der Geist als Denken nur mit sich selbst beschäftigt ist, weil er sich als alle Realität oder alle Realität als Inhalt des Denkens weiß, richtet er sich als Wille zunächst auf endliche Gegenstände und Zwecke; daher ist „die denkende Vernunft als Wille dies, sich zur Endlichkeit zu entschließen“. (Rechtsphilo- sophie § 13.) Diese seine Endlichkeit hebt der Wille auf, indem er sich als denkender und damit als allgemeiner Wille erfaßt und sich als allgemeiner Zweck und allgemeines Tun hervor- bringt. So als die Selbstverwirklichung des allgemeinen Willens betrachtet, ist der Geist objektiver Geist. Während der Geist als subjektiver Geist sich in der be- schränkten Gestalt der einzelmenschlichen Individualität ver- wirklicht, verwirklicht er sich als objektiver Geist nach seiner Wahrheit als allgemeiner Geist, als der Wille nicht nur eines .Einzelwesens, sondern eines Gemeinwesens. Der objektive Geist ist die Selbstverwirklichung des allgemeinen Geistes in der Gemeinschaft und als der Wille der Gemeinschaft, der sich in Recht, Moralität, Sitte und im Staate äußert, der als ein sittlicher Organismus die konkrete Totalität aller Verhältnisse des objektiven Geistes darstellt. Als das „Resultat“ des objek- tiven Geistes ist der Staat auch sein „Grund“: das Ursprüng- liche und Hervorbringende, nicht das Produkt der Individuen und ihrer Tätigkeit, sondern das in ihnen tätige und sich her- vorbringende Allgemeine. Der Begriff der Rechtsphilosophie ist damit abgeleitet; sie ist Selbsterkenntnis des ob- jektiven Geistes, des allgemeinen Willens als der sich wissenden Substanz des Rechtsund des Staates. Als die logische Entfaltung der Momente des Rechts- begriffs ist die Rechtsphilosophie die Erkenntnis der imma- nenten logischen Struktur des Gedankens oder Gegenstandes r) Über den Begriff des objektiven Geistes und sein Verhältnis zum absoluten Geist handelt mein Aufsatz „Staat und Religion bei Hegel“ in: Rechtsidee und Staatsgedanke, Festgabe für Julius Binder 1930. Vgl. auch Wenke, Hegels Theorie des objektiven Geistes, Halle 1927,
22 Karl Larenz. und als dialektische Metaphysik der rechtlichen Inhalte die Erkenntnis ihrer vernünftigen Allgemeinheit. Hegels Begriff des objektiven Geistes und damit der Rechts- philosophie beruht auf dem Gedanken, daß der Geist als die sich wissende Substanz konkret allgemein, allgemeingültiger Gedanke und als solcher wirklich, die sich verwirklichende Substanz des geschichtlichen Lebens ist Gegen diesen Gedanken der Obj ektivi- tät erhebt sich der Subjektivismus auf dem Felde der Theorie mit der Behauptung, daß das Wahre nicht erkannt, sondern, wie man heute sagen würde, nur bekannt werden könne, daß also eine allgemeingültige Erkenntnis der Idee nicht mögliche sei, und auf dem Felde der Praxis, der Willensrichtung, mit der Behauptung, daß das Rechte und Gute allein dem Gefühl, dem guten Willen und der Überzeugung des Einzelnen ange- höre. Hegel hat in der Vorrede zu seiner Rechtsphilosophie Gelegenheit genommen, sich mit einer an ihm sonst unge- wohnten Schärfe gegen diese Prinzipien des Subjektivismus auszusprechen, „aus welchen die Zerstörung ebenso der in- neren Sittlichkeit und des rechtschaffenen Gewissens, der Liebe und des Rechts unter den Privatpersonen, als die Zerstörung der öffentlichen Ordnung und der Staatsgesetze folgtDas be- sondere Kennzeichen dieser subjektivistischen Einstellung ge- genüber dem Recht und dem Staate ist der Haß gegen das Ge- setz, das von ihr nur „als toter, kalter Buchstabe und als eine Fessel empfunden wird;i. Mag der Schärfe, mit der sich Hegel hier besonders gegen Fries wendet, zum Teil auch die Er- regung über dessen Verhalten beim Wartburgfest, und somit ein augenblicklicher Anlaß zugrunde liegen1), so geben uns diese Ausführungen doch einen wertvollen Aufschluß darüber, was Hegel unter der Objektivität des Rechtes und damit über- haupt unter seinem Begriff des objektiven Geistes verstanden wissen wollte. Das Recht ist für Hegel nicht etwa schon des- halb ein Objektives, weil es der gemeinsamen Überzeu- gung, dem Rechtsgefühl aller oder doch einer Mehrheit des x) Siehe darüber die Einleitung von Lasson zur Rechtsphilosophie S. LXXXVff.
Hegels Begriff der Philosophie und der Rechtsphilosophie. 23 Volkes angehört, sondern weil es etwas Vernünftig-Allgemeines ist, weil es, wie Hegel sagt, im Gesetz „durch Gedanken sich die Form der Vernünftigkeit, nämlich A11- gemeinheitundBestimmtheitgibt“. Die Allgemein- heit, auf die es hier also ankommt, ist nicht die bloße Gemein- samkeit eines Bewußtseinsinhalts, sondern die übergreifende Einheit des Vernünftigen, der Idee. Hier liegt der Punkt, an dem sich Hegel auch gegen die historische Rechtsschule wenden mußte1), mit deren Vorstellungen er im übrigen, soweit die Richtung auf die Totalität und die Begründung eines Rechtes in der konkreten Einheit des Volksgeistes in Frage kommt, weitgehend übereinstimmt. Freilich darf man sich diese All- gemeinheit der Vernunft nicht als eine abstrakte Regel denken, die den von ihr ergriffenen Lebensverhältnissen äußerlich gegenübertritt — so denkt sich der heutige juristische Posi- tivismus in seinen beiden Spielarten, der sog. Buchstabenjuris- prudenz und der sog. Freirechtsschule, das Gesetz — sondern est ist die Vernunft der Sache, die es freilich „dem Ge- fühl nicht verstattet, sich an der eigenen Partikularität zu wärmen“. Indem also die Rechtsphilosophie das Gesetz nach seiner Vernünftigkeit als Ausdruck eines allgemeinen Gedan- kens betrachtet, hat sie es nicht mit irgendeiner zufälligen und abstrakten Regelung zu tun, sondern bringt sie die Vernunft der Sache selbst zum Bewußtsein. x) Vgl. die Bemerkung gegen Savigniy Rechtsphil. § 211 am Ende. Hegel gibt im Gegensatz zur historischen Rechtsschule dem Gesetzes - recht den Vorzug vor dem Gewohnheitsrecht, weil das Gesetz im Gegen- satz zur Gewohnheit,,die Rechtsprinzipien in ihrer Allgemeinheit und damit in ihrer Bestimmtheit denkend auffaßt und ausspricht“, wogegen sich das Gewohnheitsrecht durch „seine Unförmlichkeit, Unbestimmt- heit und Lückenhaftigkeit auszeichnen wird“. Der Inhalt auch des Gesetzesrecht entstammt nach Hegel nicht der Willkür oder einem abstrakten Vernunftgebot, sondern der in Sitte und Gewohnheit konkretisierten historischen Vernunft — aber durch seine Form, ausgesprochener Gedanke und dadurch allgemein und bestimmt zu sein, stellt das Gesetz die vernünftige Allgemeinheit des Rechts- gedankens in höherem Maße dar als die mehr der Subjektivität des ein- zelnen Volksgeistes angehörende Gewohnheit.
24 Karl Laren^, Die Gesetze freilich, die als das Allgemeine die Vernunft der Sache ausdrücken sollen, sind die Gesetze eines besonderen Staates und gehören so einer geschichtlich bedingten, be- schränkten Wirklichkeit an. So sind sie positiv und können damit ihrem Inhalt nach „noch von dem verschieden sein, was an sich Recht ist“. (§ 212). Das, Avas das Recht an sich oder seinem Begriffe nach ist, ist somit auch für Hegel unter- schieden von dem, was das Recht in einer bestimmten Gestalt als das positive Recht eines bestimmten Staates ist. Diese Unter- scheidung ist aber selbst wieder eine solche, die dem Begriffe des Rechtes angehört und daher ebenso in ihm gesetzt wie aufgehoben ist. Das Verhältnis des Rechts, wie es seinem Be- griffe nach ist, und des positiven Rechts ist also als das einer dialektisch unterschiedenen Einheit aufzufassen. Hieraus er- gibt sich nun auch Hegels Stellung zum Naturrecht. In den von L a s s o n herausgegebenen handschriftlichen Randbemerkungen zu seiner Rechtsphilosophie äußert sich Hegel über die Meinung, „es könne ein Rechtssystem und einen Rechtszustand geben, der rein vernünftig — nur vernünftig sei“. (S. 3). Diese Meinung hat, wie Hegel sagt, etwas Rich- tiges und etwas Unrichtiges in sich. Richtig ist die Forderung, daß die Vernunft das Herrschende sei — und sie soll es nicht nur sein, sondern in einem gebildeten Staate ist sie es auch, wie Hegel bezeichnenderweise hinzusetzt —; unrichtig ist da- gegen die Vorstellung, daß aus dem Begriffe des Rechts ein der Anwendung fähiges, vollständiges Rechtssystem könne abge- leitet werden. Denn um anwendbar zu sein, muß ein Gesetz- buch sich auf viele äußere, endliche und für den Begriff zu- fälllige Umstände beziehen, es muß z. B. bestimmte Grenzen für die Bemessung der Dauer einer Frist oder einer Freiheits- strafe u: a. m. festsetzen, wobei die Hauptsache ist, daß über- haupt etwas Bestimmtes festgesetzt ist. In vielen Fällen kommt es nur darauf an, daß so oder so entschieden wird; „es muß befohlen werden in der Welt, rein befohlen“. Daß diese Bemerkung nicht im Sinne eines schrankenlosen Staatsabsolutismus gedeutet werden darf, sondern eben nur für
Hegels Begriff der Philosophie und der Rechtsphilosophie. 25 ein beschränktes Gebiet zu gelten beansprucht, ergeben die folgenden Worte: „das ist, in Religion und Vernunft kann man nicht bloß befehlen — aber eben in der Seite der unendlichen Zufälligkeit/4 Schon um dieser ihm immanenten Beziehung auf vielerlei äußere und zufällige Umstände willen ist das Recht also notwendig positives Recht. Aber auch die wichtigeren, für das sittliche Leben eines Volkes bedeutsameren Vor- schriften — denken wir etwa an die nähere Ausgestaltung des Eigentumsbegriffs, des Erbrechts, der Rechtsverhältnisse der Ehegatten und der Eltern und Kinder, um von der Verfassung und dem öffentlichen Recht nicht zu reden — erhalten ein Mo- ment der Besonderheit „durch den besonderen Na- tionalcharakter eines Volkes, die Stufe seiner geschichtlichen Entwicklung und den Zusam- menhang aller der Verhältnisse, die der Natur- notwendigkeit angehören.44 (Rechtsphil. § 3). Denn der Geist entfaltet sich als konkret-allgemeiner nur in den be- stimmten Gestalten der konkreten Volksgeister und damit in der Geschichte. Seine Allgemeinheit ist nicht abstrakte Gleich- förmigkeit, als die der Verstand sie allein zu denken vermag, sondern ist Einheit in der Unterschiedenheit. Derselbe allge- meine Rechtsgedanke kann in der Geschichte einen verschie- denen Ausdruck finden. So verwirklicht sich auch die allge- meine Vernunft des Rechts nur in der besondern Ausgestaltung durch einen bestimmten Volksgeist und damit als ein geschicht- lich besonderes, positives Recht. Naturrecht und posi- tives Recht sind so jedes für sich undimGegen- satz zu dem andern genommen, unwahre Ab- straktionen; ihre Wahrheit ist ihre dialektische Einheit, die Selbst Verwirklichung der Idee durch ihre Besonderung in einem positiven Recht, das das Allgemeine auf eine besondere Weise ausdrückt. „Daß das Naturrecht oder das philosophische Recht vom positiven verschieden ist, dies darein zu verkehren, daß sie einander entgegengesetzt und widerstreitend sind, wäre ein großes Mißverständnis.44 (Rechtsphil. § 3).
26 Karl Larenz. Soweit also bei Hegel noch von einem Naturrecht oder Ver- nunftrecht gesprochen werden kann, ist dieses nicht ein dem positiven Recht entgegengesetztes und im Gegensatz zu ihm zeit- los gültiges System von abstrakt allgemeinen Rechtsvorschriften, wie etwa noch bei Kant, sondern das dialektisch-ver- nünf tige Wes en des Re ch ts, das sich nicht in abstrakten Rechtssätzen aussprechen läßt, vielmehr als die innere Be- wegung des Begriffs den Sätzen des positiven Rechts zugrunde- liegt und ihnen ihre Vernünftigkeit gibt Es ist das positive Recht selbst, aber nicht ein einzelnes positives Recht als be- sonderes, zeitlich-bestimmtes, sondern das positive Recht seinem Begriffe nach, als vernünftig-allgemeines - dasposi- tive Recht- als Idee. Da der Begriff des Rechts desseil Positiv!tät erfordert, erhält der positive Charakter der Rechts- normen seine Stelle innerhalb der Entwicklung des Rechtsbe- griffs oder der vernünftigen Natur des Rechts selbst. (Rechts- phil. §§ 209 ff. und Enzyklopädie §§ 529 ff.). Es ist die ge- schichtliche Dialektik des Rechts, daß es als Recht seinem Begriffe gemäß, als positives von ihm verschieden ist; die Wahrheit dieser Dialektik ist, daß jeder Fortschritt im posi- tiven Recht ein Fortschritt im Bewußtsein des Rechtsbegriffes, ein Fortschritt der Idee ist. Hegels Rechtsphilosophie richtet sich damit sowohl gegen die unhistorische Vorstellung eines aus abstrakten Grundsätzen abgeleiteten Naturrechts, wie gegen die weit schlimmere Gedankenlosigkeit des Positivismus, der das Recht als eine gegebene Tatsache hinnimmt, ohne nach der Vernunft der Sache zu fragen, und ohne es als G e i s t zu er- kennen. Von hier aus sind auch die berühmten Worte Hegels zu ver- stehen: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig/4 Der Anteil des Zufälligen, die Mangelhaftigkeit vieler Be- stimmungen des positiven Rechts soll damit nicht geleugnet werden. Am wenigsten will sich dieses Wort, wie man es wohl aufgefaßt hat, einer vernünftigen Fortentwicklung des Be-
Hegels Bögriff der Philosophie und der Rechtsphilosophie. 27 stehenden entgegensetzen. Es richtet sich vielmehr auf der einen Seite gegen die Verachtung der Wirklichkeit, die sich in der Aufstellung rein abstrakter Forderungen äußert, und auf der andern Seite gegen die Verachtung der Vernunft durch den Positivismus und durch jede Lehre, die einen unüberbrück- baren Gegensatz zwischen der Vernunft und der Wirklichkeit, dem Sollen und dem Sein, behauptet. Die Vernunft ist nicht so ohnmächtig, sich im bloßen Sollen zu erschöpfen; sie ist ja für Hegel die sich wissende Substanz und hat sich so im Gange seines Systems selbst ergeben. Als objektiver Geist erweist sich die Vernunft als die gestaltende Macht der Geschichte und damit als Wirklichkeit. Die Wirklichkeit wiederum, mit der wir es hier zu tun haben, ist nicht blohes, Zeit und Raum er- füllendes Dasein, sondern sinnerfüllte Wirklichkeit, gedanklich bestimmte Wirklichkeit des Geistes. „Wirklich“ ist am positiven Recht im Sinne Hegels nicht der Buchstabe des Gesetzes noch die Vorstellung und Absicht des Gesetzgebers, sondern allein der darin zum Ausdruck gelangende allgemeine Rechtsgedanke. Nicht alles, was wir bei der Betrachtung des positiven Rechts- zustandes vorfinden, was also d a i s t, ist schon deshalb in dem von Hegel gemeinten Sinne wirklich. Was nur da ist, braucht noch nicht vernünftig zu sein; aber es ist darum doch noch nicht ganz vernunftlos, denn es besteht nur im Zusammenhänge eines in sich vernünftigen Ganzen. Es so zu sehen und damit „den inneren Puls zu finden und ihn ebenso in den äußeren Ge- staltungen noch schlagen zu fühlen“, ist die Aufgabe der ver- nünftigen Betrachtung. Was dagegen am positiven Rechte wahrhaft vernünftig ist, das ist nicht nur da, sondern erhält sich im Wechsel der geschichtlichen Gestaltungen und im Be- wußtsein der Menschheit als eine unverlierbare Wahrheit, und ist damit wahrhaft wirklich und umgekehrt So ist für Hegel z. B. der Gedanke der rechtlichen Freiheit, der Persön- lichkeit des Menschen, ferner der Gedanke der Gemeinschaft, der Ehe, des Staates und der Verantwortung des Einzelnen gegenüber diesen Gemeinschaften eine unverlierbare Wahr- heit und als solche eine in der Geschichte wirksame,
28 Karl Larenz. das positive Recht gestaltende Kraft. Die Philosophie be- faßt sich nicht mit dem, was bloß da ist, sondern mit der Sub- stanz, dem Allgemeinen, das wirklich, oder dem Wirklichen, das vernünftig ist. So hat sie weder der Wirklichkeit einen abstrakten Idealzustand entgegenzusetzen, noch das Bestehende kritiklos hinzunehmen, sondern „in dem Scheine des Zeitlichen und Vorübergehenden die Substanz, die immanent, und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen/4 Wenn aber die Philosophie das Ewige im Zeitlichen als gegenwärtig erkennt, so kann sie nur von dem ausgehen, was, Inhalt des Bewußtseins ihrer Zeit ist. Dann kann sie nur solche Gestalten des Lebens erfassen, die bereits „alt geworden“ sind, die sich bereits soweit entwickelt haben, daß sie dem Erkennen einen Inhalt darbieten, den es durchdringen kann. Keine Philosophie kann also ihre Zeit überspringen; sie ist, bestenfalls, „ihre Zeit in Gedanken erfaßt“. Damit scheint nun aber ein relativistisches Moment in die Erkenntnis der Idee selbst hineinzukommen. Die Idee ist ewig, aber die Philosophie erkennt sie nur, wie sie in einem bestimmten Zeit- punkt gegenwärtig ist. Ist damit aber nicht auch der Hegelschen Philosophie als einer durch ihre Zeit bedingten Erkenntnis das Urteil gesprochen? Wie vereinigt sich Hegels Begriff,der Philosophie als der Selbsterkenntnis des Geistes, der das Ewige ist, mit der Einsicht in ihre zeitliche Bedingtheit, in die Grenzen, die einer jeden Philosophie durch den geschichtlichen Augen- blick ihres Hervortretens gesetzt sind? Die Antwort auf diese Frage, von der es abhängt, ob Hegels Rechtsphilosophie für uns Heutige mehr als ein nur historisches Interesse beanspruchen kann, muß aus Hegels Begriff der Philosophie selbst gefunden werden, zu dem wir damit am Ende unserer Ausführungen wieder zurückkehren. Die Philosophie ist die Selbsterkenntnis des Geistes, und das Wesen des Geistes ist seine Verwirklichung. Diese Verwirklichung des Geistes beginnt aber nicht in einem bestimmten Zeitpunkt und endet auch nicht in einem solchen, sondern ist ewig, weil nichts ist, was außerhalb dieser Bewegungwäre, und weil die Zeit selbst eine Be-
Hegels Begriff der Philosophie und der Rechtsphilosophie. 29 Stimmung ist, die dem Geiste angehört, eine Unterscheidung, die er in sich macht. Die einzelnen Gestaltungen aber, zu denen der Geist sich besondert, und in denen er sich hervor- bringt, gehören als endliche und beschränkte Gestalten auch dem zeitlichen Prozesse an, den der Geist in sich selbst setzt. Indem nun der Geist in der Philosophie sich auf sich besinnt und seine Ewigkeit denkt, erkennt er in diesen zeit- lichen Gestalten sein ewiges Wesen wieder und hebt sie so über die Endlichkeit hinaus. WasinderGeschichtealseine Stufe der zeitlichen Entwicklung erscheint, wirddurchdiePhilosophiealsMomentderzei t - losen Entwicklung der Idee im reinen Denken gesetzt Wenn also die Philosophie auch nur das erkennen kann, was zu ihrer Zeit und in ihrer Zeit hervorgetreten ist, so erkennt sie es doch nicht nur als dieses Zeitliche, sondern aisüberzeitlich. So hat Hegels Rechtsphilosophie gewiß die rechtlichen und staatlichen Zustände seiner Zeit zur Vor- aussetzung, aber sie erscheinen darin nicht als diese geschicht- lichen Gebilde, sondern als logische Momente der Idee, die als solche auch für eine veränderte Zeit Bedeutung haben. Wohl ist der Philosophie zu jeder Zeit die Aufgabe gestellt, ihre Zeit „in Gedanken zu erfassen; aber deshalb vergeht sie nicht mit ihrer Zeit, sondern weiß den Ertrag der gedank- lichen Arbeit einer jeden Zeit in der Einheit ihres überzeit- lichen Bewußtseins aufgehoben. Als die Selbsterkenntnis des Geistes ist die Philosophie seine ewige Rückkehr aus der Ver- zeitlichung in seine Über Zeitlichkeit, die Erkenntnis dessen, was an ihrer Zeit wie an jeder Zeit überzeitlich ist, oder der Wahrheit, die ewig und gegenwärtig und daher die Gegenwart des Ewigen ist.
Das Thema der Rechtsphilosophie Hegels von Martin. Busse. I. Ein T h e m a ist — ganz allgemein genommen — ein Gedanke, der als Anfang eine Entwicklung im Denken fordert, um seine Wahrheit und den in ihm verborgenen Gehalt zu erweisen. Die Entwicklung eines Themas im Denken bringt die Bestim- mungen, damit aber auch die Gegensätze und Widersprüche hervor, die im Thema verborgen liegen. Insoweit ein Thema selber schon eine bestimmte Aussage, eine These in sich ent- hält, wird diese in der Entwicklung des Themas abgewandelt: In der Bewegung der Widersprüche und Gegensätze erweist sich, daß das Thema als jene abstrakte These unwahr ist, weil es die Widersprüche, die dagegen aufstehen, nicht berücksich- tigt, daß aber die ganze Entwicklung des Themas selber die Wahrheit des Themas ist, weil sie die Widersprüche und Gegen- sätze und Unterschiede aufnimmt und nichts ist, als deren Be- wegung im Denken. Indem so dem Thema in seiner Entwick- lung sein Recht widerfährt, ist das Ganze der Entwicklung die „höhere“ Wahrheit des Themas. Das Resultat oder das Wahre eines Themas ist das Ganze seiner Entwicklung selbst. Der Reichtum, den die Entwicklung eines Themas entfaltet, ist also die Probe darauf, was das Thema in sich barg, und das Thema ist dafür bestimmend, ob die davon ausgehende Entwicklung fruchtbar und umfassend sein wird. Aus dieser Bedeutung des Themas im allgemeinen ergibt sich für das Thema der Rechtsphilosophie ein Doppeltes: Wenn der denkende Geist als Philosophie das Recht nicht nur nach einer einzelnen Besonderheit, sondern als Ganzes in einem Zuge der Entwicklung des Denkens erkennen wiR, so kommt
Das Thema der Rechtsphilosophie Hegels. 31 es zunächst darauf an, das Thema dieser Entwicklung recht zu erfassen, weil in diesem Thema als ihrem Kerne oder Keime die ganze Entwicklung angelegt sein muß, wenn sie sich daraus ergeben soll; zum anderen: Dieses Thema ist nicht schon durch eine geläufige Allgemeinvorstellung vom Recht oder eine juri- stische Definition des Rechts gegeben; denn von diesen führt zu den mannigfaltigen Bestimmungen und Unterschieden des Rechts, von denen sie einfach abstrahieren, keine notwendige Entwicklung, sondern nur ein äußerlicher Fortgang. Für eine Entwicklung des Denkens, die die ganze Wirklichkeit des Rechts in unser Bewußtsein hebt und in sich einbegreift, gilt es daher erst das Thema, den rechten Ausgangspunkt zu finden. Der Weg, den wir dazu gehen, wird sich aus dem Resultat zu rechtfertigen haben. Das Thema, das wir bestimmen, wird eine Entwicklung des Denkens heraufführen, in der die Wirklich- keit des Rechts begriffen wird, und wird zugleich deutlich werden lassen, daß das Thema notwendig so und nicht anders aufzufinden war. Dazu haben wir uns zunächst im Anschluß an den vorangehenden Vortrag an den Begriff des philoso- phischen Erkennens zu erinnern. II. Das philosophische, spekulative Denken unterscheidet sich von dem natürlichen, naiven Bewußtsein. Das philosophische Denken ist aber nicht ein außerhalb des natürlichen Bewußt- seins tätiges Denken, sondern es ist das natürliche Bewußtsein selber, das seiner selbst als Denken bewußt wird. Für das na- türliche Bewußtsein ist der Gegenstand zunächst etwas Reales, Ungeistiges, außerhalb des Bewußtseins Liegendes. Indem das Bewußtsein aber sich auf sich selbst als Denken besinnt, weiß es, daß es den Gegenstand, den es weiß, denkt, und daß jedei’ Gegenstand ein Gedanke ist. Der Gedanke ist von der Tätig- keit des Denkens nicht zu trennen. Es ist eine Abstraktion, wenn wir den Gedanken als solchen nehmen und dabei von der denkenden Tätigkeit, die ihn hervor bringt, absehen, d. h. ab- strahieren. Das Denken erzeugt in sich den bestimmten Ge- Einführung in Hegels Rechtsphilosophie. 3
32 Martin Busse. danken, sein „Objekt“ und ist unmittelbar mit ihm eins. Nur die Reflexion des Verstandes trennt, was in Wirklichkeit eine Ein- heit ist, die Tätigkeit des denkenden Subjekts, die den be- stimmten Gedanken denkt, und diesen Gedanken selber, Unter- schiede, die in der Einheit des denkenden Subjekts beschlossen und aufgehoben sind. Sprechen wir dabei vom denkenden Sub- jekt, so meinen wir nicht etwas bloß Subjektives, Willkür- liches, einen zufälligen Einzelnen. Wir denken, wenn wir uns auf uns selbst als denkendes Subjekt besinnen, nicht an unsere Besonderheit, etwa an die zufällige und äußerliche Erscheinung eines Einzelnen; sondern wir denken an das denkende Subjekt als an den Geist, der in uns denkt, und der allgemein ist und in dem vernünftigen Denken sich äußert. Besinnen wir uns auf den Begriff des Systems, wie er in dem vorangehenden Vortrage entwickelt wurde: Der Geist erweist sich als die Wahrheit und als das Ganze aller besonderen Bestimmungen des Denkens, indem er in aller gegenständlichen Welt, d. h. in allem gegenständlichen Denken sich selbst erkennt. Das geschieht nicht nur dadurch, daß der Geist erkennt, daß alle Gegenstände Gedanken sind; denn wenn wir dabei bleiben, daß diese bestimmten Gegenstände zwar nicht außerhalb des Bewußtseins existieren, aber daß sie doch bestimmte einzelne Gedanken sind, die nur durch die formale Einheit des Bewußtseins verbunden werden, wenn sie also als besondere Inhalte voneinander getrennt sind und ein jeder ein- zelne seine besondere Existenz hat, dann wäre der Geist in sich selbst nicht Herr seines Denkens. Er wäre in sich in eine Man- nigfaltigkeit zufälliger Gedanken zerstreut, und das wäre ein Widerspruch mit seiner Einheit, mit seiner Bestimmung, sich als die Wahrheit und die Einheit aller Dinge zu erweisen. Es handelt sich also darum: Ist die Mannigfaltigkeit der Gedanken, der Bestimmungen unseres Denkens — auf dem Gebiete des Rechts die Sitte, die Moral, die Sittlichkeit, die Rechtspflege — eine unbegreifliche, zufällige Vielheit, oder ist sie dem Geiste selber notwendig, ist sie sein Wesen, das sich in mannigfaltigen Bestimmungen offenbart? Um zu verstehen, wie dies gemeint
Das Thema der Rechtsphilosophie Hegels. 33 ist, denken wir an ein Kunstwerk: Ein Kunstwerk — etwa eine Melodie oder eine Plastik — könnte man, äußerlich betrachtet, auch in viele Teile auflösen; aber dann ist es keine Melodie mehr oder keine plastische Gestalt. Als Kunstwerk ist es gerade die Einheit, aus der nichts herauszulösen ist, ohne daß sie zer- stört würde, d. h. alles in diesem Gefüge ist notwendig und in allem einzelnen blickt uns das Ganze an. — So muß dem Geist, wenn er das Ganze ist, jede einzelne Bestimmung, die wir im Denken als besondere Bestimmung erfassen, notwendig sein. Das Ganze muß also die mannigfaltigen bestimmten Ge- danken in sich einschließen. Das kann es nur, indem es nicht selbst wiederum ein einzelner bestimmter, fester und darum toter Gedanke ist, der dann die anderen bestimmten Gedanken außer sich läßt, sondern das Ganze muß notwendig die leben- dige Bewegung sein, die jeden bestimmten Gedanken in sich trägt. Diese Bewegung wird nun nicht erst herangetragen an die Gedanken, sondern liegt in ihnen; sie ist die Bewegung, die die bestimmten Gedanken als eine ihnen immanente Bewegung selbst vollführen. Vergegenwärtigen wir uns, daß diese Bewe- gung des Gedankens Bewegung des Denkens ist, daß sie Denken ist, und daß es hierbei nicht auf die Einzelheit und Zufälligkeit der Person, die denkt, ankommt, sondern auf die allgemeine Vernunft, die im Denken sich hervorbringt, so begreifen wir, daß der Geist die Bewegung des Denkens selber ist und in dieser Bewegung die mannigfaltigen bestimmten Gedanken aus sich hervorbringt und durchläuft und sie als System in sich aufnimmt. So verstehen wir, daß die Vernunft selber Tätigkeit ist, daß sie Subjekt ist. Begreifen wir das Wahre oder das Ganze oder den Geist als Subjekt und das System als die denkende Bewegung, in der das Subjekt die Mannigfaltigkeit seiner selbst offenbart, so müssen wir uns andererseits beim Begriff des Subjekts bewußt werden, daß diese Tätigkeit des Geistes zugleich Tätigkeit des Subjekts als eines einzelnen Selbst ist! Wie verhält sich das einzelne Selbst zu dem allgemeinen Selbst des Geistes, der in uns denkt und sich bewegt und das Ganze des Wissens und der gegenständlichen 3*
34 Martin Busse. Welt als sein System begreift? Wie verhält sich zu ihm das einzelne Ich? Indem wir dieses Verhältnis denken, setzen wir das einzelne Ich dem allgemeinen Geiste entgegen. Wir bleiben dabei aber im Denken, also gerade innerhalb des allgemeinen Geistes: So ist das Bewußtsein des einzelnen Selbsts, der Ge- danke des Ichs nur ein Gedanke innerhalb des allgemeinen Geistes, und der Geist selber ist es, der den Gedanken des ein- zelnen Ich hervorbringt. Es ist der Geist selber, der in sich ;den Unterschied setzt zwischen dem allgemeinen Geiste und der Einzelheit^ und er hebt diesen Unterschied auf: Er erfaßt sich selbst als Einzel- heit! Indem das allgemeine Subjekt sich selbst als einzelnes Selbst denkt, erfaßt es die Bestimmtheit oder den Gedanken, einzelner Mensch zu sein, als Bestimmung seiner selbst. Wir können uns das noch auf andere Weise verdeutlichen. Wenn ein jeder von uns sich selbst als tätiges Selbst denkt, so zweifeln wir dabei praktisch nicht an der Wahrheit dieses Selbstbewußt- seins. Diese Wahrheit ist aber gerade darin begründet, daß dieses Selbstbewußtsein nicht eine bloße Meinung, eine zufäl- lige, willkürliche Vorstellung ist, sondern Denken, und zwar objektives, allgemeines Denken ist, und daß der allgemeine Geist sich im einzelnen Selbst als Selbst begreift. — Der Geist ist also die umfassende Einheit, innerhalb deren auch der Unterschied des allgemeinen Geistes und des einzelnen Selbsts gesetzt wird. Der allgemeine Geist trägt diesen Unterschied in sich, und die Einzelheit ist ein Moment seiner Bewegung. Damit ist die individualistische Meinung widerlegt, daß das einzelne Selbst dem allgemeinen Geiste gegenüber selbständig und von ihm zu trennen wäre. Wir haben begriffen: Das Selbst oder der Geist ist als Subjekt zugleich allgemeiner Geist und einzelnes Selbst, und daß er einzelnes Selbst ist, ist ein Moment des allgemeinen Geistes, aber eben nur ein Moment desselben; das System oder Ganze ist die Be- wegung, in der der Geist die Mannigfaltigkeit seiner Gedanken, seiner Gegenstände — also auch die Begriffe: einzelne Person, Eigentum, Vertrag, Recht, Wirtschaft und Moral — als die eine
Das Thema der Rechtsphilosophie Hegels. 35 innere Bewegung dieser Begriffe durchdringt und in ihnen sein eigenes Wesen entwickelt und offenbart. Insofern wird die Philosophie des Rechts als der Teil des Systems, in dem der denkende Geist sich die Begriffe des Rechts und des Staates, der Sittlichkeit und Moral zum Gegenstände macht, es sich zur Aufgabe machen müssen, diese starren Be- griffe zu durchdenken, d. h. der Entwicklung en ihnen nach- zuspüren, die Bewegung aufzuzeigen, die von dem einen zum andern geht. Die Rechtsphilosophie hat zu erkennen, wie das Eigentum, der Vertrag oder die Schuld für sich Abstraktionen sind, und wie ihre Wirklichkeit gerade darin besteht, nicht für sich zu existieren, sondern im Zusammenhang eines Ganzen, des Rechts, zu stehen. Dieser Zusammenhang macht sich als die dialektische Bewegung geltend, die die einzelnen Bestim- mungen des Rechts ergreift und aufzeigt, daß sie in ihrem Fürsichbestehen widerspruchsvoll und unwirklich sind und nur in einem Ganzen der Bewegung als Moment Bestand und Wirklichkeit haben. Die Philosophie wird als denkende Bewe- gung sich selber, den Geist, als die Wirklichkeit, die durch- dringende Bewegung des Ganzen erfassen und auch die Welt des Rechts als das eigene Leben des Geistes erkennen. Diese dialektische Bewegung vollzieht sich z. B. an einer Bestim- mung des Rechtes, dem Vertrage, der Übereinkunft zweier Willen, die im Vertrage ein Wille sind. Diese Bestimmung er- weist sich als widerspruchsvoll; denn die beiden Willen tragen in sich selbst die Möglichkeit, der Übereinkunft auch zuwider zu sein, den Vertrag zu brechen. So tritt das Unrecht der Be- stimmung des Rechts, dem Vertrage, entgegen. Betrachten wir nun das Recht des Vertrages für sich, so zeigt sich, daß es un- wirklich ist. Das Unrecht des Vertragsbruches triumphiert über das Recht des Vertrages. Wir müssen die Wirklichkeit des Rechts also konkreter fassen als in dem abstrakten Satze, daß das Recht Vertrag sei. Diese erste abstrakte Bestimmung für sich allein schlägt in ihr Gegenteil um: Der Vertrag ab- strakt für sich genommen erweist sich als unwirkliches Recht, und das Unrecht des Vertragsbruches als Wirklichkeit. Indem
36 Martin Busse. wir aber den Vertragsbruch als Unrecht erfassen, so liegt darin schon ein Neues, nämlich ein Urteil über das, was Recht ist. Das Recht behauptet sich also gegenüber dem Unrecht ver- mittels des Urteils über das, was Recht ist, womit wir über die erste abstrakte Bestimmung, daß das Recht Übereinkunft zweier Willen sei, hinausgelangen zu der Wirklichkeit des Rechts als urteilenden Subjekts, einer Bestimmung, die schon auf die Rechtspflege hinweist. Das ist hier nicht weiter zu ver- folgen. Es galt nur aufzuzeigen, daß die Entwicklung der Be- stimmungen und Unterschiede des Rechts ein dialektischer Prozeß ist, in dem sich die anfängliche Bestimmung des Rechts nur dadurch als wirkliches Recht erhält, daß sie über sich hinausgeht, ihren Gegensatz überwindet, dadurch aber selber eine neue, reichere Bestimmung hervorruft1). Nachdem wir uns damit an die Bestimmung der Rechts- philosophie als P h i 1 o s o p h i e, als Bewegung des denkenden Geistes erinnert haben, werden wir jetzt ihr besonderes Thema als Rechtsphilosophie bestimmen. III. Die dialektische Bewegung des Rechts erwächst aus dem Widerspruche des Geistes mit der Natur, Mit diesem Wider- spruche ist nicht etwa der Unterschied zwischen Subjekt und Objekt, Bewußtsein und Gegenstand gemeint. Dieser theore- tische Unterschied ist in allem Denken enthalten und besteht darin, daß das reflektierende Denken sich als Subjekt das Ge- dachte als Objekt entgegensetzt und dabei von sich selbst als der Tätigkeit des Denkens abstrahiert. Dieser Gegensatz wird im Denken selber überwunden, indem es sich auf sich selbst besinnt, wie wir erkannt haben. Das wird im System bereits vorausge- setzt. So sind wir uns sowohl in der Logik wie in der Philosophie der Natur wie in der Philosophie des Rechts bewußt, daß die Gegenstände unseres Denkens, die Bestimmungen der Natur wie die des Rechts gedachte Bestimmungen, Bestimmungen x) Vgl. hierzu meine Schrift: „Hegels Phänomenologie des Geistes und der Staat“ 1931, insbes. S. 71 ff.
Das Thema der Rechtsphilosophie Hegels. 37 des Denkens selbst sind, daß ihre Bewegung als Bewegung der Gedanken Bewegung des Denkens selber ist. Auch die Natur ist somit Bewegung des Denkens, das die Bestimmungen der Natur als Gedanken hervorbringt und sich in sie versenkt und in ihnen bewegt. Gleich wohl denken wir die Natur als den seiner selbst nicht bewußten Geist: Wir wissen, daß die Natur, diese Bewegung des Denkens, ihrer selbst nicht bewußt ist. Wir erleben also in der Naturphilosophie die Spannung, daß der Geist — nämlich als Denken — die Bewegung der Natur ist und als philosophischer Geist in seiner Bewegung auch sich selbst erkennt, daß er aber doch zugleich begreift, daß diese Bewegung des Denkens selber nicht ihrer selbst bewußt ist. Es handelt sich demnach nicht um den Gegensatz einer außerhalb des Geistes stehenden Realität zum Geiste, wie der naive Realismus vermeint. Die Natur ist vielmehr Denken, das die Bestimmungen der Natur hervorbringt und ihre Bewegung ist. Aber eben der Geist, das Denken, trägt in sich den Wider- spruch, daß er, indem er die Natur denkt und damit sich selbst denkend bewegt, diese Bewegung nicht als selbstbewußte Bewe- gung, als Bewegung des Subjekts, sondern als unbewußte Be- wegung, als Natur denkt. Es wird also nicht von irgendeinem außerhalb des Denkens befindlichen Dinge gegen das Denken ein Widerspruch erhoben, sondern das Denken unterscheidet sich in sich selbst: Der Geist setzt sich als Denken der Natur seine eigene Bewegung in der Weise gegenüber, daß er sich in ihr als ihrer selbst nicht bewußte Bewegung, als Natur weiß. Das ist es, was Hegel mit dem Wort: „der Geist in seinem Anderssein“ bezeichnet; es ist s e i n Anderssein; denn es ist ein Sein des Geistes. Die Natur ist kein außerhalb des Geistes be- findliches Sein, sondern Bewegung des denkenden Geistes selber, aber eine Bewegung, die in sich den Unterschied trägt, daß der Geist, das denkende Subjekt der Bewegung in ihr sich selbst als sein Gegenteil, nämlich als eine ihrer selbst nicht be- wußte Bewegung denkt. Wenn wir von der Natur als der äußeren Wirklichkeit spre- chen, so meinen wir damit in der Philosophie nicht eine außer-
38 Martin Busse. halb des Geistes befindliche Wirklichkeit; denn eine solche wäre eine abstrakte Vorstellung, die von der Tätigkeit des Denkens abstrahieren würde; sondern äußere Wirklichkeit nennen wir die ihrer selbst nicht bewußte Wirklichkeit des Geistes. Die Natur ist in ihren einzelnen Bestimmungen nicht ihrei’ selbst als Geist, als Bewegung des Ganzen bewußt. Darum tritt die Natur auch nicht als das Wesen ihrer einzelnen Be- stimmungen und als deren eigene Bewegung hervor, in der, wie wir es beim Recht gesehen haben, abstraktere Bestimmungen um ihr Wesen zu erhalten, zu konkreteren übergehen. Sondern die einzelnen Bestimmungen der Natur sind gegeneinander fremd — denken wir an die Schwere und an die Elektrizität —, und die Bewegung, die sie in Beziehung zueinander bringt, etwa das Anorganische zum Organischen, die Pflanze zum Tier, er- scheint als eine ihnen selber äußere Notwendigkeit, als ein Einfluß des Einen auf das Andere, den wir näher als Ursache und Wirkung zu bestimmen suchen. Die Bewegung des Ganzen tritt also in der Abhängigkeit des Einen von einem Andern hervor. Weil die Bewegung als Natur in ihren einzelnen Be- stimmungen nicht ihrerselbstals des Ganzen, als der Natur, als der Totalität der Bewegung bewußt ist, darum erscheint sie den einzelnen Bestimmungen als eine äußerliche Notwendig- keit, durch die sie verbunden und voneinander abhängig sind. Wir haben die Bewegung des Denkens als Natur nicht zu ver- folgen. Wir erkennen, daß dieser Prozeß im Menschen eine Ge- stalt, einen Gegenstand des Denkens, eine Bestimmung unseres Denkens erreicht, die nicht mehr als ihrer selbst unbewußt ge- dacht wird, sondern als Selbst, als bewußt, deren Bewegung nicht mehr bloße Natur, bloß äußerliche Bewegung, sondern selbstbewußte Bewegung ist. Zugleich ist der Mensch aber noch Natur. Er ist als natürliches Dasein endlich und beschränkt und von anderen Bestimmtheiten der Natur abhängig. Der Mensch erscheint verflochten in den Zusammenhang einer äu- ßeren Notwendigkeit, den wir als Natur begreifen. Sein Dasein in seinem natürlichen Leben als Leib und Seele vollzieht sich
Das Thema der Rechtsphilosophie Hegels. 39 zunächst als Bewegung, die notwendig, aber ihrer selbst nicht bewußt ist, als Natur. Der Widerspruch, der in der Bewegung der Natur liegt, daß sie zwar Bewegung des Denkens selber, aber als ihrer selbst unbewußte Notwendigkeit ist — dieser Widerspruch kommt im Menschen zum Bewußtsein seiner selbst. Der Mensch ist einmal verflochten in den Zusammenhang der un- gewollten Notwendigkeit der Natur, zum andern weiß er sich in seinem Selbstbewußtsein als schlechthin unabhängige und selbständige Einheit. Im Menschen erwacht die Natur zum Be- wußtsein ihrer selbst. Sie findet sich hier als den Widerspruch, sich als Totalität zu wissen, und einer ihrer selbst unbewußten Notwendigkeit zu unterliegen. Dieser Widerspruch wird nicht etwa aufgehoben durch die theoretische Besinnung, daß wir denkendes Subjekt, Geist sind. Wir haben es gerade im Vorher- gehenden als die Notwendigkeit des Geistes erkannt, die Natur als ihrer selbst nicht bewußte Bewegung zu denken. Der Geist unterscheidet sein eigenes Denken, soweit es sich um die Natur handelt, notwendig von sich selbst. Er begreift gerade die Natur als die Trennung des Geistes von sich selbst. Diesen Unter- schied hebt der Geist nicht schon auf die Weise auf, daß er sich seinei- selbst als des bewußten Unterscheidens bewußt wird; denn damit setzt er den Unterschied gerade in sich. Dieser Widerspruch wird vielmehr erst dadurch aufgehoben, daß der Geist gerade in der Bewegung der äußeren Notwendigkeit, die er sich selber entgegensetzt, d. i. in der Natur, zum Bewußtsein seiner selbst kommt. Während die einzelnen Bestimmungen der Natur wie Schwere und Elektrizität, Tier und Pflanze von dem Leben des Ganzen nur als von einer ihnen selbst äußeren Bewegung berührt werden und darum nur in einem äußerlichen Verhält- nis zueinander stehen, faßt das selbstbewußte Subjekt die ein- zelnen Bestimmungen seiner selbst, seine Kräfte und Triebe wie auch die mannigfaltigsten Bestimmungen der äußeren Na- tui’ zusammen, indem es sie als Wille beherrscht. Es bestimmt zunächst seine Triebe und bringt sie zu einer bewußten Ab
40 Martin Busse. hängigkeit von sich als ihrer Einheit. Der Geist hebt nicht bloß als theoretisches Denken den Unterschied der Natur vom Geist in sich auf, um ihn dann sogleich wieder notwendig zu setzen, indem er die Natur denkt, (Sondern der Unterschied selber, nämlich die Natur geht über sich hinaus und bringt den Geist hervor, d. h. der Geist bringt aus der Natur sich selbst hervor. Der Geist faßt die natürlichen Bestimmtheiten wie die Triebe, Bedürfnisse, die Zweigeschlechtigkeit der Gattung, die Vielheit der Menschen, die Mannigfaltigkeit ihrer Eigenschaften, die Vielheit der Völker zu einem System zusammen, in dem sie als eigene Bestimmungen des Geistes selber gesetzt sind. So ver- wandelt der Geist die natürlichen Eigenschaften des einzelnen Subjekts zu besonderen geistigen Bestimmungen, wie es die Be- rufe sind; er verwandelt die natürliche Beschränktheit und Besonderheit der Arten der Menschen in eine vernünftige Glie- derung der Wirtschaft und Gesellschaft in Stände. Er verwan- delt die Erde mit ihren natürlich verschiedenen Bereichen in ein gegliedertes System von Wirtschaftsgebieten; er hebt die Be- sonderheit einer Zeit zu einem bestimmten eigenen geistigen Prinzip, die Zeit zu einer geschichtlichen Epoche empor und entfaltet in der Folge und Verschiedenheit der geschichtlichen Zeiten den ganzen Reichtum seiner selbst. Der Geist findet sich in der Bewegung der Natur mit sich selbst im Widerspruche: Als denkende Bewegung der Natur ist er Geist, denkt sich aber nicht als Geist, sondern als ihrer selbst nicht bewußte Bewegung, als Natur. Bleibt dieser Wider- spruch unaufgelöst, dann ist der Geist mit sich selbst uneins und der Begriff der Wahrheit, der die Einheit des Denkens voraussetzt, verkehrt. Der Geist hebt aber den Widerspruch auf. Er erkennt, daß er selber als selbstbewußtes Subjekt zu- gleich Natur und Geist, ihrer selbst unbewußte und selbst- bewußte Bewegung ist, und daß in diesem Widerstreite seiner Momente der Geist sich als die übergreifende Einheit seiner selbst und seines natürlichen Daseins bewährt. Diese Bewäh- rung des Geistes begreifen wir in dem Begriff der Freiheit. Die Fieiheit ist die Tätigkeit des Geistes, in der er die Fremdheit
Das Thema der Rechtsphilosophie Hegels. 41 der Bewegung der Natur und ihrer äußerlichen Notwendigkeit überwindet und sie in seiner selbstbewußten Bewegung und in einer von ihm selbst gesetzten eigenen Notwendigkeit auf gehen läßt. Damit ist das „Anderssein“ des Geistes, die äußerliche Be- wegung der Natur als ein Moment des Geistes selbst gesetzt, das er sich nur entgegensetzt, um in der Aufhebung des Gegen- satzes seine eigene Freiheit hervorzubringen. In dieser Freiheit ist der Geist schlechthin bei sich und in aller Bewegung seiner Unterschiede mit sich eins. Die Freiheit ist zunächst nur eine These, die sich als not- wendig ergab, um in dem Widerspruche der Natur mit dem Geist die Einheit des Geistes hervorzubringen. Sie wird zum Problem, indem die ihrer selbst unbewußte Bewegung der Na- tur den Willen hervorbringt, der in seiner Bewegung seiner seihst bewußt ist. Hier offenbart die Bewegung der Natur in sich selber den Widerspruch der Natur mit dem Geist und fordert als praktisch notwendig, daß der Geist als Wille den Widerspruch überwinde und damit die Natur vor der Auf- lösung im Widerspruche bewahre. Daher hat sich hier die Wirklichkeit der Freiheit — unserer These — zu bewähren. Der Entwicklung des Willens haben wir deshalb im einzelnen zu folgen. IV. Der Wille ist nicht ein Vermögen von uns, sondern der Wille sind wir selbst. Wenn ich sage: „Ich will das, so bringe ich damit zum Ausdruck, daß ich selbst als Einheit, als ein Ganzes tätig bin. Ich selber fasse mich zu einer Einheit zusammen, in- dem ich etwas will. Der Wille ist zunächst das reine Ich als solches, reine Tätigkeit, Aktivität. Insofern ist der Wille frei, indem er nichts kennt, was ihn bestimmte, als sich selbst. Er ist ganz in sich. Er denkt nur sich selbst So ist er die Tätig- keit, die alle Bestimmtheiten auflöst: Er kehrt aus allem ein- zelnen Wollen in sich als Wille zurück. Damit erhebt sich aber ein Widerspruch gegen seine Freiheit. Wenn der Wille, um sich als schrankenlos unendlicher, freier Wille zu erhalten, dau-
42 Martin Busse. ernd die Kraft bewähren muß, alles einzelne Wollen zu ne- gieren, so äußert sich in dieser Notwendigkeit gerade eine Ab- hängigkeit von diesem einzelnen Wollen, eine Abhängigkeit, die seinem bloßen In-sich-selbst-sein widerstreitet. Der Wille wehrt als das reine Selbst alles bestimmte und beschränkte Wollen von sich ab, ist selber dieses Abwehren und setzt daher das be- stimmte und beschränkte Wollen voraus. Das Bestimmte und Beschränkte des Wollens ruft die Tätigkeit, daß der Wille alles Bestimmte und Beschränkte abwehrt, das heißt den reinen Willen selbst erst hervor. So scheint der reine Wille selber durch das Verhältnis zu dem Bestimmten und Beschränkten, das er von sich ab wehrt, also von außen her bestimmt zu sein! Aber der Wille verläßt die abstrakte Freiheit des reinen Sichselbst- wissens, er geht in eine andere Gestalt über. Er gibt sich einen bestimmten Inhalt, ein bestimmtes Ziel, er will dieses. Die Freiheit des Willens ist also nicht ein Beharren, sondern eine Bewegung, ja gerade ein Übergehen in sein Gegenteil: Der Wille fand zunächst darin sich selbst, daß er nur auf sich selbst ge- richtet, durch keinen besonderen Inhalt begrenzt, unendlich und unbestimmt war. Jetzt ist er das Gegenteil: ein auf ein be- stimmtes Ziel gerichteter Wille, und er ist in diesem Gegenteil seiner ersten Haltung doch derselbe, der Wille. Er erhält sich also in seinem Gegenteil. Er ist demnach nicht nur das eine der beiden „Momente“, der reine Wille, der von dem einzelnen bestimmten und besonderen Inhalt abstrahiert und darin sich als reiner Wille weiß, oder andererseits der Wille, der etwas ganz Konkretes will, sondern er ist beides. Wir haben den Willen zunächst als abstrakten, reinen Willen dadurch bestimmt, daß wir uns und unserm Willen allem be- stimmten Wollen entgegensetzten. Wir haben sodann als den Gegensatz des abstrakten reinen Willens den bestimmten Willen gefunden. Indem wir zunächst den Willen als ab- strakten reinen Willen bestimmten, haben wir seinen Gegen- satz, das bestimmte Wollen, noch nicht als ein Moment des Willens selbst erfaßt und sprechen darum von dem Gegen- sätze noch nicht als dem bestimmten Willen, sondern nur als
Das Thema der Rechtsphilosophie Hegels. 43 dem bestimmten Wollen. Jetzt ist auch das bestimmte Wollen als Moment des Willens selbst, als bestimmter Wille gesetzt. Die beiden Momente des Willens bestehen in der Entgegen- setzung zueinander, indem das eine nur der Gegensatz zu dem andern und das andere nur der Gegensatz zu dem einen ist. Das eine ist nicht ohne das andere zu denken, sondern wird gerade durch das andere gedacht, nämlich indem das andere in seinem Gegensatz umgekehrt wird. Diese Umkehrung haben aber nicht wir erst hinzugetan, sondern sie hat sich als Be- wegung des Willens selbst ergeben. Der Wille als das reine Selbst, das sich von allem bestimmten und begrenzten Wollen zurückzieht und gerade dadurch sich als reines Ich im Be- wußtsein hervorbringt, geht dazu über, bestimmter Wille zu sein und nimmt damit seinen Gegensatz, das bestimmte Wollen als sich selbst in sich auf. Der Wille setzt das, was eine Bedingung und ein Außerhalb des Willens schien, das Bestimmtsein, in sich selbst. Damit ist er aber nicht nur der bestimmte Wille, sondern er setzt dies, bestimmter Wille zu sein, zu einem Moment seiner als des Willens herab. Er erweist sich als die Einheit, die beide als einander ent- gegengesetzte Momente umschließt. Der Wille selber ist die Bewegung, die sich in unserm Denken vollzogen hat. Diese Bewegung erweist sich nicht bloß als Möglichkeit des Willens, sondern als seine wahrhafte Bestimmung. Denn als reines Sichselbstwollen ohne bestimmtes und konkretes Ziel wäre er kein Wille, wäre er unwirklich. Jetzt hat der Wille das be- stimmte Wollen als Moment seiner selbst gesetzt und ist daher in dem abstrakten Unterschied des reinen Willens und des be- stimmten Willens bei sich selbst. Bestimmter Wille zu sein ist also nicht eine außerhalb des Willens gelegene Notwendigkeit, die allerdings seine Freiheit ausschließen würde, sondern eine innere Notwendigkeit des Willens selbst, der darauf angelegt ist, sich für ein Ziel zu entscheiden. Weil der Wille das Moment in sich trägt, bestimmter Wille zu sein, erhebt sich ein neuer Widerspruch gegen seine Freiheit. Das, was der Wille als bestimmter Wille
44 Martin Busse. will, ist zunächst unmittelbar gegeben: Er findet als Inhalt seines Willens seine Begierden und natürlichen Triebe vor. So ist das, was als ein ihm selber äußerlich Notwendiges den Inhalt des Willens ausmacht, ein natürliches Mannig- faltiges. Der Wille weiß sich aber als die Einheit seines mannigfaltigen bestimmten Wollens. Wenn er heute dies und morgen jenes will, so weiß er sich als die Einheit in beidem. Indem sich seine Begierden wiederholen, ist er darum auch dieser Wiederholung und der Allgemeinheit, die sich darin zeigt, sich bewußt. Die Begierde sucht zunächst zwar nur im ein- zelnen Fall eine augenblickliche Befriedigung. Aber da sie sich in allgemeiner Weise wiederholt, geht sie auf eine allgemeine Befriedigung: So ist sie der Trieb. Auch die Triebe sind dem Willen von Natur zunächst äußerlich und mannigfaltig gegeben und widersprechen mit ihrer Mannigfaltigkeit dem Willen, der sich als Einheit weiß. Diese Einheit des Willens bewährt sich aber im Wählen. Die Triebe gehen auf etwas Unbestimmtes; die Art der Befriedigung wird im Triebe selber nicht bestimmt. Die Triebe sind auch mannigfach und können nicht zugleich ver- wirklicht werden. Das Selbst muß daher wählen und beschlie- ßen, um einen Trieb zu befriedigen. Das ist gerade das Dialek- tische, daß die Triebe mannigfaltig und mit den verschiedenen möglichen Arten der Befriedigung eines jeden dem einen Selbst in seinem Bewußtsein gegenüberstehen: Mit dieser Mannig- faltigkeit zwingen die Triebe den Willen zur selbsttätigen Ent- scheidung. Die natürliche Mannigfaltigkeit will Einheit. Der Wille bewährt sich als Einheit, indem er sich mit seiner ganzen Kraft in die Befriedigung eines Triebes setzt, für diesen einen entscheidet und erst dann etwa für einen andern. Die Freiheit, bei der Entscheidung den einen oder andern Trieb, die eine oder andere Art der Befriedigung zu wählen, ist die Willkür. Als Willkür macht der Wille einen der vorgefundenen Triebe und eine der mannigfaltigen natürlichen Arten, ihn zu befrie- digen, zu der Seinigen. Die Willkür ist die Möglichkeit, mich zu diesem oder einem andern zu bestimmen. Aber als Willkür trägt die Freiheit in sich den Widerspruch, daß es vom Zufall
Das Thema der Rechtsphilosophie Hegels. 45 abhängt, ob sie sich für dieses oder jenes entscheidet; denn der freie Wille steht hier in keiner Beziehung zu dem natur- haften Inhalt, für den er sich entscheidet. Über diesen Wider- spruch drängt die Natur selbst hinaus. Die Triebe stören ein- ander, weil sie mannigfaltig sind und ohne Rücksicht aufein- ander Befriedigung heischen, so daß der eine fordert, daß die Befriedigung des andern aufgeopfert werde. Aber die Triebe haben das Maß, wonach der eine hinter dem andern zu- rückzustehen hat, nicht in sich, sie ordnen sich nicht selber einander unter, sondern verlangen ihre Einordnung durch den Willen. Diese Ordnung der Triebe vollbringt das Ich in Frei- heit, indem es sich als die lebendige Einheit erweist, die sich in den verschiedenen Trieben geltend macht. Das Ich zwingt die Triebe zu einer lebendigen Einheit zusammen. Es bringt als Denken die Triebe untereinander und mit ihren Mitteln und Folgen in ein geordnetes Verhältnis. Es macht sich selbst als dieses geordnete Verhältnis zum Maß der Triebe. Es schränkt die Triebe ein, soweit sie diesem vom Ich gesetzten Maß wider- sprechen. Das Ich erweist sich so nicht nur im Einzelfall als die Einheit des Ganzen, die über die einzelnen Triebe ent- scheidet, sondern es erweist sich in allen diesen Entschei- dungen als eine durchgängige Ordnung. So hebt das Ich seine natürliche Mannigfaltigkeit in einer bewußt gesetzten Ordnung, der Gewohnheit, auf. Betrachten wir die einzelnen Begierden im Verhältnis zur Gewohnheit als der geordneten Tätigkeit, in der das Ich'seine Triebe insgesamt zu befriedigen pflegt, so setzt das Ich sich als Gewohnheit, als die eine geordnete Bewegung des Ganzen gegenüber der Zufälligkeit der einzelnen Begierden durch. Die Gewohnheit trägt aber einen neuen Widerspruch in sich. Sie wird vom Denken bestimmt, indem das Denken aus seinen Vorstellungen ein allgemeines Bild der Befriedigung seiner Triebe, ein Ganzes der Befriedigung sich formt, die Vorstellung der „Glückseligkeit“ hervorbringt. Zum andern aber ergibt sich die Gewohnheit aus der äußeren Notwendigkeit, die äußer- lichen Triebe als das Material des Willens in Harmonie mit-
46 Martin Busse. einander zu bringen. Die einzelnen natürlichen Triebe und die Arten, wie sie zu befriedigen sind, sind nicht vom Selbst bestimmt, sondern zwingen das Selbst in ein Abhängen von der Natur. So ist das Selbst auch in der Vorstellung der Glückselig- keit in Wahrheit nicht Herr über seine Triebe, sondern von ihnen abhängig. Die Glückseligkeit erweist sich zugleich als eine rein zufällige Ordnung, da ebenso der eine Trieb wie der andere zum beherrschenden gesetzt werden kann. Damit wird der Forderung, die aus dem Streit der Triebe erwächst, nicht Genüge getan; denn die Triebe drängen nach einem organischen Verhältnis, und es ist das Gegenteil des Organischen, wenn einei' der Triebe zum Beherrschenden gesetzt wird und es der bloßen Zufälligkeit überlassen bleibt, welcher. Das orga- nische Verhältnis fordert, daß jeder einzelne Trieb als not- wendiges Glied des ganzen Organismus gesetzt und von diesem Organismus beherrscht wird. Darum ist es die natürliche Be- stimmung des Menschen, wenn er nicht durch die Zufälligkeit, in der sich der eine oder der andere Trieb zum beherrschenden macht, der Zerstörung seiner organischen Einheit anheim- fallen will, aus der Zufälligkeit der Ordnung der Triebe, aus der Zufälligkeit der Vorstellungen von der Glückseligkeit und aus der Zufälligkeit der Gewohnheit zu der ihm selbst not- wendigen freien Ordnung des Ganzen und der Beherrschung seiner selbst fortzugehen. So ist die Freiheit die wahre Be- stimmung des Willens. Der Wille befreit sich von der Abhängigkeit, das selbst unbe- stimmte Medium seiner naturhaft bestimmten Triebe zu sein, indem er sich zum sich selbst bestimmenden Willen erhebt. Diese Bestimmung kann der Wille nur als allgemeiner Geist erfüllen. Soweit er bei sich als einzelnem Subjekt verweilt, bleibt er in seinen natürlichen Trieben oder in einer zufälligen Vorstellung der Glückseligkeit gefangen und kommt in dem Widerstreit der Triebe und der Vorstellungen der Glückseligkeit nicht zu der notwendigen Einheit seiner selbst. Als Herr über sich selbst behauptet er sich nur, wenn er über den beschei- denen Egoismus seiner natürlichen Triebe hinausgeht, sich all-
Das Thema der Rechtsphilosophie Hegels. 47 gemeine Zwecke setzt und nach diesen die Ordnung seiner Triebe richtet. Damit er aber im Bestimmen der allgemeinen Zwecke nicht wieder in die Zufälligkeit subjektiver Vor- stellungen und damit in den alten Widerstreit zurückfalle, hat er seine Zwecke objektiv, als denkender Geist zu bestimmen. Der Wille wird nur Herr über sich selbst sein, wenn er als allgemeiner Geist seine Zwecke als eine objektive Ordnung aus sich zu entwickeln vermag. Die These von der Freiheit des Willens, die sich aus dem Gang der Entwicklung bisher als notwendige Forderung ergab, erscheint jetzt als These von seinei’ Allgemeinheit. Danach geht es in der weiteren Ent- wicklung um die Frage: Vermag der einzelne Wille sich zu einem allgemeinen sich Zwecke setzenden Willen zu erheben, der objektiv gültig die Bestimmungen der Freiheit aus sich hervorbringt und das natürliche Dasein nach ihnen richtet, durch sie bestimmt? Als ein allgemeiner Wille hat der Wille sich zunächst so hervorgebracht, daß er sich in allen besonderen Willensakten als die durchgängige Einheit erweist, sodann in der Weise, daß er das Besondere seines Inhalts, der Triebe, auf sich als die Einheit bezieht und die besonderem Triebe in der Vorstellung der Glückseligkeit in sich als ein harmonisches Ganzes der Be- friedigung zusammenfaßt. Die Wahrheit dieser Vorstellung ist die Bewegung des Willens, daß er die besonderen Triebe jn ihrer Selbständigkeit negiert und diese Bewegung, also sich selber, als das Allgemeine der besonderen Triebe weiß. Unwahr und unwirklich ist aber die Erhaltung der Triebe und ihre positive Einordnung in das Ganze der Glückseligkeit; denn sie sind nicht als Bestimmungen des Ganzen, des Willens gesetzt, so daß sie in ihm Dasein und Anerkennung fänden; sondern sie sind als bloß natürliche Triebe gegen das Allgemeine der Glückseligkeit und gegeneinander ein äußerliches anderes und in Widerstreit geblieben. Das Allgemeine dieses Willens ist die Rückkehr aus der Bestimmtheit seiner Triebe in sich selbst. Die Triebe treten in der Zufälligkeit ihres Bestehens nebenein- ander und ihres Widerstreites gegeneinander als das Anders- Einführung in Hegels Rechtsphilosophie. 4
48 Martin Busse. sein des Willens hervor, und der Wille verhält sich als freier Wille gegen sie nur negativ. Damit ist die Bewegung des Willens scheinbar in ihrem Ausgangspunkt, in den hestim- mungslosen, reinen Willen zurückgekehrt. Zugleich ist aber als eigene Bestimmung des Willens hervorgetreten und in ihm aufgehoben, daß er bestimmter Wille zu sein, und daß er sich aus einer in ihm selbst als Geist begründeten freien Ord- nung zu bestimmen, die Bestimmungen der Freiheit zu ent- wickeln hat1). Das vermag der Wille als Denken. Als Denken ist der Wille allgemein und zugleich bestimmt Die Bestim- mungen des Denkens sind nicht vorgefundene und gegen- einander zufällige, bloß natürliche Bestimmungen, sondern das Denken ist das sich selbst bestimmende und seine Unterschiede aus sich entwickelnde Allgemeine. Das Denken vermag in seiner Bewegung nicht nur die Selbständigkeit der besonderen Triebe zu verneinen, sondern auch eigene Bestimmungen hervorzubringen. Schon als Willkür ist der Wille denkender Wille, aber nur als formales Denken, dessen Inhalte als mit dem denkenden Willen nicht vermittelte Natur, als mannig- faltige Triebe und Begierden den Willen in eine ihm selber äußerliche Abhängigkeit verstricken und seiner Einheit Wider- streiten. Jetzt ist der Wille als Denken bestimmt, daß sich selbst zu seinem Inhalt hat. Als dieses Denken ist der Wille nicht mehr bloß subjektiver Wille, sondern allgemeiner Geist! Der Wille ist als allgemeiner Geist zuerst „absolute Identität mit sich“, „unendliche Einheit der Negativität mit sich selbst“ * 2). „Er ist allgemein, weil in ihm alle Beschränkung und alle be- sondere Einzelheit aufgehoben ist3).“ Zugleich ist der Wille als denkender freier Geist sich bestimmender Wille. Der Wille bestimmt sich, indem er sich von seiner abstrakten Allge- meinheit unterscheidet. So hat der subjektive Wille sich in seiner Entwicklung durch den Übergang vom reinen Willen ü Vgl. S. 46 vorn. 2) Logik II, S. 240. 3) Rechtsphilosophie § 24.
Das Thema der Rechtsphilosophie Hegels. 49 zum bestimmten Willen1) bestimmt; aber diese Bestimmtheit wird vom Willen in seiner Bewegung unmittelbar wieder aufge- hoben, und die „Allgemeinheit“ des Willens, die sich damit wiederherstellt, bedeutet nur, daß der subjektive Wille in seinen besonderen Willensakten sich als e i n Wille erhält. Die „Allge- meinheit“ der Glückseligkeit bedeutet zwar schon ein formelles Ganzes, in das die Triebe als Inhalt aufgenommen werden; aber ihr Bestehen darin bleibt zufällig. Sie sind nicht im Ganzen des Willens selbst als notwendig einbegriff en; denn in ihnen setzt der Wille nicht sich selbst. Aber der Wille, der sich als allgemeiner Geist frei bestimmt, der allgemeine Wille, ist in seiner Bestimmtheit bei sich selbst. „Sein Gegenstand ist für ihn nicht ein anderes oder Schranke, sondern der Wille ist dadurch schlechthin bei sich selbst, weil er sich auf nichts als auf sich selbst bezieht* 2).“ Dieser allgemeine Wille geht über die Bestimmung, nur ab- strakter allgemeiner Wille zu sein, dadurch hinaus, daß er sich selber als selbstbewußten Willen von dem allgemeinen Willen unterscheidet. Er unterscheidet damit in sich selbst die Bestim- mung, reiner mit sich selbst unmittelbar identischer, also unter- schiedsloser allgemeiner Wille und Wille des von diesem all- gemeinen Willen sich unterscheidenden Selbsts zu sein. Auch in dieser letzteren Bestimmung ist er nicht ein durch natür- liche Triebe bestimmter Wille, sondern ist nur durch den Unterschied und als Unterschied zum abstrakten allgemeinen Willen bestimmt; er ist so der Wille, der sich als freien Willen will, aber indem er sich selbst von seiner abstrakten Bestim- mung, nur allgemeiner Wille zu sein, unterscheidet In diesem und als dieses „Sichunterscheiden“ bleibt der Wille „bei sich selbst“ und insofern allgemein. Die Allgemeinheit des Willens bewährt sich also im Unterschiede des abstrakten allgemeinen Willens und des sich von diesem unterscheidenden Selbsts. Der Wille schließt mithin als allgemeiner Wille den Unter- schied, abstrakter allgemeiner Wille und zugleich sich von x) Rechtsphilosophie § 6. 2) Rechtsphilosophie §§ 22—23. 4’
50 Martin Busse. diesem unterscheidender Wille eines wirklichen Selbsts zu sein, in sich ein. Die konkrete Einheit dieser Momente ist die Person. Der abstrakte, unterschiedslose allgemeine Wille und der sich davon unterscheidende selbstbewußte Wille sind somit nur Be- stimmungen der Person und diese ist als ihre Einheit die konkrete Wirklichkeit und der Grund jener unterschiedlichen Bestimmungen. Da die Person Wille und allgemein, aber durch die Unterscheidung, die sie in sich schließt, zugleich bestimmt, also bestimmter allgemeiner Wille ist, ist sie die erste Bestimmt- heit, als die sich der allgemeine Wille setzt. Die Momente, die die Person in sich schließt, können wir auch als ihr Ansich- sein“ und ihr „Fürsichsein“ bezeichnen. Ihr Ansichsein ist ihre Bestimmung, reiner, noch abstrakter unterschiedsloser allge- meiner Wille zu sein. Ihr Fürsichsein ist, daß sie sich zugleich von ihrem Ansichsein als Selbst unterscheidet. Als fürsich- seiende Person ist sie zugleich die Einheit, die beide Momente, die abstrakte Allgemeinheit wie die Bestimmung, sich von dieser als Selbst zu unterscheiden, in sich schließt. Als für sich seiend ist die Person ein bestimmtes Selbst. Diese Be- stimmtheit ist nicht äußerlich, durch die Natur bedingt — es handelt sich nicht um die zufälligen natürlichen Eigenschaften oder die äußere Erscheinung des bestimmten Selbsts —, sondern von der Person selbst gesetzt. Die Person kehrt in ihrem Selbstbewußtsein aus ihrer Bestimmung, nur abstrakt allge- meiner Wille zu sein, zu sich als einem sich bewegenden, le- bendigen Selbst zurück und setzt jene abstrakte Bestimmung zu einem Moment ihrer selbst herab. Durch diese Besinnung schließt die Person die gegenteilige Bestimmung, ausschließlich abstrakte Allgemeinheit zu sein, von sich aus. Als die ihr Gegenteil von sich ausschließende Einheit ist die Person ein- zelnes Selbst, einzelne Person. Die Einzelheit erscheint bereits in der Entwicklung des sub- jektiven Willens als Moment des formellen Willens, der sich als bestimmt, als beschränkt setzt und darin bei sich, d. h. in seiner Identität mit sich bleibt1). Jetzt tritt das Moment der Rechtsphilosophie § 7.
Das Thema der Rechtsphilosophie Hegels. 51 Einzelheit auch am allgemeinen Willen hervor. Der allgemeine Wille ist in der Bewegung, in der er sich von seiner abstrakten Allgemeinheit als für sich seiendes Selbst unterscheidet, bei sich selbst und mit sich eins. Er ist in dieser Bewegung als allgemeiner Wille zugleich sich bestimmendes und dadurch bestimmtes Selbst, einzelne Person1). Als äußere Wirklichkeit ist die einzelne Person in dem Nebeneinander vieler einzelner Personen ein zufälliger dieser. Sie unterscheidet sich dabei von den anderen Personen zu- nächst nicht als allgemeiner freier Wille, sondern die Einzelnen unterscheiden sich nur in ihrer Willkür voneinander, die eine zufällige und mannigfaltige Weise der Befriedigung ihrer Triebe und Begierden mit sich bringt. Als Person sind die vielen Einzelnen aber einander gleich. Jedes einzelne Selbst ist als Person aus der Zufälligkeit seiner Willkür in sich als den allgemeinen, sich frei bestimmenden Willen zurückgekehrt. Darum erscheint die ihnen gemeinsame Bestimmung, Person zu sein, als die allgemeine Gattung, die die vielen einzelnen Selbst umfaßt. Das einzelne Selbst unterscheidet sich damit wiederum von der Bestimmung, Person zu sein, die ihm als Gattung mit allen anderen einzelnen Selbst gemeinsam ist. Es unterscheidet sich als dieses Selbst von seiner abstrakten Be- stimmung, eine bestimmte Person überhaupt, bestimmter allge- meiner Wille zu sein. Auch in dieser Unterscheidung ist das Selbst aber bei sich selbst, frei und allgemein. Es bewährt darin seine Allgemeinheit, daß es über die ihm selber äußerliche Bestimmtheit, ein zufälliger Fall der Gattung Person zu sein, sich erhebt und die Zufälligkeit überwindet, indem es sich gerade als dieses einzelne Selbst bei sich selbst weiß. Es be- greift damit die Bestimmung, Person zu sein, in sich ein und schließt nur die Zufälligkeit, diese oder eine andere Person zu sein, von sich aus. Damit erscheint aber als die entgegen- gesetzte Bestimmung, die es von sich ausschließt, die, eine andere Person als es selbst zu sein. In dieser Bewegung ver- x) „Die sich auf sich selbst beziehende Bestimmtheit aber ist die Einzelheit/* Logik II S. 253.
52 Martin Busse. hält sich also die Person, der bestimmte allgemeine Wille, als diese einzelne Person zum allgemeinen Willen als der Gattung Person, d. h. zu der Bestimmung des allgemeinen Willens, daß er als Person schlechthin, also als diese oder eine zufällige an- dere Person wirklich ist. Der allgemeine Wille bewegt sich selbst, indem er sich als diese Person von sich als der anderen Person schlechthin unterscheidet. Deshalb sind die beiden Momente der Bewegung, diese Person und die andere Person schlechthin, eigene Bestimmungen des allgemeinen Willens, und ihr Verhältnis zueinander ist, daß sich die eine Bestimmung — diese Person — nur in der Unterscheidung von der anderen Bestimmung — der anderen Person schlechthin oder der Gattung Person — und als Unterschied zu dieser be- stimmt. Diese Person weiß sich mithin als Person, als be- stimmten allgemeinen Willen auch in der Bestimmung, Gattung Person zu sein, oder diese Person ist als allgemeiner Wille in der Bestimmung, Gattung Person zu sein, als einem Moment ihrer selbst bei sich selbst. So kehrt die Person aus der Unter- scheidung in diese und die Person schlechthin als allgemeiner Wille zu sich selbst zurück. In dieser Bewegung hat die Person als allgemeiner Wille die Gattung Person in sich als eigene Bestimmung gesetzt. So wird die Bestimmung, Person über- haupt, Gattung Person zu sein, auch in der Person als dieser Person nicht negiert, sondern als Moment aufgehoben und an- erkannt. Das Verhältnis des allgemeinen Willens als dieser Person zu sich als Gattung Person ist zugleich Beziehung auf eine äußere, ihm selbst als dieser Person entgegenstehende Wirklichkeit, auf eine objektive Realität. Der noch nicht als allgemein be- stimmte subjektive Wille bezieht sich nur auf seine natürlichen Triebe und Begierden. Auch der befriedigte subjektive Trieb, die erfüllte Begierde haben keine Wirklichkeit außer dem ein- zelnen Subjekt, keine objektive Realität. Der Wille hebt sie auch nicht in sich selber auf, sondern geht über sie hinweg zu anderen Begierden fort. Die einzelnen Triebe sind im sub- jektiven Willen nicht positiv gesetzt, sondern nur in ihrer Selb-
Das Thema der Rechtsphilosophie Hegels. 5ä ständigkeit negiert. Der allgemeine Wille verhält sich dagegen zu seinen Bestimmungen, die ihm nicht als Natur äußerlich ge- geben sind, zu denen er sich vielmehr selber bestimmt, zugleich positiv, indem er sie in sich und sich in ihnen erhält. Darum hat die einzelne Person als Bestimmung des allgemeinen Willens in ihm ein Bestehen. Darum hat aber auch die Unterscheidung des allgemeinen Willens in sich als diese Person und als Gat- tung Person Bestand und Dauer und wird als Bestimmung des allgemeinen Willens aufgehoben. Dabei wird deutlich, welche Bedeutung dem äußeren Dasein im allgemeinen Willen und für den allgemeinen Willen zukommt. Eine bloß innerliche Bestimmung des Willens hätte keinen Bestand. Sie würde der Willkür des Willens als subjektiven Willens preisgegeben sein, der sie zu negieren und auszulöschen vermöchte. Die Be- stimmung, zu der sich der allgemeine Wille bestimmt, und als die er sich erhält — hier: die Unterscheidung in diese und die Gattung Person — hat daher die Form freien Bestehens. So ist die Unterscheidung des allgemeinen Willens in sich als diese Person und als Gattung Person zugleich äußere Wirklichkeit und hat als solche gegen die bloße Subjektivität des Willens ein freies unabhängiges Dasein. Als Wirklichkeit ist die Unter- scheidung des allgemeinen Willens in sich als diese Person und als Gattung Person zugleich äußeres Dasein, eine objektive Welt,; die dem bloß subjektiven Bewußtsein entgegengesetzt zu sein scheint; aber der Gegensatz macht nur die Seite der Erschei- nung der Wirklichkeit im subjektiven Bewußtsein1) aus. Weil der allgemeine Wille selber sich in die Person als diese Person und als Gattung Person unterscheidet, ist die Wirklichkeit dieser Unterscheidung, die Beziehung der Person als dieser Person zu der Person als anderer Person schlechthin oder Gat- tung dem allgemeinen Willen nicht fremd und äußerlich ge- geben, sondern seine eigene Bestimmung, ihm selber notwen- dig. Der allgemeine Wille erweist diese Unterscheidung gerade dadurch als Bestimmung seiner selbst, daß er sich in dieser x) Rechtsphilosophie § 8.
54 Martin Busse. Unterscheidung gegenüber dem in sich befangenen subjektiven Willen als eine objektive Welt erhält. Die Beziehung des allgemeinen Willens auf seine eigene Be- stimmung als äußere Wirklichkeit bezeichnet das »Geltend Das Gelten bedeutet damit ein Doppeltes: Die Wirklichkeit^ die Bestimmung des allgemeinen Willens ist, hat nur in ihm ihr Bestehen und erhält sich in ihrer Besonderheit nur als Be- stimmung des allgemeinen Willens. In diesem Sinne hat die Person als diese und andere Person, aber auch das Eigentum, die Willenserklärung, der Vertrag nicht als ein äußerer Tat- bestand, sondern lediglich als besondere Bestimmung des allge- meinen Willens Geltung. Damit hat das Gelten zugleich die po- sitive Seite, daß die besondere Bestimmung des allgemeinen Willens aufgehoben und anerkannt ist. So sind die Bestim-» mungen der Person und des Eigentums, der Willenserklärung, des Vertrages und ihr Dasein als Wirklichkeit des allgemeinen Willens gültig. Die Wirklichkeit, die Bestimmung des allgemeinen Willens und als solche im allgemeinen Willen aufgehoben und gültig ist, ist das Recht. Damit erscheint die Frage, die zunächst in der These von der Freiheit des Willens, sodann in der von seiner Allgemeinheit ausgedrückt wurde, in einer neuen Gestalt. Die These von der Freiheit des Willens ergab sich als Resultat der Dialektik der Triebe. Der sich frei bestimmende Wille wurde als notwendig gefordert, damit sich der sub- jektive Geist im Widerspruche mit der Natur als Geist und in der Mannigfaltigkeit seiner Triebe als Einheit behaupten könne. Der Wille zeigte sich sodann als frei und sich selbst bestimmend als allgemeiner Wille. So erschien die These von der Wirklichkeit des Willens als allgemeinen Willens oder die Er- hebung des Willens zu einem allgemeinen Willen, der seine Zwecke als objektive Bestimmungen der Freiheit aus sich ent- wickelt, als das Thema, das der weiteren Entwicklung vom System der Philosophie her gestellt wird, und das es wahrzu- machen gilt, um damit das System als Ganzes in seiner Einheit, die seine Voraussetzung ist, in dem Widerspruche des Geistes
Das Thema der Rechtsphilosophie Hegels. 55 mit der Natur zu bewahrheiten. Jetzt erweist sich die Wirk- lichkeit des allgemeinen Willens in ihrer Entwicklung als das Recht und damit die Welt des Rechts als die Bewegung, in der es die These von der Wirklichkeit des Willens als allge- meinen Willens zu erproben gilt. Der philosophischen Erkennt- nis des Rechts wird also vom System der Philosophie her das Thema gestellt, die Erhebung des Willens zum allgemeinen Willen zu erkennen, der seine Bestimmungen als gültige Be- stimmungen der Freiheit aus sich hervorbringt und in sich setzt. Die Probe auf die Wahrheit des Themas wird sein, ob es gelingt, die Welt des Rechts mit ihren Unterschieden und mannigfaltigen Bestimmungen als die Bewegung zu erkennen, in der der Wille sich als allgemeiner Wille verwirklicht. Das philosophische System hat sich zunächst als Philosophie der Natur und Philosophie des subjektiven Geistes entwickelt. Dieser Gang der Entwicklung bringt als Resultat die These von der Freiheit des Willens, von der Verwirklichung seiner Allgemeinheit hervor. Diese These wird so aus der Entwick- lung des Systems heraus gefordert, daß sie Voraussetzung seiner Einheit und Wahrheit ist. Die Aufgabe der Rechts- philosophie ist, diese These zu entwickeln und in der Er- kenntnis der Wirklichkeit des Rechts zu erproben. Damit hat die Rechtsphilosophie zugleich in ihrem Bereich das ganze System, nämlich seine Voraussetzung, wahrzunehmen und fügt sich so der Entwicklung des Ganzen ein.
Das System der Rechtsphilosophie Hegels. Von Julius Binder. Die beiden vorstehenden Aufsätze haben sich die Aufgabe ge- stellt; die Voraussetzungen darzulegen, von denen aus allein die Rechtsphilosophie Hegels als ein Teil seines Systems verstanden werden kann: der Aufsatz von Larenz den Begriff der Philo- sophie überhaupt, so wie er von Hegel erfaßt und entwickelt worden ist und wie er sich selbst in dem Denken dieses größten deutschen Denkers und als es begriffen hat und, als wesent- lich mit diesem Begriff, diesem sich denkenden und begrei- fenden Begriffe identisch, die Methode, deren sich Hegel be- dient hat, um mit ihr sein System aufzubauen oder in der oder als welche sich der Begriff zu diesem System entfaltet, in diesem System und als dieses System sich selbst begriffen und dargestellt hat. Es ist die dem Denken oder dem Begriff, dem denkenden Subjekt wie dem gedachten Gegenstand immanente Selbstbewegung, die Hegel als seine dialektische oder speku- lative Methode bezeichnet hat und in der sich, bewußt oder unbewußt, ja selbst gegen die Ablehnung des denkenden Be- wußtseins, alles Denken ohne Ausnahme vollzieht, so daß es die Natur des Begriffes ist, — sofern er diesen Namen wirklich verdient und das Denken nicht bei der bloßen Vorstellung Halt macht — dialektisch oder spekulativ zu sein. So wird der Ge- genstand gemeinsamer Semesterarbeit, die Rechtsphilosophie, mit dem System der Hegelschen Philosophie überhaupt ver- knüpft, indem sie als Ergebnis einer dialektischen Entwicklung erwiesen wird, die sie als ein Glied im organischen Zusammen- hang dieses Systems begreift. Der Aufsatz von Busse aber sucht, gleichfalls von der Dialektik und Spekulation ausgehend, die
Das System der Rechtsphilosophie Hegels. 57 Eigenart dieses Denkens an der Entwicklung des Rechtsbegriffs selbst aufzuzeigen, indem er darlegt, wie sich der zu Anfang der Rechtsphilosophie von Hegel vorausgesetzte Begriff des Rechts in seine Momente auseinanderlegt, und diese in den in ihnen erst zu begreifenden Begriff zurückgeführt und als seine Momente bewahrheitet werden — der lebendige Begriff oder die Idee als der sich selbst verwirklichende Begriff, der als solcher, als die dialektische Einheit des Begriffes und seines Gegenstandes und damit als die Einheit von Subjekt und Ob- jekt, von Denken und Sein, nicht ein bloßes Kriterium der Wahrheit für das denkende Subjekt gegenüber dem denkend erfaßten Gegenstand, sondern die Wahrheit selbst und also hier wie überhaupt die ganze und vollständige Wahrheit des Be- griffes ist. So werden in diesen beiden Abhandlungen die Kate- gorien des rechtsphilosophischen Denkens herausgearbeitet, die, da das Denken natürlich einfältig und allgemein ist, Kate- gorien des Denkens überhaupt sein müssen, so daß das rechts- philosophische Denken, die rechtsphilosophische Methode die in der Logik herausgearbeiteten allgemeinen Kategorien des Denkens voraussetzt Die über diesen Zusammenhang von Gegenstand und Methode der Rechtsphilosophie mit Gegen- stand und Methode der allgemeinen Philosophie gewonnene Klarheit ermöglicht überhaupt erst ein Eindringen in die Ge- heimnisse der Hegelschen Rechtsphilosophie und vor allem das Verständnis der darin durchgeführten Terminologie. Und so können die beiden Aufsätze als eine freie Nachdenkung und Beleuchtung der Gedankengänge bezeichnet werden, die in der Vorrede und Einleitung in Hegels Rechtsphilosophie Ausdruck gefunden haben. — Diesen Sinn der beiden Abhandlungen und ihr Ziel als erreicht voraussetzend, sollen nun die folgenden Zeilen versuchen, die gewonnenen Ergebnisse auf die Rechts- philosophie Hegels selbst anzuwenden und dadurch den Grund- gedanken dieses schwierigen, oft mißverstandenen Systems dem Verständnis näherzurücken. Dem Charakter einer Einführung entsprechend kann dies natürlich nur in großen Zügen ge- schehen.
58 Julius Binder. I. Wie das Hegelsche System in seiner Ganzheit als idealisti- sches System betrachtet werden muß, im näheren als das Sy- stem des absolutenldealismus,die Erkenntnis voraus- setzend und begründend, daß alle Realität Bewußtseinsinhalt, Gedanke und insofern ideell und deshalb die Idee die wahr- hafte Realität ist, so ist natürlich auch die Logik als die Ent- wicklung des idealistischen Denkens in seinen reinen Ge- dankenbestimmungen, zu denen vor allem die Begriffe von Sein, Dasein, Wirklichkeit, Materie, Wille, Welt, Geist und an- dere gehören, zu begreifen, so daß, indem diese Kategorien als Bestimmungen des Denkens überhaupt erwiesen, d. h. aus dem Denken selbst entwickelt oder in dem sich entwickelnden Denken erfaßt werden, schon dadurch die Idealität der gegen- ständlichen Welt uns wahrgemacht wird. Denn diese Kate- gorien oder reinen Denkbestimmungen sind ja nicht Formen des subjektiven Denkens, mit denen ein ihnen gegenüber- stehendes alogisches Material erfaßt und verarbeitet würde, wie es die kantischen Kategorien waren, sondern sind Formen des gegenständlichen Denkens, in denen der Gegenstand als Inhalt des Bewußtseins entsteht und sich entfaltet und be- griffen wird, so daß sie nur auf dem Wege der Abstraktion; von dem Gegenstand getrennt und selbständiger Betrachtung unterworfen werden können1). Daraus folgt ohne weiteres die Idealität auch der Welt des Rechts, die das rechtsphiloso- phische Denken zu begreifen und das heißt als Denken zu er- schaffen hat. So richtig dies ist, so wäre es doch verfehlt, Hegels Rechts- philosophie als eine bloße Lo gi k des Rechts aufzufassen. Wie die reinen Denkbestimmungen der Logik für den absoluten Idealismus notwendig bloß Abstraktionen sind, die nur eine Seite des Gegenstands darstellen und wobei die in der Idea- lität begründete, aber deshalb gerade auch vorhandene Reali- x) Vgl. die beiden Vorreden und den ersten Teil („Allg. Begriff der Logik“) zur „großen“ Logik Hegels, Ausg. v. Lasson I, vor allem S. 15ff. 24ff., 29ff.
Das System der Rechtsphilosophie Hegels. 59 .tat dieses Gegenstandes ausgeschaltet wird, so lassen sich auch aus dem wirklichen, d. h. dem seienden, gewußten und ge- wollten, geltenden und angewendeten, gewordenen und wer- denden Rechte Kategorien des reinen Denkens abstrahieren, die in dieser Abstraktion nicht die lebendige Ganzheit des Rech- tes ausmachen, und zwar, obwohl das Recht wie alle Wirk- lichkeit der Idealität angehört, Bewußtseinsinhalt, sich den- kender Gedanke, sich vollbringender Wille, Tat und Denken des auch im Recht und als Recht sich denkenden Geistes ist. So hat auch die Philosophie des Rechts wie jede andere Provinz des philosophischen Denkens sehr verschiedene Seiten, ist es als Erscheinung des Geistes der phänomenologischen Betrach- tung des beobachtenden Bewußtseins unterworfen, in der das erscheinende Rechtsbewußtsein schließlich sich mit dem be- trachtenden Bewußtsein vereint, kann es auch Gegenstand rein logischer Analyse sein, ist es aber auch notwendig Gegenstand der Metaphysik, die gerade die Aufgabe hat, die Gültigkeit der Realität des Rechts aus seiner Idealität zu erweisen. Und diese Metaphysik des Rechts ist der Gegenstand der Rechtsphiloso- phie. Denn es handelt sich hier nicht um die Deduktion der Kategorien des Rechts, die vielmehr, als mit den Kategorien des Denkens überhaupt identisch, als in der Logik gewonnen vorausgesetzt werden, noch um eine Phänomenologie des Rechts, da die Aufgabe der Phänomenologie als der Ausein- anderlegung des Bewußtseins in das betrachtende und das be- trachtete und die Versöhnung dieser Gegensätze als durchge- führt gleichfalls vorausgesetzt werden kann, sondern um die denkende Erfassung des realen, wirklichen, gegebenen, posi- tiven Rechts als Tat und Gedanke des Geistes, der in ihm seine Wirklichkeit findet und als das Recht die Welt des objektiven Geistes begründet. Daß diese Metaphysik des Rechts in der Tat die Absicht Hegels gewesen ist, ergibt sich aus dem im Vorwort zur Rechts- philosophie gesprochenen Wort von der Vernünftigkeit des Wirklichen, zu dem eben auch das Recht als ein dem Bewußt- sein objektiv gegebener Gegenstand gehört. So ist auch für den
60 Julius Binder. diesen Gegenstand Hegels nachdenkenden Geist das Recht ein Glied in der Totalität einer gegebenen Welt, einer dem Denken gegebenen und von ihm zu erarbeitenden Welt, und ist die Aufgabe für dieses Denken, diese Welt zu erobern und zu der seinigen zu machen, und dies für dieses Denken, obwohl es bereits weiß, daß es selbst es ist, das ihm diese Welt des Rechts als es selbst gegenüberstellt und daß die Realität des Rechts in Wahrheit darin besteht, daß es denkend gewußt wird, Inhalt des denkenden Bewußtseins, Gedanke ist. Denn gerade dieses Bewußtsein ermöglicht es dem philosophischen Denken, in seinem weiteren Verlauf von diesem Gesichtspunkt der Ideali- tät des Rechts abzusehen, das Recht als Bewußtseins-Gegeben- heit, als welche es in der Gegensätzlichkeit von subjektivem und objektivem Willen erscheint, zu begreifen, d. h. den Be- griff des Rechts als eines gegebenen, in dem seine Bestim- mungen noch verborgen sind, sich entwickeln und so in seiner Dialektik zum konkreten Begriff, die die Einheit des Ganzen und seiner Momente ist1), werden zu lassen. II. Das System der Rechtsphilosophie gliedert sich in die drei Teile des abstrakten Rechts, der Moralität und der Sittlichkeit. Über die Bedeutung dieser Gliederung und das Verhältnis der einzelnen Teile zueinander besteht wenig Klarheit, freilich auch wenig Überlegung, und so dürfte eine kurze Klarlegung nicht unveranlaßt sein. Das abstrakte Recht ist häufig mit dem Privatrecht indentifiziert worden; man hat aus dem Grundbe- griff dieser Stufe der dialektischen Entwicklung des Rechtsbe- griffes, der Person, den Grundbegriff des Privatrechts über- haupt gemacht, und geglaubt, daß sich das Privatrecht für Hegel in den aus diesem Grundbegriff entwickelten Kategorien des abstrakten Rechts erschöpft habe und für einen richtigen J) Wobei diese Einheit nicht nur als die dialektische Einheit, sondern als die (übergreifende) Einheit im spekulativen Sinne zu verstehen ist. VgL die Enzykl. §§ 1 S. 3ff. und die Logik Bd. II, I. Abschn. I. Kap. Der Begriff (Lasson S. 238ff.).
Das System der Rechtsphilosophie Hegels. 61 Hegelianer erschöpfen müsse. Dann mußte das öffentliche Recht in einer andern Sphäre des Rechts gesucht werden, und da der Staat, das Subjekt des öffentlichen Rechts, sich auf der Stufe der Sittlichkeit findet, lag es nahe, diese Stufe überhaupt als das Recht des Staates zu betrachten und alles, was auf ihr vorgefunden wird, unter das öffentliche Recht zu bringen. So würde das Recht ungefähr in der Weise des preußischen Landrechts in zwei Teile auseinandergerissen werden, in die Sphäre der Einzelperson und die Sphäre der als Staat wirk- lichen Gesamtheit — und würde sich als ein Fremdkörper^ dessen Stellung im System so völlig unbegreiflich bliebe, die „Moralität“ als die frühere Moralphilosophie einschieben, ein Verfahren, das nur insofern entschuldbar wäre, als auch in den früheren Moralphilosophien — ich brauche nur an Kants Metaphysik der Sitten zu erinnern — die Moral mit dem Natur- recht als Teile eines einheitlichen Ganzen, der Ethik nämlich, behandelt zu werden pflegte, das aber jedenfalls insofern als unerhört und tadelnswert erschien, als dadurch Recht und Staat, die doch nur der Sittlichkeit zu dienen, sie zu ermög- lichen bestimmt sein sollten, über die Moral erhöht und zum absoluten Wert gesteigert sein sollten1). Zu dieser Auffassung wird im Verlauf meiner Erörterung Stellung zu nehmen sein. — Oder man hat, sich an die Überschriften der beiden letzten Teile, Moralität und Sittlichkeit hängend, angenommen, daß sie gegenüber dem abstrakten Recht eine Einheit bilden, indem sie zusammen die Moralphilosophie im Gegensatz zur Rechtslehre darstellen, womit dann die radikale Trennung des Staatsbe- griffes mit allen seinen Momenten vom Begriff des Rechts überhaupt vollzogen gewesen wäre. Beide Auffassungen erweisen sich als irrtümlich; sie sind beide bedingt durch die kritiklose Auffassung, daß die Begriffe Recht, Moral und Sittlichkeit, die der Hegelschen Gliederung zugrunde liegen, mit den allgemein gebräuchlichen Begriffen zusammenfallen, was hier so wenig wie auf irgendeinem an- deren Gebiet des Hegelschen Denkens zutrifft; was schon des- x) Vgl. z. B. Haym, Heget und seine Zeit S. 575f.
62 Julius Binder. halb nicht zutreffen kann, weil der Zusammenhang zwischen diesen Gliedern ein viel innigerer ist, als vor Hegel jemals der Zusammenhang von Recht und Sittlichkeit, Rechtslehre und Moralphilosophie gewesen war, was darin begründet ist, daß das dialektische Denken zu einer Auflösung und Verflüssigung des Begriffs überhaupt und damit aller Begriffe in eine „un- endliche Melodie“ des Gedankens führt, die es gar nicht er- möglicht, an dem System etwas zu verrücken oder gar ein ganzes Glied im System herauszunehmen und gegenüber seinen Nachbargliedern zu verselbständigen. In der Tat hat die Glie- derung des Systems mit der alten systematischen Einteilung der Ethik in Rechts- und Moralphilosophie überhaupt nichts zu tun und würde durch Entfernung aus dem System die Moral am wenigsten zu ihrem Rechte kommen, vielmehr nur einer jener Dualismen wieder hergestellt werden, die dem analy- tischen und damit auch dem kritischen Verstände angehören, der als „intel-lectus“ nur Unterschiede setzen und Gegensätze festmachen kann, während es ja das Große der Hegelschen Dialektik ist, daß sie es versteht, zu unterscheiden ohne zu scheiden, daß sie die Gegensätze relativiert und in einem hö- heren Begriffe aufhebt. In der Tat ist auch die Moralität nicht der angebliche Fremdkörper im System der Rechtsphilosophie, so wenig wie etwa die Sittlichkeit ein bloßes Attribut des Staates ist, ein über ihn gesprochenes Werturteil und eine ihm zuge- wiesene Rangstelle, da sie vielmehr sein Wesen, seine Substanz bezeichnet, und ist jener Irrtum nur dadurch veranlaßt ge- wesen, daß man auch das Recht, die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie und die dabei vorausgesetzten Kategorien in dem Sinne verstanden hat, wie die Juristen sie vor Hegel verstanden haben und noch heute verstehen. Eine eigenartige Folge dieses Irrtums ist, daß man Hegel gelegentlich den Vorwurf gemacht hat, es gebe in seinem Sy- stem keine Ethik und könne keine darin geben1). Freilich, hat 1) Vgl. dazu den instruktiven Aufsatz von J. Hessing, Zedelijkheid, in der Zeitschrift der ,,Bolland-Genootschap voor zuivere Rede“, De Idee VII (1929) S. 167ff.
Das System der Rechtsphilosophie Hegels. 63 man die alte Einteilung der praktischen Philosophie im Sinne, oder die alte Einteilung der Philosophie überhaupt in Logik, Naturphilosophie und Ethik, so finden wir die Ethik als einen selbständigen Teil der Hegelschen Philosophie nicht vor. Aber dies ist einerseits eine Folge davon, daß Hegel die Orientierung seines Denkens an bestimmten, voneinander verschiedenen psy- chologischen Funktionen oder „Seelenvermögen“ ablehnte, wie es z. B. Denken, Fühlen, Wollen sind, die noch für Kants Sy- stematik eine bedeutende Rolle gespielt haben — man denke nur an die Frage: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?“ oder an seine Unterscheidung des Ver- mögens zu Begriffen und zu Ideen —; weil diese nämlich nur abstrakte Bestimmungen desselben einheitlichen lebendigen Geistes sind, die ihre Einheit gerade in der 'Philosophie er- weisen müssen, und weil andererseits jede Funktion dieses Geistes für Hegel, wie bereits angedeutet, unterschiedene Seiten hat, eine logische, phänomenologische, psychologische, metaphysische, so daß die Gegebenheiten, die in einem andern System eine bestimmte Stelle einnehmen müssen, in dem Hegelschen System an verschiedenen Stellen und unter verschiedenen Gesichtspunkten in den focus des Bewußtseins treten. So begreift es sich, daß wir unter den Teilen, in die sich das System Hegels gliedert, und so vor allen in der Darstellung dieses Systems in der Enzyklopädie, die Ethik als einen be- sonderen Teil vergebens suchen. Anders, wenn wir auf den Kern der Sache sehen. Wir ent- decken dann, daß — wenn wir die Logik beiseite lassen — die Unterscheidung der Philosophie in theoretische und praktische Philosophie, doch eine Bedeutung hat, wenn auch nicht die Bedeutung, daß zwei voneinander fest abgeschlossene und auf verschiedenartigen Voraussetzungen beruhende Teile der Phi- losophie einander entgegengesetzt würden, was dem Wesen dieser Philosophie natürlich ganz fremd wäre. Denn so ge- wiß es ist, daß auch Hegel den theoretischen und praktischen Geist, das Erkennen und das Wollen unterscheidet, so geschieht dies bei ihm doch nur, um diesen Unterschied in der Einheit Einführung in Hegels Rechtsphilosophie. 5
64 Julius Binder. der Idee aufzuheben1): es ist derselbe Geist, der sich in der Welt des Seins selbst erkennt und der als Wille die Welt als seinen Bewußtseinsinhalt hervorbringt, sich in ihr betätigt und in ihr zu sich selbst zurückkehrt. Wenn daher Kant die Frei- heit vor der die Wirklichkeit als Kategorialfunktion des theo- retischen Denkens beherrschenden Naturnotwendigkeit nur da- durch zu retten vermochte, daß er einen „Primat der prak- tischen Vernunft“ postulierte, welches Postulat seine Begrün- dung darin finden mußte, daß sonst Recht und Moral unmög- lich wären, ist bei Hegel von einem bloßen Primat keine Rede: ei' erkennt die Einheit der Intelligenz und des Willens, der theoretischen und der praktischen Vernunft, begreift, daß die „Bestimmungen“ der ersteren auch nur von ihr gegebene Bestimmungen und insofern ihre eigene freie Tat sind und denkt damit im Grunde auch wieder nur einen kantischen Ge- danken zu Ende, der wie die Lehre vom Primat der praktischen Vernunft nicht zu Ende gedacht ist: den Gedanken, daß der Geist die ihm gegebene Welt sich selbst in seiner Freiheit er- schafft und vorstellt, so daß der Gegenstand im Bewußtsein und als dieses Gedanke und als solcher das Denken selbst in seiner Gegenständlichkeit ist. So ist die erkennende Vernunft, die den Gegenstand in Anschauung, Vorstellung und Begriff sich entwickeln läßt, im letzten Grunde selbst praktisch. Das ist der zu Ende gedachte Idealismus: die Intelligenz wird bloßes T) Vgl. die Enz. § 235 „Einheit der theoretischen und praktischen Idee“, und die Logik II S. 476ff., 482, wo der Unterschied von Erkennen und Wollen auf gehoben wird in der Idee der Einheit von Subjektivität und Objektivität, was darin begründet ist, daß die Subjektivität des Wollens ebenso wie die Objektivität des Erkennens sich im Grunde auf den „absoluten Zweck“ richtet, als der sich die vorgefundene Welt in ihrer Totalität als Wirklichkeit des Geistes darstellt. So erweisen sich das Gute und das Wahre im letzten Grunde als eins: es ist der Geist, der in sich zurückkehrt, der als erkennendes Bewußtsein sich selbst erkennt, als wollendes Bewußtsein sich selbst will, so daß in ihm alle Bestimmungen aufgehoben sind und er also bei sich in seiner Freiheit ist. Vgl. auch Kroner von Kant zu Hegel II S. 503; die Rechtsphilo- sophie, Einleitung §4 und den Abschnitt über die Logik im „System der Philosophie“ I §§ 234, 235 (Jub.Ausg. VIII S. 442ff.).
Das System der Rechtsphilosophie Hegels. 65 Moment in der Entwicklung des Geistes, die Idee des Wahren wird in der des Guten aufgehoben und erhält in dieser erst ihre eigene Wahrheit1). Es ist unter diesen Umständen kaum zu begreifen, wie über- haupt die Meinung entstehen konnte, daß es in der Hegelschen Philosophie keine Ethik geben könne, da sie nur als krasse Unbesonnenheit und Verständnislosigkeit bezeichnet werden kann * 2). Im Gegenteil: betrachten wir dieses System im ganzen, eben- so wie seine einzelnen Teile3), so ließe sich eher die Behaup- tung rechtfertigen, daß sich das System in der Ethik erschöpfe und daß Hegel eher den Namen eines Panethizisten als eines Panlogisten verdiene. Aber freilich wäre auch das eine Über- treibung, weil auch damit nur ein Moment in der Selbstbewe- gung der Idee seines Systems absolut gesetzt wäre. Richtig ist daher nur, daß die Ethik als Glied des Systems das ganze System notwendig in sich schließt, wie es von diesem mit Not- wendigkeit eingeschlossen wird, daß sie aber als bloßes Glied ihre Wahrheit eben darin hat, daß sie Moment in der dialek- tischen Bewegung des Ganzen ist und diese Wahrheit daher aus der Ganzheit des Systems empfängt. Daher behalten neben der Ethik die andern Glieder des Systems ihre Selbständigkeit und Gültigkeit, so daß sie für dieses Ganze ebenso unentbehrlich sind, wie die Ethik und wie diese das System ebenso tragen wie sie von ihm getragen werden. Und so bewährt sich auch in dieser Frage der Gedanke Hegels, daß das System die Wahrheit ist und es für seine einzelnen Teile keine selbständige Wahr- heit geben kann. III. Haben wir dies begriffen, dann ist es leicht, einzusehen, daß die Ethik als die Lehre von der Freiheit des Willens im System 2) Siehe ebendort S. 446. 2) Vgl. dazu Hessing, a. a. O. S. 211. s) Vgl. z. B. Die Religionsphilosophie I (Lasson) S. 259: „Das Gute ist . . . die ewige Wahrheit“; die Geschichtsphilosophie I (Lasson) S. 34ff., 90f. 5*
66 Julius Binder. Hegels eine Stelle haben muß; freilich nicht als das Betäti- gungsfeld eines besonderen „psychologischen Vermögens“, das selbständig neben anderen derartigen „Vermögen“ und unab- hängig von ihnen stünde; aber als Glied in der organischen Ent- wicklung des Systems, in der „Geschichte“ des erkennenden und handelnden und dadurch die Wirklichkeit erschaffenden und in ihr zu sich zurückkehrenden Geistes. Diese Ethik aber ist zweifellos die Rechtsphilosophie. Sie ist also viel mehr als was ihr Name besagt1), wenn wir diesen so verstehen, wie er von den Juristen verstanden wird und von den Moralphilo^- sophen vor Hegel stets verstanden worden ist; — und sie m u ß mehr sein, aus dem Systemgedanken seiner Philosophie. Ist dieses System ein lebendiges und organisches Gebilde, ist es der Geist selbst als sich verwirklichende Idee, dann kann ge- rade das R e c h t in unserm Sinne darin nur dann eine Stätte finden, wenn es als ein Glied in dieser Kette von Bestim- mungen, in diesem gegliederten lebendigen Ganzen erfaßt wird, wenn es einbezogen wird in den unendlichen Prozeß des sich darstellenden, erkennenden und wollenden Geistes, so daß es aufgesucht werden muß in dem ewigen Kreislauf des Gedan- kens, der von der Natur als dem Geiste in seinem Anderssein weiterführt zu dem subjektiven und von da zu dem objektiven Geist, in welch letzterem der subjektive Geist ebenso auf ge- hoben ist, wie jener in diesem seine Wirklichkeit hat, so daß das Recht — in unserm, der Juristen, Sinne — erfaßt werden muß als ein Teil der Welt des praktischen, sich Objektivität in der Welt und als Welt gebenden Geistes, das als dieses Moment der Bewegung auch wieder das Ganze der Entwicklung des prak- tischen Geistes in sich trägt. Versuchen wir daher, dieses Recht zu begreifen, indem wir es zu seinem Begriff kommen lassen, indem wir zusehen, wie es sich in seine Momente auseinander- legt, um sie schließlich wieder in sich zurückzunehmen, so müssen wir dabei die Momente wiederfinden, die sich als Mo- * II 2) Richtig N. Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus II S. 614, mit dessen Auffassung der Philosophie und insbes. auch der Rechtsphilosophie Hegels ich gleichwohl nur teilweise einverstanden bin.
Das System der Rechtsphilosophie Hegels. 67 mente des praktischen Geistes überhaupt erkennen lassen. Und ist es also richtig, daß das Recht in das Gebiet nicht der theo- retischen, sondern der praktischen Vernunft gehört, die wie gesagt nur dialektisch unterschieden sind, dann muß das Recht nicht nur inderEthik behandelt werden — wie es die ältere Naturrechtslehre und auch noch Kant und Fichte getan haben — sondern kann die spekulative Deduktion des Rechtsbegriffes überhaupt nur alsdieEthik erfolgen, so daß die Deduktion des Rechtsbegriffes überhaupt mit der Ethik zusammenfallen muß. Es ist also nicht nur eine historische Gegebenheit oder Zu- fälligkeit, wenn die Rechtsphilosophie Hegels seine Ethik dar- stellt, sondern geradezu eine systematische und rationale Not- wendigkeit, der gegenüber die Kritik im Unrecht ist. In den Kategorien des Rechts kehren die Kategorien der Ethik wieder, und jene können überhaupt nicht anders entwickelt werden, als indem die Kategorien der Ethik entwickelt werden, mit denen sie identisch sind, so daß der entwickelte konkrete Be- griff des Rechts als die Einheit des Ganzen und seiner Momente mit dem Begriff der Sittlichkeit zusammenfallen muß. Nur eine äußere Bestätigung dieser Identität ist es, wenn die Sprache, das Gemeinbewußtsein der Menschen, mit dem Worte „Recht'" nicht nur das bezeichnet, was den Juristen als „Recht“ gilt — welche technische Einschränkung des Begriffes darin begründet ist, daß der Jurist eben nur in einem engeren Gebiet sich zu betätigen hat — sondern alles, was als Moment in der Dialektik des zu seiner Wahrheit kommenden, des an und für sich werdenden freien Willens entwickelt wird. So ist auch für Hegel „Recht“ alles das, wovon sinnvoll gesagt werden kann, daß es der Beurteilung nach dem Gesichtspunkt' von „Recht oder Unrecht“ unterliegt1) — und das ist eben die Wirklichkeit, betrachtet unter dem Gesichtspunkt der Freiheit, die Wirklichkeit des freien Willens. Das ist der tiefere Sinn und die Begründung des Hegelschen Wortes: x) Vgl. meinen Aufsatz über „Die Freiheit als Recht“, Verh. des I. Hegel-Kongresses 1930 8. 160f.
68 Julius Binder. „Daß ein Dasein überhaupt Dasein des freien Willens ist, ist das Recht“1). Die Freiheit setzt nicht nur das Recht voraus oder umge- kehrt; sondern die Freiheit ist das Recht; es ist in dieser empirischen Wirklichkeit überhaupt keine andere Freiheit des Willens denkbar, als die Freiheit im Recht und als Recht. So ist das Recht auch allgemeiner Wille, wie es schon von Rous- seau definiert worden ist; aber freilich in einem andern und höhern Sinne. Es ist nicht die Freiheit der Willkür des beson- deren Individuums, sich in beliebiger Weise, so oder anders zu betätigen, welche Freiheit sich dann Einschränkungen gefallen lassen muß, um die Freiheit zum Guten zu retten, sondern die Freiheit sich aus allen Bestimmtheiten und Bedingtheiten in sich selbst zurückzuziehen, keine Bestimmungen anzuerkennen als diejenigen, die der Wille sich selbst in seiner Freiheit gibt, s o allgemein zu .sein und dieser Allgemeinheit einen besonderen Inhalt zu geben, wodurch der Wille von der abstrakten Allge- meinheit und Freiheit zur konkreten Allgemeinheit, Einheit des Allgemeinen und des Besonderen im Einzelnen aufsteigt. Damit ist zugleich der Deduktion des Willens — und des Rechtsbegriffes — der Weg vorgezeichnet. Ist das Recht seinem Wesen nach Freiheit und nicht, wie noch für Kant, Beschrän- kung der Willkür und Ermöglichung der Freiheit, die so im liberalen Sinne selbst als etwas anderes, als im Gegensatz zum Rechte stehend, gedacht wird, ist das Recht also Freiheit, Da- sein des freien Willens, dann muß es zunächst Freiheit dem bloßen Begriff oder der Anlage nach sein, Freiheit an sich, um, der Deduktion des Begriffes folgend, Freiheit des in sich reflektierten Willens, Freiheit für sich, und schließlich Frei- heit an und für sich zu werden. Es ist ganz unmöglich, daß das Recht sich dieser Selbstbewegung seines Begriffes sollte ent- ziehen können, und es bleibt daher für uns eine untergeordnete, im Grunde rein terminologische Frage, ob man den Namen Recht auf eine der Stufen dieser dialektischen Bewegung be- schränken soll oder nicht: denn jedenfalls trägt auch dann das !) Rechtsphilosophie Einleitung § 29.
Das System der Rechtsphilosophie Hegels. 69 Recht, als eine bloße Stufe der Entwicklung der Idee, die ganze weitere Entwicklung in sich, die ihm so gar nicht wesensfremd sein kann. Die Sprache aber als das noch unentwickelte Be- wußtsein gibt Hegel Recht, wenn er sich an die Terminologie der Juristen nicht kehrt. Diesen drei Stufen der Dialektik der Freiheit oder des Willens entsprechend sind daher auch drei Stufen der Ent- wicklung des Rechtsbegriffes zu unterscheiden, die zugleich die Grundlage der Gliederung des Hegelschen Systems der Rechtsphilosophie bilden: das abstrakte Recht, die Moralität, die Sittlichkeit1). Aber wie die verschiedenen Stufen der Ent- wicklung des Freiheitsbegriffes in sich wieder gegliedert sind und ineinander übergehen, so sind auch die drei Teile der Philosophie des Rechts in sich gegliedert und als Teile eines lebendigen und fließenden Ganzen ineinander übergehend. Diese Gliederung und diese Einheit in der Gliederung soll im folgenden noch in kurzen Strichen dargelegt werden, wobei zum Teil auf die beiden vorstehenden Abhandlungen Bezug ge- nommen werden kann. 1. Das abstrakte Recht hat zum Grundbegriff die Person, oder besser, im Sinne Hegels, es i s t P e r s o n; es ist der Wille als Person, d. h.: „Die Allgemeinheit des in sich freien Willens „die selbstbewußte, selbst inhaltlose einfache Beziehung auf sich in seiner Einzelheit“2): die abstrakte Identität des Ich = Ich, das ohne jede Besonderheit in dieser seiner Inhal t- x) Vgl. Rechtsphilosophie Einleitung § 33: „Der Formalismus des Rechts . . . entsteht aus dem Unterschied in der Entwicklung des Frei- heitsbegriffes. Gegen formelleres, d. i. abstrakteres und darum beschränkteres Recht, hat die Sphäre und Stufe des Geistes, in welcher er die weiteren in seiner Idee enthaltenen Momente zur Bestimmung und Wirklichkeit in sich gebracht hat, als die konkretere, in sich reichere und wahrhafter allgemeine eben damit zugleich auch ein höheres Recht.“ Und: „Jede Stufe der Entwicklung der Idee der Freiheit hat ihr eigentümliches Recht, weil sie das Dasein der Freiheit in einer ihrer eigenen Bestimmungen ist.“ 2) Rechtsphilosophie § 35. Vgl. dazu auch das „System der Sitt- lichkeit“ (Schriften zur Politik und Rechtsphil., Lasson) S. 438. 443ff., 456ff.
70 Julius Binder. losigkeit zwar die Möglichkeit jeder Differenziertheit in sich schließt, aber diese Unterschiede eben noch nicht entwickelt hat1). Dieses Wissen von sich als dem freien Willen unter vollkommener Abstraktion von allen besonderen Inhalten und dieses Wollen seiner selbst in dieser vollkommenen Abstraktion, in welcher „alle Beschränktheit negiert und ungültig ist“, ist: die Persönlichkeit; und die praktische Konsequenz aus ihr ist das „Rechtsgebot“: „Sei eine Person und respektiere die anderen als Personen“2): nicht ein eigentliches Gebot3), son- dern nur die praktisch-notwendige Konsequenz aus dem sich als Allgemeinheit, als frei und Person wissenden Willen, ebenso wie bei den Rechtsverboten des abstrakten Rechts4). Die Person weiß sich in ihrer Einzelheit als das Freie und All- gemeine; darin liegt, daß sie auch die anderen als Personen, als Erscheinungen der Allgemeinheit und Freiheit, weiß5); sie kann ihre Persönlichkeit nicht verneinen, ohne damit sich selbst zu verneinen; sie muß auch die andern, an sich freien und ver- nünftigen Wesen als Personen anerkennen und gelten lassen: die Gleichheit von allem, was nach Rosseaus bekanntem Worte „Menschenantlitz trägt“6). Die abstrakte Person ist so das 2) Vgl. dazu auch die Rechtsphilosophie § 5: „Das Element der reinen Unbestimmtheit oder der reinen Reflexion in sich (Ich = Ich), die schrankenlose Unendlichkeit der absoluten Abstraktion oder All- gemeinheit, das reine Denken seiner selbst“ — und dazu die Logik II (subjektive Logik oder die Lehre vom Begriff), Lasson S. 240: „Der Begriff ist daher zuerst die absolute Identität mit sich . . . diese reine Beziehung des Begriffes auf sich ... ist die Allgemeinheit des Begriffes“, sowie die Rechtsphilosophie § 209 Zusatz (Lasson S. 169) über das „Ich, als allgemeine Person aufgefaßt“, worin „alle identisch sind“. „Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist . . .“ 2) § 36. 3) Vgl die Aufsätze von Hessing in der „Idee“ VII a. a. O. und von Telders ebenda S. 213 ff. 4) § 38. ö) Vgl. auch das System der Sittlichkeit S. 464ff. (Lasson). 6) Die Person des abstrakten Rechts scheint eine bloße Abstraktion zu sein, der keine Realität zukommt. Dafür scheint vor allem § 104 zu sprechen, wonach der Wille als abstrakter Wille noch nicht daseiender
Das System der Rechtsphilosophie Hegels. 71 einzelne Exemplar der Gattung Mensch, die dabei als gegeben vorausgesetzt wird und ihre logische und phänomenologische Entwicklung an anderer Stelle gefunden hat1). Wenn sich so der Geist nur als Einzelfall der Gattung weiß, als vernünftiges Individuum, also noch nicht zum Bewußtsein seiner wahren Natur als der konkreten Allgemeinheit ge- kommen ist, muß sich das Recht für ihn in der abstrakten Freiheit seines Willens erschöpfen, deren Konsequenz es eben ist, auch den andern Menschen als P e r s o n im gleichen Sinne anzuerkennen, so daß diese Anerkennung nur „die selbstlose Folge“2) des eigenen abstrakten Selbstbewußtseins ist; das Wille ist. Aber es ist dabei zu beachten, daß hier von dem allgemeinen Willen die Rede ist, der gegen den „bloß für sich seienden einzelnen Willen“ wirklich wird, dadurch daß er seine Notwendigkeit erweist, und der durch die Aufhebung dieses Gegensatzes „sich als Wille in seinem Dasein bestimmt“. Dagegen spricht auch § 34, wonach der freie Wille als seine sich abstrakt auf sich beziehende Wirklichkeit „in sich ein- zelner Wille eines Subjektes ist“ und § 35, wonach dieses Subjekt als die selbstbewußte und selbst inhaltlose einfache Beziehung auf sich in seiner Einzelheit Person ist, was bedeutet, daß dieses Sub- jekt, „Ich als dieser“: reine Beziehung auf sich ist und sich so, in und trotz seiner Endlichkeit, „als das Unendliche, allgemein und frei weiß“: Es handelt sich bei der Person also nicht nur um eine auf dem Wege der Abstraktion herausdestillierte logische Kategorie, sondern um den als Person und als Sub j ekt Daseinhabe nd en Willen (vgl. auch § 209, wo von dem „Denken als Bewußtsein“ die Rede ist, dem die Auffassung des „Ich als allgemeine Person“ angehört, „worin alle identisch sind“, sodaß der Mensch gilt, „weil er Mensch ist“). Es ist also von dem Menschen als wirklichem Menschen die Rede, der aber, dem Idealismus entsprechend, eben „gedachte Wirklichkeit“ ist. *) Phänom. S. 193; Enzykl. § 366/67, vgl. auch die Logik II 8. 417, 426 (Lasson): Gattung als „die Identität des Individuums mit seinem vorherigen gleichgültigen Anderssein“: der Mensch als solcher, der gleichgültig ist gegen seine individuelle Besonderheit und der deshalb eben nur ein abstraktes Allgemeines ist, ein Exemplar der Gattung: die Eins: per se unus“, ein Fall der allgemeinen Gattungsvernunft: „naturae rationalis individua substantia“ (Isidorus, Boethius; vgL auch Thomas Aqu. Summa theol. I 29, 3, 2). 2) § 79 Zusatz.
72 Julius Binder. Recht der so sich begreifenden Einzelperson ist bloß Befugnis sich zu betätigen1), und die Kehrseite davon ist das nur Ne- gative, das bloße Verbot des Eingriffs in die Persönlichkeit des einen oder des andern, wobei es sich um eigentliche Verbots- gesetze auch noch nicht handeln kann. Ebensowenig kann von eigentlichen Pflichten, von einem in seinem Willen Gebunden- sein und Sich-gebunden-wissen, die Rede sein; denn als Person weiß der Wille sich nur als frei; und deshalb kann ein Obli- gationenrecht auf dieser Stufe des Freiheitsbewußtseins nicht in Frage kommen; daher die „Leistung“, die Erfüllung des Vertrages, nur die „selbstlose Folge des Versprechens“ ist2) und der Vertrag nur als unmittelbare Veräußerung, als Zurück- ziehung des Willens aus der veräußerten Sache und Ermög- lichung des andern Willens, sich der Sache zu bemächtigen, auf gefaßt werden kann; denn die Person findet ihre Ergänzung in dem Eigentum, das diesen Willen in der vorgefundenen Außenwelt zum Dasein bringt, und der Vertrag ist nur, neben Aneignung, Gebrauch und Verbrauch, ein Mittel, dieses Eigen- tum auszuüben und sich in ihm zu realisieren. Ebensowenig kann auf dieser Stufe aber auch von einer eigentlichen Be- strafung die Rede sein, die ja die Rechtspflege und mithin den Staat als die strafende Macht zur notwendigen Voraussetzung hat: sondern auch die Strafe kann nur begriffen werden von der abstrakten Persönlichkeit aus als die „selbstlose Folge“ dieser Persönlichkeit, da der Verbrecher als Person, d. h. als Exemplar der Gattung3), die unmittelbare Konsequenz aus diesem seinem Wesen, Einzelfall des Allgemeinen zu sein, ver- leugnet hat und er daher, um selbst wieder abstrakte Person, freier Wille an sich zu werden, gegen seine eigene Handlung, die die Negation des Allgemeinen im andern ist, die Allgemein- heit des Willens anerkennen und wiederherstellen muß — ein Gesichtspunkt, der dann freilich in der Moralität und in der Sittlichkeit nicht verschwindet, sondern im Gegenteil darin h § 38. 3) § 79. 3) Vgl. § 47: „Als Person bin ich unmittelbar Einzelnerund § 35.
Das System der Rechtsphilosophie Hegels. 73 aufbewahrt wird und die Grundlage für die dialektische Be- wegung des Guten gegen das Böse und für die strafende Ge- rechtigkeit des Staates bildet1). — 2. Denn vom abstrakten Recht der bloß vernünftigen Per- sönlichkeit schreitet der Geist fort zur Moralität, und gerade die Bewegung, die als Negation der Negation der abstrakt allge- meinen Persönlichkeit Affirmation des abstrakt Allgemeinen und damit der Freiheit an sich ist, die Bewegung vom Un- recht zu der Wiederherstellung des Rechts, bildet den Über- gang zu dieser höheren Stufe. Der Wille erkennt das Allge- meine, das das Substantielle seiner Persönlichkeit ist, als ihm gegenüber gültig an und stellt sich so ihm gegenüber, um es als für ihn geltend zu bejahen. So wird er für sich seiender Wille im Gegensatz zu dem gleichfalls für sich seienden Allge- meinen; es treten sich der an sich freie allgemeine Wille und der der Person — der mit jenem nur abstrakt identisch ist — als für sich seiend gegenüber, womit das Verhältnis der Ob- jektivität und der Subjektivität gegeben ist* 2): der Wille der Person ist gegen die objektive Macht des allgemeinen Willens in sich zurückgezogen; das Individuum weiß sich als bestimmt durch das Allgemeine, aber auch als Besonderes im Gegensatz zum Allgemeinen; es reflektiert auf diese seine Besonderheit und ihre Momente, die in der Freiheit der Person .verborgen liegen, aber noch nicht entwickelt waren, und bringt sie zum Bewußtsein als unterscheidende Momente seiner Subjektivität. Als dieser für sich seiende besondere Wille erfaßt er sich als unterschieden von anderen Individuen, so daß er im be- wußten Gegensätze und damit in der Kategorie des „Verhält- nisses“ zu diesen andern Individuen steht3). Die Folge ist, x) Vgl. auch den Natur rechtsaufsatz (Schriften zur Politik und Rechtsphil.) S. 370f. und das System der Sittlichkeit (ebenda) S. 453ff., 501 (Lasson). 2) § 104. 3) Vgl. die Enz. § 103, die Rechtsphilosophie §§ 104, 105 und das System der Sittlichkeit S. 420.
74 Julius Binder. daß der Wille in Hinblick auf diese andern Willen nicht auf dem Standpunkt der bloßen Negativität und Ausschließlichkeit verharren kann, die ja nicht einmal im Vertrag des abstrakten Rechts überwunden ist, in dem die andere Person eben auch nur als ausschließlicher Herr ihrer Eigentumssphäre aner- kannt wird, in dem also ebenso die negative abstrakte Per- sönlichkeit des einen wie des andern Vertragsteiles vorausgesetzt wird. So muß allerdings — was freilich im System nicht aus- drücklich ausgesprochen und vor allem nicht durchgeführt ist, das abstrakte Recht mit seinen Kategorien in die Sphäre der Moralität hinaufgehoben werden und behält es in dieser Sphäre seine Gültigkeit als Moment; aber es gewinnt dadurch eben doch eine andere Bedeutung, als es in der Sphäre der ab- strakten Persönlichkeit haben konnte. In der Sphäre der Mora- lität ist das einzelne Ich nicht das Ich der abstrakten Iden- tität, der unterschiedslosen Gleichheit mit dem andern Ich; sondern es ist besonderes Ich mit seinen besonderen Be- stimmungen, besonderer Wille mit besonderen Trieben, Nei- gungen und Zwecken, besonderen Fähigkeiten und Mitteln, die erst im Verhältnis, in der Beziehung auf die Willen der andern und in der Rückkehr von diesen Willen in sich ins Bewußtsein treten und wirklich werden: nicht mehr die Indifferenz der Person, sondern die Differenz der Iche, die sich mit diesen be- sonderen Mitteln und Kräften und ihren besonderen Trieben und Bedürfnissen in dieser moralischen Welt betätigen müssen und gegen die Allgemeinheit wie gegen die Besonderheit der andern zu behaupten und mit ihnen auseinanderzusetzen haben. Die Allgemeinheit des Willens ist nicht vernichtet, aber aus der Abstraktion herausgetreten: es ist die Partikularität im Gegensatz zum formalen Allgemeinen und die Partikularität gegen andere Besonderheiten des allgemeinen Willens. Das Subjekt des Willens, oder der Wille als Subjekt heißt hier nicht mehr Person, sondern wird mit der moralischen Kategorie des Subjekts bezeichnet: der subjektive Wille behauptet sich als seine Allgemeinheit und auf Grund dieser Allgemeinheit in
Das System der Rechtsphilosophie Hegels. 75 seiner Besonderheit: das Recht des subjektiven Willens1). Die Allgemeinheit, die dem Willen überhaupt zükommt und an der der abstrakte Wille ebenso wie der Wille der moralischen Per- son, auch wenn er dies nicht weiß, teil hat, begründet das Recht dieses subjektiven Willens: der allgemeine Wille ist zum Sub- jekt bestimmt, ist dieses Subjekt und hat als solches Dasein; der begrifflich oder an sich freie Wille hat nur als subjektiver Wille Dasein; das Fürsichsein ist die Realität des Willens, und dieses besteht eben in der Subjektivität So beginnt der dia- lektische Prozeß von neuem: er ist das Heraustreten des im Fürsichsein des Willens verborgenen Allgemeinen; er ist seine Wahrheit, die ins Bewußtsein tritt,sobald das moralische Subjekt über die Gültigkeit seines Willens nachdenkt und diese Gültigkeit gegenüber anderen Subjekten geltend macht: denn es kann sie behaupten und vertreten nur, wenn dieser Wille in seinem Für- sichsein zugleich allgemeiner Wille ist, der als solcher mit dem anderen bestimmten Willen identisch ist. Es liegt im Wesen des besonderen Willens, daß er sich bestimmt weiß durch seine besonderen Anlagen, Triebe, Neigungen, Bedürfnisse; aber ebenso, daß er als Wille das Allgemeine ist, und er muß sich als das Allgemeine wissen und zum Allgemeinen bestimmen, was er ja wesentlich selbst ist, um sein Recht zu behaupten gegenüber dem für sich seienden Allgemeinen und den beson- deren Willen der anderen moralischen Subjekte. Dies führt zur Dialektik der Triebe, Neigungen usw., kurz, des praktischen Bewußtseins, das von der reinen Partikularität ausgeht, in die es verloren ist, und zur Aufhebung dieser Partikularität in der Allgemeinheit gelangt, so daß der besondere Zweck und die besondere Neigung, das besondere Bedürfnis, als absolut gesetzt, seine Berechtigung verliert; seine Berechtigung aber be- wahrt, indem diese Besonderheit auf gehoben wird in der über- x) Enz. § 487; RPhil. § 106. „Die Bestimmtheit des Begriffes“, die „das Dasein des Begriffes ausmacht“. Zusatz: „Der Prozeß dieser Sphäre“ besteht darin, den „zunächst nur für sich seienden Willen“ aufzuheben und ihn für sich als identisch mit dem an sich seienden (allgemeinen) Willen zu setzen.
76 Julius Binder. greifenden Allgemeinheit, der Identität der Allgemeinheit und Besonderheit. Die Allgemeinheit wird der beherrschende Ge- sichtspunkt für die Willensbestimmung des Subjektes: es er- kennt seine Bestimmtheit, mit all seinen besonderen Zwecken, durch das Allgemeine, und damit sich selbst als das sich be- stimmende, das nicht bestimmt werden darf, zur Allge- meinheit und damit zu sich selbst: der allgemeine Wille, der sich selbst bestimmt, und zwar zu seiner Allgemeinheit und da- durch zu sich selbst zurückkehrt, an und für sich freier Wille wird. Aber das ist nur der Prozeß der Moralität, der eben zur Wirklichkeit des freien Willens in der Sittlichkeit führt; auf der Stufe der Moralität selbst ist dieses Ziel noch nicht erreicht, steht die Allgemeinheit dem für sich seienden Willen zwar als sein Ansich, aber als ein, wenn auch vielleicht nur innerlich ge- wußtes Anderes gegenüber, als Forderung, Sollen und Pflicht; auf dieser Stufe ist überhaupt erst die Möglichkeit, von einer eigentlichen Pflicht und einem Verpflichtet- s e i n zu sprechen. Die Bindung des Willens im Vertrage auf der Stufe des abstrakten Rechts erscheint als die bloße „selbst- lose Folge“ der Freiheit (Vernünftigkeit) des Willens; hier liegt in der Verbindlichkeit ein Mehr; in der Pflicht tritt das Allgemeine als Forderung dem subjektiven Willen gegenüber und wird von diesem als Bestimmung gewußt. Aber es ist die selbstverständliche Folge davon, daß der subjektive Wille allgemeiner Wille in der Form der Besonderheit ist: daß die Subjektivität, weil sie sich als frei und ihre Beschlüsse deshalb als gültig weiß, sich auch gegenüber der Forderung des Allge- meinen frei weiß und sich in Freiheit für oder gegen diese Forderung entscheidet: es ist das Recht des subjektiven Willens, als des an sich freien Willens, gegenüber der Forderung, die als das Andere, wenn auch im Bewußtsein, ihm gegenübersteht, selbst zu entscheiden und sich durch nichts gebunden zu wissen, als was er in seiner Subjektivität anzuerkennen vermag. So kann sich der subjektive Wille gegenüber dem Allgemeinen, das ihm als moralische Forderung gegenübertritt, zustimmend oder ablehnend verhalten, und zwar berechtigterweise; es ist
Das System der Rechtsphilosophie Hegels. 77 sein Recht als freier Wille, selbst zu entscheiden, sich selbst zu bestimmen, weil er, wenn auch besonderer Wille, doch Da- sein der Freiheit ist, die nur als dieser Wille des Subjektes Dasein haben kann. So ist in dieser Freiheit die Möglichkeit der Entscheidung für wie gegen das Allgemeine eingeschlossen. Das Subjekt kann, solange es nur moralisches Bewußtsein ist, beanspruchen, sich für dasjenige zu entscheiden, was es in seiner Subjektivität als das Richtige, das Gebotene, das Gute weiß, weil es selbst in seiner Besonderheit das Allgemeine, ist, und zwar obwohl das Allgemeine selbst als Forderung die Wahrheit an sich dieses subjektiven Willens ist. Aber freilich ist dieses Recht des subjektiven Willens nur relativ: „Die Wahrheit des Einzelnen ist das Allgemeine“ und dieses Allge- meine setzt sich als die Objektivität der Subjektivität gegen die bloße Subjektivität schließlich doch durch; der Wille braucht aus der äußeren Bestimmtheit ja nur in sich zurück- zukehren, um sich seiner als des nicht nur Subjektiven, des Allgemeinen bewußt zu werden. So ist es also zwar das Recht der Subjektivität, „nichts anzuerkennen, was ich nicht als ver- nünftig einsehe“; aber das Recht der Vernunft oder der Ob- jektivität „bleibt dagegen bestehen^2); was ich für die Be- friedigung meiner Überzeugung vom Guten, Erlaubten oder Un- erlaubten einer Handlung fordere, tut dem Rechte der Ob- jektivität keinen Eintrag: das Recht der Objektivität ist das höhere Recht; und es ist die eigene Notwendigkeit des moralischen Bewußtseins, über sich hinaus zu gelangen, die Objektivität in seine Subjektivität aufzunehmen und damit zum sittlichen Bewußtsein zu werden: die Identität von Bestimmt- heit und Bestimmung, von Notwendigkeit und Freiheit. In der Sphäre der Moralität aber bleibt wie gesagt die Spannung zwischen Subjektivität und Objektivität, besonderem Willen und allgemeinem Willen bestehen, und aus dieser Spannung entwickelt sich eine Vielheit von Kategorien des moralischen Bewußtseins, die in ihrem Reichtum die dürftigen Kategorien x) § H9. 2) S 132.
78 Julius Binder. des abstrakten Rechtes hinter sich läßt. Vor allem ist der sub- jektive Wille in seinem Fürsichsein Voraussetzung für Vorsatz und Schuld, objektive und subjektive Zurechnung, die Absicht, das subjektive Wohl, die Glückseligkeit, das Gewissen und das Gute, und diese Bewegung führt den Willen und das seine Entwicklung in diesen Momenten erfassende Denken über den Standpunkt der bloßen Moralität hinaus, indem in dem Ge- wissen sich die Objektivität als das eigene Wesen des mo- ralischen Subjektes zur Geltung bringt, womit die genannte Spannung im Grunde schon aufgehoben ist: es ist die Allge- meinheit, die in der Stimme des Gewissens des Subjektes diesem zum Bewußtsein kommt und die gegenüber der bloßen Parti- kularität der Neigungen und Zwecke sich durchsetzt, so daß der Wille die Allgemeinheit begreift und in sich aufnimmt, und dadurch selbst konkrete Allgemeinheit wird, übergreifende Einheit der Objektivität und der Subjektivität. „Diese, somit konkrete, Identität des Guten und des subjektiven Willens, die Wahrheit beider Momente, ist die Sittlichkeit“1). 3. Damit ist also die dritte Stufe des sittlichen Bewußtseins erklommen, das Reich der Sittlichkeit betreten. „Die Sittlich- keit ist die Idee der Freiheit, als das lebendige Gute, das in dem Selbstbewußtsein sein Wissen und Wollen und durch dessen Handeln seine Wirklichkeit hat — der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit“ 2). Es ist nicht mehr der Begriff der Freiheit an sich und der besondere Wille in seinem Fürsichsein, sondern „die Einheit des Begriffes und seines Daseins“, die als Bewußtsein Bewußtsein der Unterschiedenheit dieser Momente der Idee ist, aber so, daß jedes dieser Momente „die Totalität der Idee ist“, sich und sein Gegenteil in sich begreift und zur über- greifenden Einheit aufhebt. Die objektive Sittlichkeit ist so konkrete Einheit des Allgemeinen und Besonderen, die als solche „Unterschiede in sich setzt“: die „durch die Subjektivität konkrete Substanz, so daß die Subjektivität nur die Konkretheit *) § 141. 3) § 142.
1 Das System der Rechtsphilosophie Hegels. 79 der Objektivität ist“, und diese, das Sittliche, „einen festen Inhalt hat, der für sich notwendig und ein über das subjektive Meinen und Belieben erhabenes Bestehen ist, die an und für sich seienden Gesetze und Einrichtungen“1). Sie, die das sub- jektive Bewußtsein als seine Bestimmungen weiß, setzt und anerkennt, sind das System der Sittlichkeit und damit auch der Vernünftigkeit2). Diese Bestimmungen bilden die eine Seite des an und für sich freien Willens, seine Objektivität, und in ihnen ist der Geist objektiver Geist geworden 3 4). Ihnen steht als anderes Moment die Subjektivität gegenüber, der Wille des moralischen Subjektes41). Aber dieser Gegensatz ist nicht ab- strakt, sie gehören zusammen; der objektive Wille ist wirklich als subjektiver Wille und dieser hat den ersteren zu seinem Inhalt: so sind sie in dieser übergreifenden Einheit die Wirk- lichkeit der Sittlichkeit, die an und für sich seiende Freiheit. Die bestehenden Gesetze als objektive Ordnung des mensch- lichen Daseins, werden von den einzelnen Subjekten gewußt; und sie werden gewußt und gelten insofern, weil sie die Wahr- heit des Willens der einzelnen Subjekte sind: weil es der allge- meine Wille ist, der zugleich als diese Objektivität wie als diese durch sie bestimmten Subjekte sein Dasein hat. So gehört die ob- jektive Ordnung „zu den Momenten, die das Leben der Indi- viduen regieren und in diesen Individuen ihre Wirklichkeit haben“5). Als dieses Wissen des moralischen Subjektes der objektiven Ordnung und ihrer Bestimmungen weiß der Geist, der an und für sich freie Wille, sich selbst; er ist die Wahrheit des Selbstbewußtseins und der Freiheit der Individuen. Und das gibt ihm eine Autorität, die sogar über die Unverbrüchlich- keit der Naturgesetze erhaben ist6). Dadurch gewinnt vor i) § 144. 2) § 145. 3) Vgl. die Enzykl. §§ 483ff. 4) Vgl. dazu den früheren Standpunkt Hegels im „System der Sittlichkeit“ (Lasson) S. 464ff„ wo noch von völliger Vernichtung der Besonderheit die Rede ist. ß) § 145. 6) § 146. Einführung in Hegels Rechtsphilosophie. 6
80 Julius Binder. allem ein Begriff, der auf der Stufe des abstrakten Rechts überhaupt noch nicht angetroffen werden konnte, der vielmehr erst in der Moralität aufgetaucht ist, eine neue und tiefere Be- deutung: der Begriff der Pflicht. Sie ist nicht mehr bloße Forderung, bloßes Sollen, zu dem sich das moralische Sub- jekt in der Freiheit seines subjektiven Willens zustimmend oder ablehnend verhalten kann — in welch letzterem Falle es eben „unmoralisch“ und also doch „moralisch“ handelt — sondern diese Pflichten sind als die substantiellen Bestimmungen seines eigenen Willens, obwohl sich dieser ihnen gegenüberstellt, sie sich gegenständlich macht und sich von ihnen als das Sub- jektive unterscheidet, so daß die Kategorie des Verhält- nisses formell bestehen bleibt, zu den eigenen Bestimmungen seines Willens geworden, Pflichten, „die für seinen Willen bindend sind“: das Subjekt weiß sie als seinen Willen be- stimmend, als Inhalt seines Willens, als sich in ihnen und als sie bestimmend, so daß in diesem Wissen die Spannung von Wollen und Sollen gelöst und die Pflicht als eigene praktische Notwendigkeit gewußt und erfüllt istx). Während für das mora- lische Subjekt in seiner abstrakten Freiheit die Pflicht nur Beschränkung ist, insofern das Sollen nur „gegen die Triebe des natürlichen, oder des sein unbestimmtes Gutes aus seiner Willkür bestimmenden moralischen Willens“ er- x) § 148 undZusatz: „Die ethische Pflichtenlehre, d. i. wie sie objektiv ist, nicht in dem leeren Prinzip der moralischen Subjektivität befaßt sein soll, als welches vielmehr nichts bestimmt (§ 134), ist daher die in diesem 3. Teile folgende systematische Entwicklung des Kreises der sittlichen Notwendigkeit.“ . . . „Eine Pflichtenlehre, insofern sie nicht philosophische Wissenschaft ist, nimmt aus den Verhältnissen als vor- handen ihren Stoff und zeigt den Zusammenhang desselben mit den eigenen Vorstellungen, allgemein sich vorfindenden Grundsätzen und Gedanken, Zwecken und Trieben, Empfindungen usw. und kann als Gründe die weiteren Folgen einer jeden Pflicht in Beziehung auf die anderen sittlichen Verhältnisse sowie auf das Wohl und die Meinung hinzufügen. Eine immanente und konsequente Pflichtenlehre kann aber nichts anderes sein, als die Entwicklung der Verhältnisse, die durch die Idee der Freiheit notwendig, und daher wirklich in ihrem ganzen Umfang, im Staate sind.“
Das System der Rechtsphilosophie Hegels. 81 scheint — was zur Folge hat, daß es für den moralischen Standpunkt wesentlich ist „mit Abscheu zu tun was die Pflicht gebeut"1), hat für Hegel das Individuum in der Pflicht „viel- mehr seine Befreiung“, teils von der Abhängigkeit, in der es von dem bloßen Naturtrieb steht, sowie von der „Gedrücktheit“, in der es als subjektive Besonderheit in den moralischen Re- flexionen des Wollens ist, teils von der „unbestimmten Sub- jektivität, die nicht zum Dasein und der objektiven Bestimmt- heit des Handelns kommt, und in sich und als eine Unwirk- lichkeit bleibt“. „In der Pflicht befreit das Individuum sich zur substantiellen Freiheit“* 2). Und wieder erkennen wir dabei, wie spekulativ und sittlich der Geist unserer Sprache ist: denn die Pflicht, die sich von „pflegen“ ableitet, ist überhaupt nicht das abstrakte Wollen, sondern des sittlichen Lebens süße Gewohnheit: der Widerwille, können wir mit Goethe sagen, ist dem Individuum verschwunden; es will was es soll, als eine zweite, höhere und sittliche Natur, die die Wirklichkeit seines Wesens ist. „Das Sittliqhe, insofern es sich an dem indi- viduellen durch die Natur bestimmten Charakter als solchem reflektiert, ist die Tugend, die ... als die einfache Ange- messenheit des Individuums an die Pflichten der Verhältnisse, denen es angehört, Rechtschaffenheit ist“ Worin zu- gleich der Gedanke des platonischen rä eavrov TiQarrsiv an- klingt3). So ist die Sittlichkeit „die zur andern Natur gewordene Freiheit“4). Es ist durch mein Thema nicht geboten, näher darzulegen, wie dieser an und für sich freie Wille als die sittliche Sub- stanz sich in seine Momente auseinanderlegt und so im den- kenden Bewußtsein sich konkret gegenständlich wird: Familie, *) Schiller, Die Philosophen. 2) § 149. 5) § 150. Man beachte dabei den Fortschritt gegenüber der Auf- fassung von Tugend und Rechtschaffenheit im System der Sittlich- keit S. 468ff., 472f. 4) Vgl. die Kritik Schillers an dem Kantischen Pflichtbegriff und seine und der Romantiker Lehre von der „schönen Seele“. 6*
82 Julius Binder. bürgerliche Gesellschaft, Staat, inneres, äußeres Staatsrecht“- diese Einteilungen des dritten Teiles von Hegels Rechtsphilo- sophie sind die allgemeinsten Kategorien der Dialektik des an und für sich freien Willens, die sich erst im Staate zum Kreise schließt, in dem auch jener größere Kreis geschlossen wird, der vom an sich freien Willen ausgegangen ist, um über den für sich freien Willen der Moralität im Staate und als Staat zu sich zurückzukehren. Denn in der lebendigen Einheit und organischen Gliederung dieses Staates, so wie sie von Hegel be- griffen und durchgeführt wird, ist für ihn der an sich freie Wille, der nur sich selbst will1), der keine Bestimmungen kennt als solche, die er selbst gegeben hat, als für sich freier Wille wirklich. Um so weniger ist Veranlassung, auf die Frage einzugehen, wie der Staat beschaffen sein muß, um als die Wirklichkeit der Idee in diesem Sinne gelten zu können und wie sich dazu die geschichtlich gewordenen Staaten mit ihren geschichtlich bedingten besonderen Formen und Gliederungen verhalten; dies würde vielmehr einer Darstellung des Hegelschen Staatsrechts angehören. Dagegen muß jetzt eine Frage nochmals gestellt und be- handelt werden, die bereits angedeutet wurde und die erst jetzt beantwortet werden kann: nämlich .an welcher Stelle in diesem System der Rechtsphilosophie mit seinem Stufen’bau des abstrakten Rechts, der Moralität und der Sittlichkeit das Recht der Juristen steht und wie sich jede dieser drei Stufen zu ihm verhält. IV. Damit knüpfe ich an das im ersten Abschnitt dieser Unter- suchung über die Bedeutung des abstrakten Rechts und der Sittlichkeit Gesagte an. Wir haben die Meinung, daß das ab- strakte Recht das Privatrecht der Juristen sei, ebenso ab- gelehnt wie die Meinung, daß es das positive Recht über- haupt darstelle, das in der Moralität und der Sittlichkeit über- wunden, von dem sich erhebenden sittlichen Bewußtsein hinter sich gelassen werde. Dies könnte nur dann überhaupt einen l) § 27: „Der freie Wille der den. freien Willen will.“
Das System der Rechtsphilosophie Hegels. 83 gewissen Sinn beanspruchen, wenn die Rechtsphilosophie ge- dacht wäre als eine Dialektik des sittlichen Bewußt- seins, wenn dem abstrakten Recht als dem dem Individuum abstrakt gegenüberstehenden allgemeinen Willen, den dieses Individuum als Heteronomie empfinden und begreifen muß, dieser Charakter der Abstraktheit und Fremdheit in der Dia- lektik des Rechtsbewußtseins allmählich genommen würde, indem das Individuum als moralisches Subjekt diesen allge- meinen Willen als moralischverpflichtend, als Sollen begriffe, dem es in seiner Freiheit sich nicht entziehen dürfte, um schließlich diesen Willen in seinen besonderen Willen auf- zunehmen, als seine eigene Gesetzlichkeit zu ergreifen, womit das Recht zur autonomen Ordnung würde, als die eigene an und für sich seiende Freiheit von dem sittlichen Subjekt ge- wußt und gelebt würde. So habe ich in der Tat früher einmal das System Hegels aufgefaßt. Und andere sind in denselben Fehler verfallen, unter der Voraussetzung, daß Recht das Recht der Juristen und Moralität und Sittlichkeit, die entsprechenden Begriffe der Moralphilosophen seien: die Rechtsphilosophie als eine Dialektik des sittlichen Bewußtseins, die freilich im Näheren zu einer Kritik des sozialen und Rechtsbewußtseins wird und in einer Predigt der rechten Gesinnung zum Staate gipfelt. Aber diese und andere derartige Meinungen erweisen sich bei näherer Betrachtung des Systems und des darin durch- geführten Gedankens als unhaltbar, als am Äußerlichen, dem System selbst Fremden hängengeblieben. Es ist ganz willkürlich, wenn Rosenzweig behauptet, das Recht, das systematisch an erster Stelle stehe, sei für Hegel „das Privatrecht Roms ge- wesen“ und die ganze systematische Stellung, die er dem Rechte gebe, „beruhe auf diesem Standpunkt“1), und wenn Giese* 2} in x) Rosenzweig, Hegel und der Staat 1925 II S. 103. Oberflächliche Betrachtung mag freilich eine gewisse Stütze dieser Auffassung in früheren Bemerkungen Hegels finden, so im Naturrechtsaufsatz S. 380f. und im System der Sittlichkeit S. 438. 2) Giese, Hegels Staatsidee und der Begriff der Staatserziehung 1926 8. 40.
g4 Julius Binder. seiner Gefolgschaft behauptet, mit dem abstrakten Recht habe Hegel vorzüglich das ihm unsympathische römische Recht im Auge gehabt, wofür sich zur Begründung höchstens einige we- nige kritische Bemerkungen Hegels in der Rechtsphilosophie und eine Stelle aus der Geschichtsphilosophie anführen lassen x), in der von der dem römischen Recht eigentümlichen „Verstandesbestimmtheit“, die uns in der „abstrakten Person“ entgegentritt, und von der damit vollzogenen Trennung des i „juristisch Rechtlichen“ von der „Sitte und Gesinnung“ die Rede ist, mit der die Römer der Nachwelt eine unerfreuliche Arbeit abgenommen und ein großes Geschenk gemacht haben 2). Dem Inhalt der Rechtsphilosophie werden solche Meinungen jedenfalls nicht gerecht Es ist ein Rückfall in vor- hegelsche Auffassungen, wenn auf Grund dieser Voraussetzung Rosenzweig meint, das Recht sei für Hegel „zwar die eine Grundvoraussetzung, aber doch außerhalb der eigentlichen Sittlichkeit“, und ein schwerer Irrtum, wenn er behauptet, i Hegel habe sowohl die Familie wie die Gesellschaft dem Rechte ' „gänzlich entzogen“, „so gänzlich, daß er seit 1820 den Begriff j des Familienrechtes überhaupt verleugnet und das Erbrecht in der Philosophie der Familie, nicht des Rechtes behandelt habe“, daß aber „eben diese systematische Trennung“ es Hegel ermöglicht habe, „das Recht so zu seinem Rechte kommen zu lassen und es dennoch den höheren Sphären gegenüber in i feste Grenzen einzuschließen“3). x) Rechtsphilosophie, Einleitung §§ 2, 3; Geschichtsphilosophie III (Lasson) S. 674f. !) Giese a. a. O. S. 41. s) a. a. O. 8. 111. — Vgl. zu der Frage etwa auch Falkenberg, Ge- schichte der neueren Philosophie 7. Aufl. 8. 453 („Recht, Moralität, Sittlichkeit“); Windelband, Die neuere Philosophie (Kultur der Gegen- wart I, 5. Aufl., 8. 545); auch Stahl, Rechtsphilosophie I 8. 431 („Das 1 Recht(abstrakteRecht)“); 8.432: „ImabstraktenRecht(Privatrecht)“; Besser: Wenke, Theorie des objektiven Geistes (1927) 8. 137 Nr. 5; 108 Nr. 2; N. Hartmann, Philosophie des deutschen Idealismus II, 8. 316f.
Das System der Rechtsphilosophie Hegels. 85 Dies ist eine vollkommene und unbegreifliche Verkennung des Grundgedankens der Rechtsphilosophie Hegels. Die He- gelsche Systematik hat mit der alten Einteilung der praktischen Philosophie in Recht und Tugendlehre gar nichts zu tun. Daß das abstrakte Recht nicht das positive geschichtlich gewordene Recht sein kann, ergibt schon die Überlegung, daß dieser Ab- schnitt überhaupt in keinem Sinn ein Rechtssystem genannt werden kann, vor allem aber nicht im Sinne Hegels, für den das System, das in der Entwicklung der Kategorien des Denkens besteht und schließlich zu seinem Anfang zurückkehrt, um damit die Voraussetzung als solche aufzuheben, das Resultat zur Voraussetzung zu machen, die Wahrheit seiner Glieder be- deutet. Davon ist im abstrakten Recht keine Rede: es hat zur Voraussetzung den an und für sich freien Willen x) und führt über die abstrakte Person zu Eigentum, Vertrag, Unrecht und Verbrechen, um von hier aus über die Affirmation des Rechtes gegenüber seiner Verneinung als Verbrechen in der Strafe nicht etwa zu seiner Voraussetzung zurückzubiegen, sondern den dia- lektischen Fortgang auf die nächsthöhere Stufe der Dialektik zu unternehmen, in die Moralität einzumünden. Sie ist falsch aber auch unter dem Gesichtspunkt der Vollständigkeit der Inhalte des Systems. Weder kann das abstrakte Recht als das positive Recht, das die Juristen allein als Recht gelten lassen, aufgefaßt werden, über dem sich Moralität und Sitt- lichkeit als Reiche überrechtlicher und außerrechtlicher Frei- heit aufbauten — was ja schon deshalb gar nicht möglich ist, weil es eine solche außer- und überrechtliche Freiheit für Hegel gar nicht gibt2), noch als ein bloßes Stück des posi- tiven Rechts, nämlich als das Privatrecht — woran man viel- leicht denken könnte, weil es vom öffentlichen Recht kaum etwas, als eine kurze Andeutung3) enthält — weil es vom Privatrecht auch nur einige wenige Begriffe entwickelt, die die x) § 34. *) § 29: Das Recht als ,,Dasein des freien Willens“. ®) „Die Sphäre des peinlichenRechts“ (§ 95); „die Form der Gerechtig- keit im Staate“ (§ 100).
86 Julius Binder. ganze Fülle dessen, was wir unter Privatrecht verstehen und was schon zu Hegels Zeit darunter verstanden worden ist* keineswegs erschöpfen: die Person als das rechtsfähige Individuum, das Eigentum als die äußere Wirkungssphäre dieser Person; der Vertrag als eine Weise der Betätigung des Willens dieser Person an der Sache (also unter rein sachen- rechtlichem Gesichtspunkt betrachtet); das Unrecht als Ver- letzung dieser Person und ihres Eigentums und die Strafe als Wiederherstellung der Person und damit des Rechts. Keine Stelle finden in diesem angeblichen System, d. h. in der Totali- tät der aus dem Begriff der Person entwickelten Kategorien die juristischen Personen; ebensowenig ist darin die Rede vom Schuldrecht, Familien- und Erbrecht usw., was uns aber nicht zu der Annahme verführen darf, Hegel habe etwa den privat- rechtlichen Charakter dieser drei Rechtsgebiete verneint und sie ins öffentliche Recht verwiesen, was in bezug auf das Fa- milien- und Erbrecht in der Tat behauptet worden ist1), aber, und zwar vor allem für das Schuldrecht, eine ganz unmögliche Annahme ist. Vielmehr ist das Verhältnis des abstrakten Rechts zu Mo- ralität und Sittlichkeit ein ganz anderes und gilt es zunächst zu begreifen, daß das abstrakte Recht wie die Moralität nur Momente sind, in die sich der an sich freie Wille, der das Recht ist, entwickelt, um so begreifen zu können, daß sie als bloße Momente in dem Rechte der Sittlichkeit enthalten sind, in dieser Eingliederung ihre Wahrheit und Berechtigung haben, außerhalb der Sittlichkeit aber, als des geschlossenen Rechtssystems, unwahr und hinfällig sind. So weist allerdings das abstrakte Recht über sich hinaus auf die Stufe der Morali- tät, die als das Recht der Subjektivität seine Negation ist, und dieses wieder über sich hinaus auf die Stufe der Sittlichkeit, in der die Subjektivität des Willens wieder negiert und aufge- hoben wird. Und so ist das Recht der Sittlichkeit überhaupt erst das Recht, und zwar das Recht, das wir Juristen als Recht x) Rosenzweig a. a. O.; auch Telders in der „Idee“ VII (1929) S. 213ff., besonders S. 230. <
Das System der Rechtsphilosophie Hegels. 87 anerkennen, das vollständige Recht, das wieder in sich ge- gliedert ist und von dem nur ein Teil, das Recht der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft, Privatrecht ist. Den Beweis muß eine Durchmusterung und Durchdenkung des Systems in seiner Totalität geben, vor allem aber des Sy- stems der Sittlichkeit. Denn dieser Teil der Rechtsphilo- sophie ist System im Sinne Hegels, was die andern Teile für sich eigentlich nicht sind; und die Sittlichkeit als dieses System ist die wirklich gewordene Freiheit, die Einheit von Begriff und Dasein, in der die abstrakte Person ebenso wie das moralische Subjekt nur als Momente enthalten sind, so daß die abstrakte Person des abstrakten Rechts in die Bestimmung des Ver- hältnisses übergetreten sein muß, des Verhältnisses zum Allgemeinen und zu den anderen Personen als diesem Allge- meinen und von da, dieses Allgemeine als die Wahrheit ihrer Subjektivität erkennend, sich selbst zu dieser Allgemein- heit bestimmt und diese so zur Objektivität gestaltet haben müssen, die ihrer Subjektivität gesetzte Ordnung und Regel ist, damit von einem wirklichen Recht gesprochen werden kann. Denn dies ist ja „das Dasein des freien Willens, der das Recht ist". Dieser „Inhalt der Sittlichkeit", die „über das besondere subjektive Meinen und Belieben erhabenen", „an und für sich seienden Gesetze und Einrichtungen"1) sind es gerade, die wir in der Sphäre des abstrakten Rechts vermissen, die wir auch in der Sphäre der Moralität nicht finden können und die sich die Subjektivität erst in der Sphäre der Sittlichkeit gegen- üb erstellt, um sie in ihren Willen aufzunehmen und so als autonome Gesetze zu beobachten. Und dieses Recht, das so im Willen der vernünftigen, sich gegenseitig als Subjekte kennenden und anerkennenden, miteinander in Gemeinschaft, Einheit des Geistes, des Wollens und der Zwecke und bestän- diger Wechselbeziehung lebenden Menschen, und als dieser Wille wirklich ist, das ist ... gerade das positive Recht, von dem die Bestimmungen gelten, die Hegel im § 3 seiner Rechtsphilosophie entwickelt hat: „Das Recht ist positiv: § 144 '
88 Julius Binder, a) durch die Form, in einem Staate Gültigkeit zu haben; und diese gesetzliche Autorität ist das Prinzip für die Kenntnis des- selben, die positive Rechtswissenschaft; b) dem Inhalte nach erhält dieses Recht ein positives Element «) durch den beson- deren Nationalcharakter eines Volkes“ — es ist also nicht über- positiv, wie das Naturrecht, sondern positiv im Sinne der ge- schichtlichen Bedingtheit und Differenziertheit! — ß~) positiv weiter im Sinne der Bestimmtheit und Geeignetheit, auf be- sondere Fälle angewendet zu werden, eine Anwendung, die nicht mehr spekulatives Denken und Entwicklung des Be- griffes, sondern Subsumtion des Verstandes ist —y) durch die für die Entscheidung in der Wirklichkeit erforderlichen letzten Bestimmungen. “ Das Recht der Sittlichkeit ist also das inseinerPositivi- tät als Recht begriffene Recht. Das entspricht auch allein der Tatsache, daß Hegel nicht eine Vielheit von Rechten kennt, sondern ein Recht, die Idee des Rechts als die Einheit des Begriffes und seiner Verwirk- lichung1), welches Recht eben für Hegel die Positivität hat, und daß er ein Naturrecht im Gegensatz zum positiven Recht ausdrücklich ablehnt3), um es ausschließlich mit dem positiven Recht als der Wirklichkeit der Vernunft zu tun zu haben, also den Geist, die Idee sich als positives Recht entwickeln zu lassen. Und dieser Standpunkt entspricht ja auch dem in der Vorrede formulierten, für seine ganze Philosophie geltenden Satze: „Was wirklich ist, das ist vernünftig und was vernünftig ist, ist wirklich.“ So ist für Hegel und für uns das abstrakte Recht nichts weiter als der (dürftige) Inbegriff der Kategorien, die sich aus der abstrakt allgemeinen oder abstrakt freien Persönlichkeit entwickeln lassen3) und die auf dem Umwege über die Mo- Einleitung J 1. *) § 3. 3) Vgl. dazu meinen Aufsatz über „Die Freiheit als Recht“, Ver- handlungen des I. Hegel-Kongresses 8. 770. Ich bemerke dazu, daß ich die dort vertretene Auffassung des Hegelschen Systems heute auch
Das System der Rechtsphilosophie Hegels. 89 ralität hinübergeführt werden in das Reich der Sittlichkeit, wo sie überhaupt erst ihre systematische Eingliederung erhalten können. Diese Einbringung der Person in das System des Rechts tritt deutlich hervor in der Ehe und Familie, wo die Individualität in der Einheit der Familie „ihre an und für sich seiende Wesentlichkeit hat“ um in ihr nicht als eine Person für sich, sondern als Mitglied zu sein“1). Und so ist auch die Ehe, die d e s h a 1 b im abstrakten Recht keine Rolle spielen kann (und nicht, weil sie dem öffentlichen Rechte angehörte!) „die freie Einwilligung der Personen dazu, eine Person auszumachen, ihre natürliche und ein- zelne Persönlichkeit in innerer Einheit aufzuheben, die inso- fern zwar Selbstbeschränkung, aber auch zugleich ihre Befrei- ung ist“2). In dieser Familie ist aber nicht nur die abstrakte Einzelperson und das Subjekt in seinem Fürsichsein aufge- hoben, sondern wir finden hier auch als bloßes Moment das Eigentum wieder3), das, da die Familie selbst „eine Person ist“4), wieder als abstraktes Eigentum dieser Person in die Sphäre der Sittlichkeit aufgenommen und aufgehoben ist; während mit der Auflösung der Familie auch diese Vermögens- einheit sich wieder auflöst5). Wie sehr es Hegel deutlich war, daß das Eigentum des abstrakten Rechts in der Sphäre der Sittlichkeit nicht verschwinde, ergibt sich auch aus seiner Er- örterung über die Substitutionen und Familienfideikommisse6), die nach ihm „das Prinzip der Freiheit des Eigentums ver- letzen“ 7). So bedeutet denn auch die Auflösung der Familie in eine Vielheit von Familien8) für Hegel den Verlust der un- mittelbaren natürlichen Sittlichkeit der Familie9), wobei nicht mehr ohne Einschränkung aufrecht erhalten kann, wie aus diesem Aufsatz hervorgehen dürfte. x) § 158. 2) §§ 158, 162. 3) §§ 169, 170. 4) §§ 169, 162. 5) § 180: ,,Das Prinzip, daß die Glieder der Familie zu selbständigen rechtlichen Personen werden“. 6) § 180 Zusatz. 7) Wozu er den § 62 aus dem Abschnitt über das abstrakte Recht heranzieht! 8) § 181. 9) § 181.
90 Julius Binder. aber das Individuum nicht mehr auf die Stufe des abstrakten Rechts, der bloßen, isolierten Persönlichkeit, herabsinkt, da die Sittlichkeit der Familie eben doch die innerliche Grundlage der jetzt sich entwickelnden Verhältnisse bleibt: es ist die kon- krete Person, die sich als im V e r h ä 1 t n i s zu andern Per- sonen weiß, die sich zwar „als besondere Person Zweck ist“1), „aber als wesentlich in Beziehung auf andere solche Besonderheit“ — die bürgerliche Gesellschaft. Diese beson- dere Person ist nicht das abstrakte Individuum des ab- strakten Rechts, sondern der einzelne Mensch oder die Fa- milie in ihrer Einheit als Glieder des gesellschaftlichen Zusam- menhangs2). Diese konkrete Person, in der die abstrakte Per- son des formellen Rechts aufgehoben ist, „ist sich als besondere Zweck, als ein Ganzes von Bedürfnissen, und eine Vermischung von Naturnotwendigkeit und Willkür“ — das eine Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft: das Individuum nicht in seiner Iso- liertheit, sondern „als wesentlich in Beziehung auf andere solche Besonderheit, so daß jede Person „durch die andere und zugleich schlechthin nur als durch die Form der Allgemeinheit, das andere Prinzip, vermittelt sich geltend macht und befrie- digt“3). „Dieser selbstsüchtige Zweck in seiner Verwirklichung, so durch die Allgemeinheit bedingt, begründet ein System all- seitiger Abhängigkeit, worin die Substanz und das Wohl des Einzelnen und sein rechtliches Dasein in die Substanz, das Wohl und Recht aller verflochten, darauf gegründet und nur in diesem Zusammenhang wirklich und gesichert ist — man kann dieses System zunächst als den äußeren Staat, Not- und Verstandesstäat ansehen“4). Es ist die „Stufe der Differenz“, die „Idee in ihrer Entzweiung“5), das „System der verlorenen § 182. 2) Vgl. § 181: „Eine Vielheit von Familien, welche sich überhaupt als bestimmte konkrete Personen und daher äußerlich zueinander verhalten“, und dazu die Enzykl. § 523: „Die Substanz, als Geist sich abstrakt in viele Personen (die Familie ist nur eine Person), in Familien oder Einzelne besondernd, die in selbständiger Freiheit und als Be- sondere für sich sind, verliert zunächst ihre sittliche Bestimmung .. 3) § 182. 4) § 183. 5) §§ 181, 184.
Das System der Rechtsphilosophie Hegels. 91 Sittlichkeit“1), in dem „die Besonderheit das Recht erhalten hat, sich nach allen Seiten zu entwickeln und zu ergehen, und die Allgemeinheit das Recht, sich als Grund und notwendige Form der Besonderheit, als die Macht über sie und ihren letzten Zweck zu erweisen“: das Individuum, „jetzt als durch die Familie hindurchgegangen und so sich als Element der bürgerlichen Gesellschaft wissend“. Hier heißen die Individuen daher auch nicht schlechtweg „Personen“, sondern sie sind als Glieder der Gesellschaft ihres Staates „Privat personen“, „welche ihr eigenes Interesse zu ihrem Zwecke haben“ 2). Dieser Zweck kann aber nur durch das Allgemeine vermittelt werden, da eben nicht die abstrakte Person und ihr Eigentum in Frage steht, sondern die gesellschaftlich gebundene Privat- person“, welches Allgemeine aber hier der Privatperson nur als Mittel für ihre Zwecke erscheint, weshalb sie ihr Wesen, Wollen und Tun „auf allgemeine Weise bestimmen und sich zu einem Glied in der Kette dieses Zusammenhangs machen“ muß3). Und so wird auf dieser Stufe der Privatpersönlichkeit — welcher Begriff aber über die Person im Sinne des Privat- rechtssubjektes hinausreicht, da sie auch im Staatsrecht von Be- deutung ist — ein System von Kategorien entwickelt, die in der Sphäre des abstrakten Rechtes gar nicht möglich sind: das System der Bedürfnisse der einzelnen in ihrem gegen- seitigen Zusammenhang, die Wirklichkeit des darin enthaltenen Allgemeinen der Freiheit (des Rechts!), nämlich des Eigen- tums (!) durch die Rechtspflege und endlich die Vor- sorge für die Interessen der einzelnen als das Interesse der All- gemeinheit durch Polizei und Korporation, d. h. durch Ver- waltung und korporative Gliederung der Gesellschaft (Zünfte). — Auch dieses System ist freilich vom Standpunkt des Ju- risten wieder als unvollständig zu bezeichnen, insofern vor allem das Obligationenrecht in ihm gar keine Rolle spielt, das im abstrakten Recht freilich nicht unterkommen konnte, weil da die Person überhaupt noch nicht in die Kategorie des „Ver- hältnisses“ zu andern Personen eingetreten war, so daß das x) § 187. 2) Ebenda. 3) Ebenda.
92 Julius Binder. „Gebundensein“ an den Vertrag nur die „selbstlose Folge“ des Begriffes der Person sein konnte1). So ist die Person als Glied der bürgerlichen Gesellschaft und Subjekt der Bedürfnisbe- friedigung trotz der in sich reflektierten Persönlichkeit des ab- strakten Rechts doch nicht diese abstrakte Person mehr, son- dern konkrete Person, Glied der bürgerlichen Gesellschaft und moralisches Subjekt2), und ist auch ihr Eigentum nicht mehr das bloß abstrakte Eigentum, die Verlegung des Willens der Person in die Sache, sondern das Eigentum in seiner geltenden Wirklichkeit, als das durch die Rechtspflege in der Ge- sellschaft und ihr gegenüber geschützte Recht. Wenn also das Individuum auch nur als solches in der bürgerlichen Gesell- schaft Geltung hat, so hat es diese eben doch als Glied der Gesellschaft, als eingeschlossen in einen Zusammenhang von Wechselbeziehungen, in denen es nicht nur sein Ich in seiner abstrakten Identität, sondern seine Besonderheit in An- lage und Bedürfnissen, Trieben und Zwecken zur Geltung bringt. — Ein Blick aber auf die Gliederung der Rechtspflege (§ 209ff.) belehrt uns darüber, daß diese Stufe der Sittlichkeit gerade die der wirklichen Geltung des Rechts im Sinne seiner Posi- tivität ist: „Es ist objektiv wirklich, hat die Macht der Wirklichkeit, es gilt und wird als allgemein gültiges ge- wußt“3). Es ist objektiv wirklich als gesetztes Recht und „ist durch diese Bestimmung positives Recht überhaupt“4). Dieses Gesetztsein schließt auch die Anwendbarkeit auf den einzelnen Fall in sich 5) usw. Und diese „Erkenntnis und Ver- wirklichung des Rechts“ im einzelnen Falle „kommt einer öf- fentlichen Macht, dem Gerichte zu“6), so daß das abstrakte Recht des Eigentums wie des Verbrechens hier ihre konkrete Verwirklichung erleben7); es ist das Reich der Justiz, die J) Vgl. aber auch § 209, wo die abstrakte Person im System der Be- dürfnisse wieder auf taucht. 2) § 207. 3) § 213. 4) § 211. s) § 214. 6) § 219. 7) §§ 217—220.
Das System der Rechtsphilosophie Hegels. 93 ja auch das Privatrecht umfaßt, so daß also dieses seine Stel- lung im positiven Rechte, dieses aber wieder die seinige in der Sittlichkeit hat. — Und so ist ja auch das Staatsrecht, das im Anschluß an das Recht der bürgerlichen Gesellschaft zur Darstellung gelangt, nicht etwa wie das Recht der Platonischen Politeia als die Ver- fassung eines Idealstaates gedacht; sondern die Aufgabe, die sich Hegel bei dieser Darstellung gesetzt hatte, war zweifel- los die, in den staatsrechtlichen Gebilden des deutschen Staates seiner Zeit die Vernunft zu erkennen, diesen geschichtlich gewordenen Staat mit seiner Monarchie und seiner ständischen Gliederung als Wirklichkeit der Idee, als die an und für sich seiende Freiheit zu erweisen; und die gleiche Bedeutung hat seine Auffassung des Völkerrechts, die einfach den wirklichen, bestehenden Zustand voraussetzt und in seiner — an den Ideen der heutigen Generation gemessen — Unvollkommenheit als vernünftig und notwendig begreift. Das Ergebnis ist: das positive Recht und der geschichtlich gewordene Staat sind die Wirklichkeit der Freiheit, die Frei- heit an und für sich, und sind damit auch die Sittlichkeit. Für Hegel gibt es daher keine andere Sittlichkeit als das Recht und den Staat, wie es keine Freiheit außerhalb von Recht und Staat geben kann. Und diese Erkenntnis muß allerdings zur bedingungslosen Bejahung von Recht und Staat führen, weil nur in ihr das subjektive Bewußtsein zeigt, daß es zur wahren Freiheit fortgeschritten ist Es bleibt aber hier eine Frage offen: diese Freiheit und diese Sittlichkeit setzt den Menschen in seiner gesellschaftlichen Be- dingtheit und Gebundenheit voraus. Wo bleibt aber hier die individuelle Freiheit und die Sittlichkeit des individuellen Lebens? Soll wirklich alller sittliche Wert nur im Gemein- schaftsleben, in der Gesellschaft und im Staate zu finden sein? Es ist kein Zweifel, daß diese Frage im Sinne Hegels bejaht werden muß. Anstößig kann diese Auffassung nur erscheinen von einem Standpunkt aus, der das Wesen dieses Staates als der konkreten Wirklichkeit der Idee nicht begriffen
94 Julius Binder. hat, dem der Staat als die gegliederte Mannigfaltigkeit konkreten menschlichen Lebens und Wirkens unverständlich geblieben ist: dem der Staat der abstrakte Gegensatz zur indivi- duellen Freiheit ist, so daß ihn die Person im Sinne des Libe- ralismus von sich möglichst fernzuhalten suchen muß. Das ist der Hegelsche Staat aoer nicht, er will nicht n u r die Per- sönlichkeitssphäre seiner Bürger in sich aufnehmen und so die individuelle Freiheit reglementieren und ersticken, sondern er ist das Ganze dieser Sphären; dieses ganze Leben seiner Bürger, sei es auf welchen Gebieten, als Wollen, Denken und Schaffen ist eingegliedert in diesen Staat, der also nicht bloß ein beherrschender Apparat oder ein Inbegriff rechtlicher In- stitutionen, geschweige denn ein bloßer Inbegriff von Rechts- normen, sondern das ganze natürliche, geistige, sittliche Leben seiner Bürger in ihrer Gesamtheit ist. Deshalb, weil er die Wirklichkeit und Vollständigkeit dieses Lebens ist, gibt es keine Freiheit außer dem Staate und ohne den Staat; es gibt ja auch kein individuelles Leben außer der Gemeinschaft. Und so be- deutet der Satz, zu dem die Rechtsphilosophie Hegels schließ- lich zurückkehrt, daß der Staat die Wirklichkeit der Freiheit, die Freiheit an und für sich ist, nicht etwa eine bloße „Idee“, und ebensowenig eine bloße Forderung an die Einsicht und die Gesinnung der Menschen. Ein aus allen sozialen und staat- lichen Bindungen herausgelöstcs Individualleben ist eine bloße Fiktion, niemals Wirklichkeit, auch nicht in Robinson auf seiner Insel, und so ist Freiheit, Sittlichkeit, Kultur nur mög- lich im Staat und durch den Staat und als Staat. Der Staat als die Wirklichkeit der Freiheit: kein Idealzustand, auch kein bloßes politisches Programm, sondern die ruhige, nüchterne Erfassung des Wesens, das der Geist des Denkers begreift, weil es sein eigenes Wesen ist.