Текст
                    Vorbemerkung
Vor fünfzig Jahren, am 14. März 1883, ist Karl Marx, der geniale
Begründer des wissenschaftlichen (oder modernen) Kommunismus,
gestorben. Seit jenem Tag ist nicht mehr als ein halbes Jahrhundert
vergangen. Doch in diesem halben Jahrhundert hat der revolutio¬
näre Marxismus Millionen und aber Millionen Proletarier unter
meinem Banner gesammelt. Der große Forttuhrer der Sache von
Marx, Lenin, hat Marxens revolutionäre Lehre auf eine höhere histo¬
rische Stufe gehoben. Geführt von Lenin haben die Bolschewiki zum
ersten Male in der Geschichte die Diktatur des Proletariats verwirk¬
licht, die Marx wissenschaftlich vorhergesehen und begründet hatte.
Schon ist auf dem gewaltigen Territorium des ehemaligen Zaren¬
reiches das Fundament der sozialistischen Gesellschaft errichtet. Die
Ud^ R. hat für immer die Bahn des Sozialismus beschritten. Unter
der Führung des besten Marxisten-Leninisten, des Genossen Stalin,
kämpfen die Bolschewiki aller Länder heldenhaft um den Sieg des
Kommunismus in der ganzen Welt.
Untrennbar ist mit dem Namen Marx der Name Friedrich Engels
verknüpft. Marx und Engels haben gemeinsam die revolutionäre
Theorie des proletarischen Befreiungskampfes geschaffen. Jahr¬
zehntelang haben sie Schulter an Schulter unversöhnlich für die
Sache der Arbeiterklasse gegen die „gelehrten“ Knechte der Bour¬
geoisie gekämpft, gegen die kleinbürgerlichen „Sozialisten“, gegen
die Opportunisten von rechts und von „links“. Marx und Engels
haben den Grundstein zur kommunistischen Weltpartei gelegt.
„Alte Sagen“, schrieb Lenin, „berichten über, verschiedene rüh¬
rende Beispiele von Freundschaft. Das europäische Proletariat darf
sich rühmen, daß seine Wissenschaft von zwei Gelehrten und Kämp¬
fern geschaffen worden ist, deren Bund alle, auch die rührendsten
Sagen der Alten von der menschlichen Freundschaft in den Schatten
stellt... Grenzenlos wie Engels’ Liebe für den lebenden Marx, war
seine Ehrfurcht vor dem Andenken des Verstorbenen. Dieser harte
Kämpfer und strenge Denker hatte eine tiefliebende Seele.“ Darum
war der Tod von Marx für Engels ein erschütternder Schlag. Doch
wich er diesem Schlag nicht aus, sondern begegnete ihm mannhaft,
wie es einem wirklichen Revolutionär, einem Mitkämpfer und
B


Freund *des großen Marx ziemt. Engels trug die Fahne des inter¬ nationalen Kommunismus aufrecht weiter, und kein einziges Mal erzitterte sie in seinen Händen. ln der vorliegenden Broschüre sind die Briefe von Engels ge¬ sammelt, die er am 14. und 15. März 1883 unter dem unmittelbaren Eindruck des Todes von Marx geschrieben hat. Statt eines Vor¬ wortes ist die Grabrede von Engels beigegeben; im Anhang ist der Artikel von Engels „Zum Tode von Karl Marx“ abgedruckt. Erfüllt von echter Trauer und zugleich von jenem wirklichen Mut, der sich keinen Augenblick der Verzweiflung hingibt und den großen Auf¬ gaben des künftigen Kampfes fest ins Auge sieht, sind diese spär¬ lichen Zeilen von Engels der schönste Kranz auf das Grab unseres großen Führers Karl Marx. Marx-Engels-Institut beim ZK der KPdSU (B). 4
Friedrich Engeis Rede am Grabe von Karl Marx. (Gehalten in Highgate am 17. März 1883) Am 14. März, nachmittags ein Viertel vor drei, hat der größte lebende Denker aufgehört, zu denken. Kaum zwei Minuten allein gelassen, fanden wir ihn beim Eintreten in seinem Sessel ruhig entschlummert — aber für immer. Was das streitbare europäische und amerikanische Proletariat, was die historische Wissenschaft an diesem Mann verloren haben, das ist gar nicht zu ermessen. Bald genug wird sich die Lücke fühl¬ bar machen, die der Tod dieses Gewaltigen gerissen hat. Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Ge¬ schichte: die bisher unter ideologischen Ueberwucherungen verdeckte einfache Tatsache, daß die Menschen vor allen Dingen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, ehe sie Politik, Wissen¬ schaft, Kunst, Religion usw. treiben können; daß also die Produk¬ tion der unmittelbaren materiellen Lebensmittel und damit die jedes¬ malige ökonomische Entwicklungsstufe eines Volkes oder eines Zeit¬ abschnittes die Grundlage bildet, aus der sich die Staatseinrich¬ tungen, die Rechtsanschauungen, die Kunst und selbst die religiösen Vorstellungen der betreffenden Menschen entwickelt haben, und aus der sie daher auch erklärt werden müssen — nicht, wie bisher ge¬ schehen, umgekehrt. Damit nicht genug. Marx entdeckte auch das spezielle Bewegungs¬ gesetz der heutigen kapitalistischen Produktionsweise und der von ihr erzeugten bürgerlichen Gesellschaft. Mit der Entdeckung des Mehr¬ werts war hier plötzlich Licht geschaffen, während alle früheren Untersuchungen, sowohl der bürgerlichen Oekonomen wie der sozia¬ listischen Kritiker, im Dunkel sich verirrt hatten. Zwei solche Entdeckungen sollten für ein Leben genügen. Glück¬ lich schon der, dem es vergönnt ist, nur eine solche zu machen. Aber auf jedem einzelnen Gebiet, das Marx der Untersuchung unter¬ warf — und dieser Gebiete waren sehr viele und keines hat er bloß §
flüchtig berührt — auf jedem, selbst auf dem der Mathematik, hat er selbständige Entdeckungen gemacht. So war der Mann der Wissenschaft. Aber das war noch lange nicht der halbe Mann. Die Wissenschaft war für Marx eine ge schichtlich bewegende, eine revolutionäre Kraft. So reine Freude er haben konnte an einer neuen Entdeckung in irgend einer theore¬ tischen Wissenschaft, deren praktische Anwendung vielleicht noch gar nicht abzusehen, — eine ganz andere Freude empfand er, wenn es sich um eine Entdeckung handelte, die sofort revolutionär ein* griff in die Industrie, in die geschichtliche Entwicklung überhaupt. So hat er die Entwicklung der Entdeckungen auf dem Gebiete der Elektrizität und zuletzt noch die von Marc Deprez1, genau verfolgt. Denn Marx war vor allem Revolutionär. Mitzuwirken, in dieser oder jener Weise, am Sturz der kapitalistischen Gesellschaft und der durch sie geschaffenen Staatseinrichtungen, mitzuwirken an der Be¬ freiung des modernen Proletariats, dem er zuerst das Bewußtsein seiner eigenen Lage und seiner Bedürfnisse, das Bewußtsein der Be¬ dingungen seiner Emanzipation gegeben hatte — das war sein wirk¬ licher Lebensberuf. Der Kampf war sein Element. Und er hat ge¬ kämpft mit einer .Leidenschaft, einer Zähigkeit, einem. Erfolg wie wenige. Erste Rheinische Zeitung 1842, Pariser Vorwärts 1844. Brüsseler Deutsche Zeitung 1847, Neue Rheinische Zeitung 1848-49 New-York Tribüne 1852 bis 1861 — dazu Kampfbroschüren clie Menge, Arbeit in Vereinen in Paris, Brüssel und London, bis endlich die große Internationale Arbeiterassoziation als Krönung des Ganzen entstand — wahrlich, das war wieder ein Resultat, worauf sein Ur¬ heber stolz sein konnte, hätte er sonst auch nichts geleistet. Und deswegen war Marx der bestgehaßte und bestverleumdete Mann seiner Zeit. Regierungen, absolute wie republikanische, wiesen ihn aus, Bourgeois, Konservative wie Extrem-Demokratische, logen ihm um die Wette Verlästerungen nach. Er schob das alles bei Seite, wie Spinnweb, achtete dessen nicht, antwortete nur, wenn äußerster Zwang da war. Und er ist gestorben, verehrt, geliebt, betrauert von Millionen revolutionärer Mitarbeiter, die von den sibirischen Bergwerken an über ganz Europa und Amerika bis Kalifornien hin wohnen, und ich kann es kühn sagen: er mochte noch manchen Gegner haben, aber kaum noch einen persönlichen Feind. Sein Name wird durch die Jahrhunderte fortleben und so aüch sein Werkl Erschienen im Züricher „Sozialdemokrat“, Nr. 13, vom 22. März 1883. 6
Telegramm Engels’ an F. A. Sorge3 London, 14. März 1883. MARX HEUTE GESTORBEN ENGELS. Engels an W. Liebknecht3 c London, 14. März 1883. Lieber Liebknecht! Mein Telegramm an Frau B.4 — die einzige Adresse, die ich habe — wird Euch mitgeteilt haben, welchen furchtbaren Verlust die europäische sozialistisch-revolutionäre Partei erlitten hat. Noch vorigen Freitag hatte uns der Arzt gesagt — einer der ersten Londons —, es sei alle Aussicht da, ihn wieder so gesund zu machen, wie je vorher, sobald nur die Kräfte durch Nahrung aufrecht zu halten. Und gerade seitdem fing er wieder an, mit mehr Appetit zu essen. Da, heute Mittag nach zwei Uhr, fand ich das Haus in Tränen, er sei furchtbar schwach; Lenchen5 rief mich, heraufzukommen, er sei halb im Schlaf, und als ich heraufkam — sie hatte das Zimmer keine zwei Minuten verlassen —, war er ganz im Schlaf, aber im ewigen. Der größte Kopf der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts hatte auf¬ gehört zu denken. Ueber die unmittelbare Todesursache erlaube ich mir ohne medizinischen Rat kein Urteil, und der ganze Fall war so verwickelt, daß es Bogen erfordern würde, selbst von Medizinern ihn gehörig beschrieben zu bekommen. Das ist jetzt am Ende auch nicht mehr so wichtig. Ich habe die letzten sechs Wochen Angst genug ausgestanden, und kann nur sagen, daß nach meiner Ansicht erst der Tod seiner Frau und dann, in einer sehr kritischen Periode, der von Jenny6, das ihrige getan haben, die Schlußkrisis herbei- führen zu helfen. Trotzdem ich ihn heut Abend in seinem Bett ausgestreckt ge¬ sehen, die Leichenstarre im Gesicht, kann ich mir doch gar nicht denken, daß dieser geniale Kopf aufgehört haben soll, mit seinen gewaltigen Gedanken die proletarische Bewegung beider Welten zu befruchten. Was wir alle sind, wir sind es durch ihn; und was die heutige Bewegung ist, sie ist es durch seine theoretische und prak¬ tische Tätigkeit; ohne ihn säßen wir immer noch im Unrat der Konfusion. Dein F. Engels. 7
Engels an Bernstein'in Zürich London, 14. März 1883. Lieber Bernstein! Mein Telegramm werden Sie erhalten haben. Die Sache trat furchtbar rasch ein. Nach den besten Aussichten plötzliches Zu¬ sammenbrechen der Kräfte heut Morgen, dann einfaches Ein¬ schlafen. In zwei Minuten hatte dieser geniale Kopf aufgehört zu denken, und zwar gerade zu c}er Zeit, wo wir die besten Aussichten zu haben von den Aerzten ermutigt waren. Was dieser Mann uns theoretisch und in allen entscheidenden Momenten auch praktisch wert war, davon kann man nur eine Vorstellung haben, wenn man fortwährend mit ihm zusammen war. Seine großen Gesichtspunkte werden mit ihm für jahrelang von der Bühne verschwinden. Das sind Dinge, denen wir andere nicht gewachsen sind. Die Bewegung geht ihren Gang, aber sie wird des ruhigen, rechtzeitigen, über¬ legenen Eingreifens entbehren, das ihr bisher manchen langwierigen Irrweg erspart hat. Weiteres nächstens. Es ist jetzt 12 Uhr nachts, und ich habe den ganzen Nachmittag und Abend Briefe schreiben und allerhand Dingen nachlaufen müssen. Ihr Fr. Engels. Engels an Becker8 London, 15. März 1883. Lieber Alter! Freue Dich, daß Du Marx noch im vorigen Herbst sähest, Du siehst ihn nie wieder. Gestern nachmittag 2.45, kaum zwei Minuten allein gelassen, fanden wir ihn sanft entschlafen im Sessel. Der ge¬ waltigste Kopf unserer Partei hatte aufgehört zu denken, das stärkste Herz, das ich je gekannt, hatte ausgeschlagen. Es war wahrschein¬ lich innere Verblutung eingetreten. Wir zwei sind nun so ziemlich die letzten der alten Garde von vor 1848. Nun gut, wir bleiben auf der Bresche. Die Kugeln pfeifen, die Freunde fallen, aber das sehen wir zwei nicht zum erstenmal. Und wenn einen von uns die Kugel trifft, — ’s ist auch gut so, wenn sie nur ordentlich sitzt, daß man nicht lange zappelt. Dein alter Kriegskamerad Fr. E. 8
Engels an F. A. Sorge In Hoboken London, 15. März 83. 11.45 abends. Lieber Sorgel Dein Telegramm kani heute Abend an. Herzlichen Dank. Dir über Marx’s Befinden regelmäßig zu berichten, war unmög¬ lich wegen der ewigen Wechselfälle. Hier in Kurzem die Haupt¬ sache. Kurz vor dem Tode seiner Frau bekam er Oktober, 81, eine Pleu- risy. Davon hergestellt, wurde er im Februar 82 nach Algier ge¬ schickt, hatte kaltes, nasses Reisewetter, und kam mit einer neuen Pleurisy dort an. Das infame Wetter dauerte fort; als er eben kuriert, wurde er, der herannahenden Sommerhitze wegen, nach Monte Carlo (Monaco) geschickt. Kam wieder mit einer gelinderen Pleurisy an. Wieder infames Wetter. Endlich kuriert, ging er nach Argenteuil bei Paris zu seiner Tochter, Frau Longuet. Dort benutzte er gegen die alteingewurzelte Bronchitis die benachbarten Schwefel¬ quellen von Enghien. Auch da blieb das Wetter ganz abscheulich, doch half die Kur. Dann auf sechs Wochen nach Vevey, von wo er scheinbar fast gesund im September herkam. Man hatte ihm den Aufenthalt an der Südküste von England für den Winter erlaubt. Und er selbst war das tatlose Wanderleben so satt, daß neues Exil nach dem europäischen Süden ihm wahrscheinlich moralisch eben¬ soviel geschadet wie physisch genützt hätte. Als die Londoner Nebelzeit hereinbrach, schickte man ihn nach der Insel Wight. Dort regnete es in einem fort; neue Erkältung. Um Neujahr wollten Schorlemmer9 und ich ihn besuchen, da kamen Berichte, die Tussys Hinreise sofort nötig machten. Gleich darauf Jenny’s Tod — da kam er her mit einer neuen Bronchitis. Nach allem Vorhergegangenen und bei seinem Alter war das gefährlich. Eine Menge Komplika¬ tionen kamen hinzu, namentlich ein Lungengeschwür und enorm rascher Kräfteverlust. Trotzdem verlief die Gesamtkrankheit gün¬ stig, und vorigen Freitag noch machte uns der ihn en chef behan¬ delnde Arzt, einer der ersten jüngeren Aerzte Londons und ihm speziell von Ray Lancaster empfohlen, die brillantesten Hoffnungen. Aber wenn man nur einmal Lungengewebe unter dem Mikroskop untersucht hat, so weiß man, wie groß die Gefahr, daß bei Lungen¬ vereiterungen einmal eine Blutgefäßwand durchbrochen wird. Und deswegen hatte ich seit 6 Wochen jeden Morgen, wenn ich um die Ecke kam,.Todesangst, die Vorhänge möchten heruntergelassen sein. Gestern Mittag 2.30, seine beste Tagesbesuchszeit, kam ich hin — das Haus in Tränen, es scheine zu Ende zu gehen. Ich erkundigte g
mich, suchte der Sache auf den Grund zu kommen, zu trösten. Eine kleine Blutung, aber ein plötzliches Zusammensinken war einge¬ treten. Unser braves altes Lenchen, das ihn gepflegt, wie keine Mutter ihr Kind pflegt, ging herauf, kam herunter: er sei halb im Schlaf, ich möge mitkommen. Als wir eintraten, lag er da schlafend, aber um nicht mehr aufzuwachen. Puls und Atem waren fort. In den zwei Minuten war er ruhig und schmerzlos entschlummert. Alle mit Naturnotwendigkeit eintretenden Ereignisse tragen ihren Trost in sich, sie mögen noch so furchtbar sein. So auch hier. Die Doktorenkunst hätte ihm vielleicht noch auf einige Jahre eine vege¬ tierende Existenz sichern können, das Leben eines hilflosen, von den Aerzten zum Triumph ihrer Künste nicht plötzlich, sondern zollweise absterbenden Wesens. Das aber hätte unser Marx nie ausgehalten. Zu leben, mit den vielen unvollendeten Arbeiten vor sich, mit dem Tantalusgelüst, sie zu vollenden, und der Unmöglichkeit, es zu tun — das wäre ihm tausendmal bitterer gewesen als der sanfte Tod, der ihn ereilt. „Der Tod ist kein Unglück für den, der stirbt, son¬ dern für den, der überlebt“, pflegte er mit Epikur10 zu sagen. Und diesen gewaltigen, genialen Mann als Ruine fortvegetieren zu sehen, zum größeren Ruhm der Medizin und zum Spott für die Philister, die er in seiner Vollkraft so oft zusammengeschmettert — nein, tausend¬ mal besser, wie es ist, tausendmal besser, wir tragen ihn übermorgen in das Grab, wo seine Frau schläft. Und nach dem, was vorangegangen, und was selbst die Doktoren nicht so gut kennen wie ich, war meiner Ansicht nach nur diese Wahl. Dem sei wie ihm wolle, die Menschheit ist um einen Kopf kürzer gemacht, und zwar um den bedeutendsten Kopf, den sie heutzutage hatte. Die Bewegung des Proletariats geht ihren Gang weiter, aber der Zentralpunkt ist dahin, zu dem Russen, Franzosen, Amerikaner, Deutsche in entscheidenden Augenblicken sich von selbst wandten, um jedesmal den klaren, unwidersprechlichen Rat zu erhalten, den nur das Genie und die vollendete Sachkenntnis geben konnte. Die Lokalgrößen und die kleinen Talente, wo nicht die Schwindler, be¬ kommen freie Hand. Der endliche Sieg bleibt sicher, aber die Um¬ wege, die temporären und lokalen Verirrungen — schon so unver¬ meidlich — werden jetzt ganz anders Anwachsen. Nun — wir müssen’s durchfressen, wozu anders sind wir da? Und die Courage verlieren wir darum noch lange nicht. Dein 10 F. Engels,
Engels an Friedrich Leßner11 London, 15.. März 1883. Lieber Leßner! Unser alter Marx ist gestern um drei Uhr sanft und ruhig für immer eingeschlafen, Todesursache war zunächst wahrscheinlich innere Blutung. Das Begräbnis findet statt Samstag um 12 Uhr und läßt Tussy1* Dich bitten, nicht auszubleiben. In großer Eile Dein F. Engels. n
ANHANG Friedrich Engels Zum Tode von Karl Marx# Es sind mir nachträglich noch einige Kundgebungen bei Gelegen¬ heit dieses Trauerfalles zugekommen, die beweisen, wie allgemein die Teilnahme war, und über die ich Rechenschaft abzulegen habe. Am 20. März erhielt Fräulein Eleonor Marx12 von der Redaktion der „Daily News“ folgendes Telegramm in französischer Sprache zugesandt: „M o s k a u , 18. März. Redaktion „Daily News“, London. Haben Sie die Güte, an Herrn Engels, den Verfasser der „arbeitenden Klassen in England“ und intimen Freund des verstorbenen Karl Marx, unsere Bitte zu übermitteln, er möge auf den Sarg des un¬ vergeßlichen Autors des „Kapital“ einen Kranz legen mit folgender Inschrift: „Dem Verteidiger der Rechte der Arbeiter in der Theorie und ihrer Verwirklichung im Leben, die Studenten der landwirtschaft¬ lichen Akademie von Petrowski in Moskau.“ „Herr Engels wird gebeten, seine Adresse und den Preis des Kranzes mitzuteilen; der Betrag wird ihm sofort übermittelt werden. Studenten der Akademie Petrowski in Moskau.“ Die Depesche war unter allen Umständen zu spät für das am 17. stattgefundene Begräbnis. Ferner sandte mir Freund P. L a w r o f f13 in Paris am 31. März eine Anweisung auf Fr. 124,50 gleich Pf. Stlg. 4.18.9, eingesandt von den Studenten des technologischen Instituts in Petersburg und von russischen studierenden Frauen, ebenfalls für einen Kranz auf das Grab von Karl Marx. Drittens hat der „Sozialdemokrat“ vorige Woche angezeigt, daß Odessaer Studenten ebenfalls einen Kranz auf Marx Grab in ihrem Namen niedergelegt wünschen. 12
Da nun das aus Petersburg erhaltene Geld reichlich für alle drei Kränze genügt, so habe ich mir erlaubt, auch den Moskauer und Odessaer Kranz daraus zu bestreiten. Die Anfertigung der In¬ schriften, hier eine ziemlich ungewohnte Sache, hat einige Ver¬ schleppung verursacht, doch wird die Niederlegung Anfangs nächster Woche slattfinden ul 1 werde ich alsdann im „Sozialdemokrat“ Rechnung über das erhaltene Geld ablegen können. Von Solingen kam durch den hiesigen Kommunistischen Arbeiterbildungsverein an uns ein schöner großer Kranz „auf das Grab von Karl Marx von den Arbeitern der Scheeren-, Messer- und Schwerter-Industrie in Solingen“. Als wir ihn am 24. März nieder¬ legten, fanden wir von den Kränzen vom „Sozialdemokrat“ und vom Kommunistischen Arbeiterbildungsverein die langen Enden der sei¬ denen roten Schleifen von grabschänderischer Hand abgeschnitten und gestohlen. Beschwerde beim Verwaltungsrat half nichts, wird aber wohl Schutz für die Zukunft schaffen. Ein slavischer Verein in der Schweiz „hofft, daß dem Andenken von Karl Marx durch Gründung eines seinen Namen führenden internationalen Fonds zur Unterstützung der Opfer des großen Emanzipationskampfes, sowie zur Förderung dieses Kampfes selbst, ein besonderes Erinnerungszeichen gesetzt werde“, und sendet einen ersten Beitrag ein, den ich einstweilen an mir behalten habe. Das Schicksal dieses Vorschlags hängt natürlich in erster Linie davon ab, ob er Anklang findet, und deshalb veröffentliche ich ihn hier. Um den in den Zeitungen umlaufenden falschen Gerüchten etwas Tatsächliches entgegenzusetzen, teile ich folgende kurze Einzelheiten mit über Krankheitsverlauf und Tod unseres großen theoretischen Führers. Von altem Leberleiden durch dreimalige Kur in Karlsbad fast ganz kuriert, litt Marx nur noch an chronischen Magenleiden und nervöser Abspannung, die sich in Kopfschmerz, zumeist aber in hart¬ näckiger Schlaflosigkeit äußerte. Beide Leiden verschwanden mehr oder weniger nach dem Besuch eines Seebades oder Luftkurortes im Sommer und traten erst nach Neujahr wieder störender an den Tag. Chronische Halsleiden, Husten, der ebenfalls zur Schlaflosigkeit bei¬ trug, und chronische Bronchitis störten im Ganzen weniger. Aber gerade hieran sollte er erliegen. Vier oder fünf Wochen vor dem Tode seiner Frau ergriff ihn plötzlich eine heftige Rippenfellentzün¬ dung (Pleuritis), verbunden mit Bronchitis und anfangender Lungen¬ entzündung (Pneumonie). Die Sache war sehr gefährlich, verlief aber gut. Er wurde dann zuerst nach der Insel Wight geschickt (Anfang 1882) und darauf nach Algier. Die Reise war kalt, und er 13
kam mit einer neuen Pleuritis in Algier an. Das hätte nicht so sehr viel ausgemacht unter Durchschnittsumständen. Aber Winter und Frühjahr waren in Algier kalt und regnerisch wie sonst nie, im April machte man vergebens Versuche, den Speisesaal zu heizen! So war Verschlimmerung des Gesamtzustandes, statt Verbesserung das Schlußresultat. Von Algier nach Monte Carlo (Monaco) geschickt, kam Marx in¬ folge naßkalter Ueberfahrt mit einer dritten, jedoch gelinderen, Pleuritis dort an. Dabei anhaltend schlechtes Wetter, das er speziell von Afrika mitgebracht zu haben schien. Also auch hier Kampf mit neuer Krankheit statt Stärkung. Gegen Sommers Anfang ging er zu seiner Tochter Frau Longuet in Argenteuil, und benutzte von da aus die Schwefelbäder des benachbarten Enghien gegen seine chronische Bronchitis' Trotz des andauernd nassen Sommers gelang die Kur, zwar langsam, aber doch zur Zufriedenheit der Aerzte. Diese schick¬ ten ihn nun nach Vevey am Genfer See, und dort erholte er sich am meisten, so daß man ihm den Winteraufenthalt, zwar nicht in Lon¬ don, aber doch an der englischen Südküste erlaubte. Hier wollte er dann endlich seine Arbeiten wieder beginnen. Als er im September nach London kam, sah er gesund aus und erstieg den Hügel von Hampstead (zirka 300 Fuß höher als seine Wohnung) oft mit mir ohne Beschwerde. Als die Novembernebel drohten, wurde er nach Ventnor, der Südspitze der Insel Wight, geschickt. Sofort wieder nasses Wetter und Nebel; notwendige Folge: erneuerte Erkältung, Husten usw., kurz, schwächender Stubenarrest statt stärkender Be¬ wegung in freier Luft. Da starb Frau Longuet. Am nächsten Tage (12. Januar) kam Marx nach London, und zwar mit entschiedener Bronchitis. Bald gesellte sich dazu eine Kehlkopfentzündung, die ihm das Schlucken fast unmöglich machte. Er, der die größten Schmerzen mit dem stoischsten Gleichmut zu ertragen wußte, trank lieber einen Liter Milch (die ihm sein Lebetag ein Greuel gewesen), als daß er die entsprechende feste Nahrung verzehrte. Im Februar entwickelte sich ein Geschwür in der Lunge. Die Arzneien versagten jede Wirkung auf diesen seit fünfzehn Monaten mit Medizin über¬ füllten Körper: was sie bewirkten, war höchstens Schwächung des Appetits und der Verdauungstätigkeit. Er magerte sichtbar ab, fast von Tag zu Tag. Trotzdem verlief die Gesamtkrankheit verhältnis¬ mäßig günstig. Die Bronchitis war fast gehoben, das Schlucken würde leichter. Die Aerzte machten die besten Hoffnungen. Da finde ich — zwischen 2 und 3 war die beste Zeit, ihn zu sehen plötzlich das Haus in Tränen: er sei so schwach, es gehe wohl zu Ende. Und doch hatte er den Morgen noch Wein, Milch und Suppe mit Appetit genommen. Das alte treue Lenchcn Demulh, die alle 14
seine Kinder von der Wiege an erzogen und seit vierzig Jahmi im Hause ist, geht herauf zu ihm, kommt gleich herunter: „Kommm Sie mit, er ist halb im Schlaf.“ Als wir eintraten, war er ganz im Schlaf, aber für immer. Einen sanfteren Tod, als Karl Marx in seinem Armsessel fand, kann man sich nicht wünschen. Und nun zum Schluß noch eine gute Nachricht: Das Manuskript zum zweiten Band des „Kapital“ ist voll¬ ständig erhalten. Wie weit es in der vorliegenden Form druck¬ fähig ist, kann ich noch nicht beurteilen, es sind über 1000 Seiten Folio. Aber „der Zirkulationsprozeß des Kapitals“, wie „die Gestal¬ tungen des Gesamtprozesses“ sind in einer Bearbeitung abge¬ schlossen, die den Jahren 1867-70 angehört. Der Anfang einer späteren Bearbeitung liegt vor, sowie reiches Material in kritischen Auszügen, besonders über russische Grundeigentumsverhältriisse, woraus vielleicht noch Manches benutzbar wird. Durch mündliche Verfügung hat er seine jüngste Tochter Eleonor und mich zu seinen literarischen Exekutoren ernannt. London, 28. April 1883. Friedrich Engels, Erschienen im Züricher „Sozialdemokrat“, Nr. 19, vom 3. Mai 1883. \ 15
ANMERKUNGEN * Deprez — Marcel (1843—1918) — Französischer Ingenieur und Mathe¬ matiker, Autor der ersten Versuche einer Uebertragung elektrischer Energie auf größere Entfernung. 2 Sorge — Friedrich Anton (1828—1906) — Deutscher Kommunist; war in den Vereinigten Staaten von Nordamerika einer der Leiter der dortigen Sektion der L Internationale. Nachdem der Generalrat der Internationale nach New York verlegt worden ist, war er Generalsekretär der Internationale. Stand in stän¬ digem Briefwechsel mit Marx und Engels. 3 Liebknecht — Wilhelm (1826—1900) — Einer der Begründer und Führer der deutschen Sozialdemokratie. 4 Bebel — Julia (1843—1910) — Frau des Führers der deutschen Sozial¬ demokratie, August Bebel (1840—1913). 5 Lenchen — Helene Demuth (1823—1890) — Hausangestellte der Familie Marx seit 1837; war der beste und treueste Freund der Familie. 6 L'onguet — Jenny (1844—1883) — Die älteste Tochter von Marx, Frau des französischen Sozialisten Charles Longuet. 7 Bernstein — Eduard (1850—1932) — Deutscher Sozialdemokrat, war 1880^-1890 Redakteur der deutschen Zeitung „Sozialdemokrat“; nach dem Tode von Engels verriet er offen den Marxismus und wurde zum Haupttbeoretiker des Reformismus. 8 Becker — Johann Philipp (1809—1886) — Deutscher Kommunist, Veteran der deutschen Revolution von 1848—1849; war in der Emigration in Genf einer der Organisatoren und aktiven Teilnehmer der I. Internationale. p Schorlemmer — Karl (1834—1892) — Deutscher Kommunist, Pro¬ fessor der Chemie in Manchester, Freund von Friedrich Engels. 10 E p i k u r (341—270 v. u. Z.) — Griechischer Philosoph, Materialist. 11 Leßner — Friedrich (1825—1910) — Deutscher Kommunist, Schneider, Mitglied des Generalrats der I. Internationale. 12 T u s s y — Eleonor Marx (1856—1898) — Die jüngste Tochter von Marx, aktive Teilnehmerin der englischen Arbeiterbewegung. 13 La wroff — Peter Lawrowilsch (1823—1900) — Russischer Revolutionär, Narodnik, Mitglied der I. Internationale.