Текст
                    Kunsthistorische Arbeiten
der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenenen
Band 7
Gerhard Eimer, Ernst Gierlich, Matthias Müller,
Kazimierz Pospieszny (Hg.)
TERRA SANCTAE MARIAE
Mittelalterliche Bildwerke der Marienverehrung
im Deutschordensland Preußen
Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich Umschlagbild: Danzig/Gdarisk, Marienkirche, Schöne Madonna des Priesterbruderschaftsaltars, um 1400, Foto: Juliusz Raczkowski Gedruckt mit Unterstützung des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien © 2009 Kultursliftung der deutschen Vertriebenen Kaiserstraße 113, 53113 Bonn ISBN 978-3-88557-227-5
Inhalt Ernst Gierlich: Terra sanctae Mariae - Das Deutschordensland als Marienland 7 Gerhard Eimer: Ingress 11 I. Weitsicht und Marienverehrung im Deutschen Orden Stefan Kwiatkowski: Gott, Mensch und Welt in der Sicht der Deutschordensritter 15 Udo Arnold: Maria als Patronin des Deutschen Ordens im Mittelalter 29 Waldemar Rozynkowski: Der Marienkult in den Kapellen der Deutschordenshäuser in Preußen im Lichte der Inventarbücher 57 II. Burgen und Kirchen als Orte der Marienverehrung Kazimierz Pospieszny: Marienburg - castrum et civitas unter Mariens Schutzmantel 71 Albert Boesten-Stengel: Die Marienburger Schlosskirche als Jerusalem-Imagination - Zur Ikonographie der Annen-Kapelle und der Mosaikmadonna 81 Liliana Krantz-Domaslowska: Der „Mariencharaktcr“ des Doms zu Marienwerder - Ein vereinzeltes Beispiel? 101 Juliusz Raczkowski: Die Marien-Aussage der Chorausstattung des Doms zu Königsberg/Pr. vor dem Hintergrund der Ideologie des Deutschen Ordens in Preußen 119 III. Bildkonzepte der Marienverehrung und Marienpropaganda Barbara Dygdala-Klosinska: Die apokalyptische Gottesmutter als Propagandabild des Deutschen Ordens in Preußen 137 Sabine Jagodzinski: „knecht und frowe“ - Ordensritterliche Marienverehrung in der illustrierten Apokalypse Heinrichs von Hesler 155 Kathrin Wagner: Das „Defensorium inviolatae virginitatis beatae Mariae“ des Franz von Retz und seine bildliche Umsetzung am Pelpliner Chorgestühl 173 Tadeusz Jurkowlaniec: Straußeneier in Preußen - Ein Beitrag zur Erforschung der mittelalterlichen Marienikonographie 185 Henryk Paner/ Ewa Trawicka: Pilgrim badges depicting the Virgin Mary recovered from excavations in Gdansk 191 5
IV. Marienbildnisse im Deutschordensland Preußen Gudrun Radler: Die Schreinmadonnen des Deutschordenslandes Preußen 199 Anna Blazajewska: Ein unbekannter Pictätypus in der Kirche von Ostcrodc/Ostroda - Künstlerische Spuren der Spiritualität des Deutschen Ordens? 213 Monika Jakubek-Raczkowska: Die „Schönen Madonnen“ auf dem Gebiet des ehemaligen Deutschordensstaates Preußen - Ein Beitrag zum Problem der künstlerischen Tradition im späten Mittelalter 227 V. Wechselwirkungen und Ausstahlung Burkhard Kunkel: Die Stralsunder Junge-Madonna als Ebenbild der Schönen Madonna von Thorn - Überlegungen zur Herkunft und ihrer Beziehung aus Stralsunder Perspektive 257 Matthias Müller: Die hl. Elisabeth als das Bild einer neuen Maria - Die „Hauptkirche“ des Deutschen Ordens in Marburg und ihre künstlerische Ausgestaltung zu einem Ort konkurrierender Heiligenkulte 279 Peter Knuvener: Die Neumark als Teil der „Terra sanctac Mariae“ - Überlegungen zu künstlerischen Wechselwirkungen 303 Farbtafeln 321
Terra sanctae Mariae Das Deutschordensland als Marienland Aus der Ostnische der Schlosskirche der Marienburg gleichsam heraustretend, blickte vor ihrer Zerstörung am Ende des Zweiten Weltkrieges die riesige Figur der Gottesmutter mit weit geöffneten Augen über das Preußenland hinweg, bis hin zu den Heiden, deren Bekämpfung der Deutsche Orden gelobt hatte. Die halbplasti- sche, von goldschimmerndem und starkfarbigem Mosaik überzogene Madonna bildete den sinnfälligsten Ausdruck für das Patronat der Gottesmutter über den Deutschen Orden, der sich im Jahre 1190 als „Ordo domus Sanctae Mariae Theuto- nicorum lerosolimitanorum“ gegründet und 1309 die gewaltig ausgebaute Marien- burg als neue Residenz seines Hochmeisters gewählt hatte. So offenkundig bei der Marienburg an der Nogat und andernorts im Dcutsch- ordensland Preußen der Bezug auf die Ordenspatronin bis heute auch erscheint, stets ist kaum zu entscheiden, ob es sich bei den einzelnen Darstellungen und Benennungen um den Ausdruck allgemeiner christlicher Verehrung der Gottes- mutter oder um einen solchen der Repräsentation und der spezifischen Spiritualität des Deutschen Ordens handelt. Diese Unsicherheit hat bislang die Forscher - Historiker wie Kunsthistoriker - davon abgehalten, Maria als Ordenspatronin in gleicher Weise in den Blick zu nehmen, wie dies längst mit den Nebenpatronen, der hl. Elisabeth und dem hl. Georg, geschehen ist. Gleichwohl unternahm gerade dies eine internationale Fachtagung unter dem Titel „Terra sanctae Mariae - Mittelalterliche Bildwerke der Maricnvcrchrung im Dcutschordensland Preußen“, welche die Kulturstiftung der deutschen Vertrie- benen gemeinsam mit dem Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Nicolaus-Copcr- nicus-Univcrsität Thorn/Torun vom 21. bis 24. Juni 2007 in Thorn an der Weich- sel veranstaltete. Historiker und Kunsthistoriker aus Polen und Deutschland wid- meten sich der Erhellung des für das Verständnis des preußischen Dcutschordcns- staates wesentlichen Merkmals des Marienpatronats. Die wissenschaftliche Vor- bereitung und die Leitung der Veranstaltung hatten Prof. Dr. Dr. Gerhard Eimer, Kopenhagen, Prof. Dr. Matthias Müller, Mainz, und Dr. Kazimierz Pospicszny, Thorn/Torun, übernommen. Grundlegendes zur Funktion der Gottesmutter als Patronin des Ordens bot an- hand chronikalischer und urkundlicher Quellen sowie zahlreicher Beispiele für Maricndarstellungcn als offizielle Herrschaftszeichen Prof. Dr. Udo Arnold, Bad Münstereifel. Bisweilen erwies sich hierbei der Bezug auf die Patronin auch weni- ger augenfällig, wie etwa bei einer bildlichen Darstellung des mit Wappcnschildcn des Deutschen Ordens behängten, als Symbol für Maria zu deutenden wehrhaften „Turms Davids“. Anhand erhaltener Inventare der Konvcntskapcllcn machte Dr. Waidemai* Rozynkowski, Thorn/Torun, deutlich, wie sehr die Maricnverehrung bis in die Einzelheiten der Gestaltung des liturgischen und profanen Alltags der Or- densangchörigcn in den Konventhäusern hineinwirkte. In besonderem Maße galt dies für die Marienburg als Hochmeisterrcsidcnz, die in ihrer Anlage den Geist des Ordens für Bewohner und Besucher zu repräsentie- ren hatte. Der Mosaikmadonna in der Ostnische der Schlosskirche kam dabei, so Dr. Kazimierz Pospieszny, Marienburg/Malbork, sogar eine als ganz konkret Terra sanctae Mariae 7
empfundene Schutzfunktion für Burg und Stadt zu. Die Deutung dieser monumenta- len Skulptur, um die sich bereits etliche Forschergenerationen bemüht haben, stand im Mittelpunkt gleich mehrerer Beiträge der Tagung. Ihre Einzigartigkeit beruht in kunsthistorischer Sicht, wie Prof. Dr. Dr. Gerhard Eimer, Kopenhagen, darlegte, u.a. darin, dass kein weiteres Beispiel für eine mit Glasmosaik farbig gefasste Monu- mentalplastik in Antike oder Mittelalter bekannt ist. Neben der Mosaikmadonna zeigen weitere Beispiele aus dem Ordensland, dass man sich hier auf die Mosaik- kunst verstand, vielleicht vermittelt durch im Mittelmeerraum wirkende Ordensan- gehörige. Möglicherweise reichen die zu berücksichtigenden Verbindungen aber noch weiter bis zu den hl. Stätten in Palästina, wie Prof. Dr. Albert Bocstcn-Stengel, Würzburg, darlegtc. Wurde mit der Mosaikmadonna die besondere Stellung Marias als Patronin des Ordens betont, so machte Prof. Dr. Matthias Müller, Mainz, am Beispiel der Marburger Elisabcthkirchc deutlich, dass der Orden es verstand, mit der hl. Elisabeth in den Kult der Hauptpatronin Maria weitere, potentiell konkurrierende Patrone zu integrieren und diese Integrationsleistung nicht zuletzt durch die Argu- mentationskraft der Bilder abzusichern. Die intellektuelle Subtilität, die in der Marburger Elisabethkirche und in der Marienburger Schlosskirche als den ranghöchsten und künstlerisch bedeutendsten Kirchen des Deutschen Ordens aufscheint, dürfte allerdings kaum für die Masse der in den preußischen Konventsburgen dienenden, theologisch wenig gebildeten Ordensangchörigen kennzeichnend gewesen sein. Wie Prof. Dr. Stefan Kwiat- kowski, Thorn/Toruh, ausführtc, erforderte die brutale Wirklichkeit des Heiden- kamples im Prcußenland ein einfaches, geradezu dualistisches Weltbild augusti- nisch-neuplatonischer Tradition. Bezeichnend ist dabei für das Dcutschordensland die Beliebtheit von der Apokalypse des Johannes entnommenen Bildern, unter denen auch das Mariens als vom siebenköpfigen Drachen bedrohte, über diesen jedoch letztlich triumphierende „Apokalyptische Frau“ zu finden ist - ein Motiv, das Barbara Dygdala-Klosihska, Thorn, in ihrem Vortrag geradezu als Propagan- dabild des Deutschen Ordens herausstellte. Ebenfalls in endzeitlichem Zusam- menhang tritt Maria auf als von Gott Gekrönte, der sich der Deutschordensritter nicht nur in allgemeiner Verehrung, sondern in innigem Minne-Verhältnis von „knecht und frouwe“ zuwendet, worauf Sabine Vogt-Jagodzinski, Berlin, hinwies. Weniger Maricndarstelhingen gängiger Art galt es in den Blick zu nehmen, als vielmehr Besonderheiten, wie sic etwa Dr. Gudrun Radler, Königstein, mit den ordensländischen „Schrcinmadonncn“ herausgearbeitet hatte. Hierzu gehörte auch die bildliche Umsetzung des „Dcfcnsorium inviolatae virginitatis bcatac Mariae“, einer Schrift volksbildendcn Charakters der Zeit um 1400 am Chorgestühl der Klosterkirche zu Pelplin. Tier-Allegorien dienten hier dazu, wie Kathrin Wagner, Berlin, ausführte, die jungfräuliche Mutterschaft Mariens belegen. Gleiches gilt für die mancherorts, etwa als Schlussstein in der Kühner Marienkirche, zu findenden Darstellungen von Straußen und Straußeneiern, die Dr. Tadeusz Jurkowlaniec, Warschau/Warszawa, vorführte: Wenn - so die mittelalterliche Erklärung - allein die Sonne die Eier des Vogel Strauß auszubrüten vermag, warum soll dann nicht als Werk der wahren Sonne die Jungfrau gebären? Eine Tagung zu Bildwerken der Marienvcrchrung in Thorn konnte indes nicht umhin, sich mit der sog. „Schönen Madonna“, der seit 1945 verschollenen Mariens- tatuc der Thorncr St. Johanniskirchc, zu beschäftigen. Dr. Monika Jakubek-Racz- kowska, Thorn/Toruh, erläuterte Form und Funktion der „Schönen Madonnen“ 8 Ernst Gierlich
des sog. „Weichen Stils“ des 14. Jahrhunderts. Dass dieser Typus weiter nach Wes- ten ausstrahlte, zeigte Dr. Burkhard Kunkel, Stralsund, der mit der Stralsunder „Jun- ge-Madonna“ gleichsam ein hölzernes Ebenbild der steinernen Thorner Madonna vorweisen konnte. Die ganze Bandbreite der Ausdrucksmöglichkeiten plastischen Marienbildwerke des Deutschordenslandes demonstrierte ergänzend Dr. Anna Blazejwska, Thorn/Toruri, mit der aus der selben Zeit stammenden Pieta von Oste- rode/Oströda, einer alles andere als lieblich wirkenden, im Geist spätmittelalterli- cher Passionsfrömmigkeit geschaffenen Darstellung. Kann Maria gemäß theologischer Deutung als Urbild der Kirche gelten, so umgekehrt der konkrete Kirchenraum als Versinnbildlichung der Gottesmutter. Auf diese Zusammenhänge verwiesen mehrere Vortragende, so Dr. Liliana Krantz-Domastowska, Posen/Poznah, die den „Maricncharakter“ der Domkirche zu Marienwerder anhand von Architektur und Ausstattungsstücken demonstrierte, und Dr. Juliusz Raczkowski, Thorn/Toruri, der die Chorverzierungen des Doms zu Königsberg, insbesondere den Apostelzyklus, in diesem Sinne interpretierte. Einen Ausblick auf die Neumark als ein nur kurzeitig zum Deutschordensland gehörendes und daher in diesem Zusammenhang bislang kaum behandeltes Gebiet gab abschließend Peter Knüvener, Berlin. Immerhin reichten die wenigen Jahr- zehnte in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts aus, um eine Reihe von künst- lerischen Wechselwirkungen mit dem übrigen Deutschordensland zu ermöglichen. Wenn auch die über der gesamten Tagung stehende Frage, in wieweit die er- haltenen mittelalterlichen Bildwerke der Marienverehrung tatsächlich im Zusam- menhang mit dem Patronat der Gottesmutter über den Deutschen Orden stehen, für den Einzelfall nicht immer zu beantworten war, so erwies sich doch in der Zusammenschau das Deutschordensland als ganz wesentlich von der Marienver- ehrung geprägt, als wahre „Terra sanctae Mariae“. Dass man in den lebhaften Diskussionen dringenden weiteren Forschungsbedarf konstatierte, ist gewiss nicht das schlechteste Ergebnis einer wissenschaftlichen Fachtagung. Die Beiträge der Tagung liegen in diesem Band nunmehr in gedruckter Form vor. Im Namen der Herausgeber Dr. Ernst Gierlich Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn Terra sanctae Mariae 9
Ingress Gerhard Eimer Spirituelle Strömungen im Deutschen Orden waren lange Zeit kein Thema mehr und wurden hoffnungslos abgewertet. Ihre sonderbare Ikonographie entzog sich deshalb dem näheren Verständnis. Das Fach ging inzwischen andere Wege: Wilhelm Pinders Formalanalyse bas- telte an einem Netz von Bezugspunkten („Weicher Stil“) und suchte mit ihrer großen Schülerschar in den letzten Jahren des NS-Staates die komparative Metho- de in der Stilgeschichte fest zu verankern. Vor Kriegsende konnte noch der zweite Band von Karl Clasens „Die mittel- alterliche Bildhauerkunst im Deutschordensland Preußen“ in Königsberg ausgelic- fert werden, dessen Bildtafeln auch heute auf dem Arbeitsfeld, das bis dahin we- nig erschlossen gewesen war, eine unersetzliche Grundlage bieten, da viele Objek- te nicht mehr existieren. Im Gefolge der Ost-West-Wanderung der Institute fuhr man anschließend in Greifswald in derselben Richtung fort, doch fehlte zunächst die nötige Kenntnis über die Mystik im Orden, denn die Editoren (Stachnik, Stasiewski, Westphal) waren noch voll mit der Herausgabe der Texte beschäftigt. Fachfremde Einflüsse konnten mehrere aussichtsreiche Vorhaben blockieren. Man drohte schließlich vollends ins Abseits zu versinken. Clasen geriet mitten in den Widerspruch der Schulrichtungen. 1974/1976 war es soweit, dass er seine letzte Fassung der „Schönen Madonna“ vorlegen konnte und seine Theorie vom „Wandermeister“ zur Diskussion stellte. Die Konfrontation kam unmittelbar und explosiv in Gestalt einer Ausstellung im Frankfurter Lie- bieghaus. Den begleitenden Kommentaren schein die „formsoziologische Zuord- nung“ der Bildwerke als das wichtigste Arbeitsprinzip. Das „Formwollen“ über- schneidet sich nach Ansicht der Mitarbeiter mit dem „Sozialwollcn“ soweit man sich die Sprache der Achtundsechziger aneignen will. Die mehr noch als bei den Mendikanten durch ihr religiöses Umfeld im Deutschen Orden geprägten Bild- werke, deren künstlerische Qualität nicht infrage gestellt werden konnte, wurden somit ihrer Herkunft nach relativiert, ihre kunstgeographische Zuordnung auf den Kopf gestellt. Währenddessen waren die meisten polnischen Kollegen noch voll mit den An- forderungen der zahlreichen eiligen Rettungs- und Wiederherstcllungsaufgabcn der Nachkriegszeit beschäftigt, welche vielfach auf ad hoc-Entscheidungen hin- ausliefen. Die aus dieser Richtung kommenden Impulse haben auch ohne Zweifel auf die theoretische Forschung eingewirkt mit ihrem starken Zug zur Versachli- chung, die sich global überall im Fach bemerkbar macht. Jan Bialostockis Ruf von 1983 nach Partizipation junger deutscher Kunsthistoriker konnte erst zwanzig Jahre später zum Zuge kommen. Wichtig erscheint heute die Einführung Jüngerer in das Arbeitsfeld. Ingress 11
Abb.: Marienburg, Schlosskirche, Vorkriegsaufnahme, Archiv Foto Marburg Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag von Prof. Dr. Dr. Gerhard Eimer, in dem die monumentale Madonnenfigur der Schlosskirche der Marienburg mit den Hochmeistergräbern in der darunter gelegenen Annenkapelle in Beziehung gesetzt wird, würde den Rahmen dieses Ergebnisbandes sprengen. Er ist daher für eine gesonderte, monographische Publikation in dieser Reihe vorgesehen. 12 Gerhard Eimer
I. Weitsicht und Marienverehrung im Deutschen Orden
Gott, Mensch und Welt in der Sicht der Deutschordensritter Stefan Kwiatkowski 1. Grundlagen der Mentalität und der Spiritualität der Deutschordensritter Die Angehörigen des Deutschen Ordens in Preußen waren Kinder ihrer Zeit. Gleichwohl ist die Behauptung, ihr geistiger Horizont und ihre Denkweise seien typisch für das Mittelalter gewesen, wenig zufriedenstellend. Es gilt vielmehr die Frage zu beantworten, was in dieser Hinsicht bei ihnen allgemein und was spezi- fisch war. Darauf beruht das Wesen detaillierter Forschung zur religiösen, mentalen und ideellen Ausstattung der Deutschordensritter wie auch zu den Gegenständen, mit denen sie sich umgaben: zu Architektur, Kirchenausstattung, Lektüre oder Ausrüstung. Das religiöse Bewusstsein und die Spiritualität der Ordensmitglicder hoben sich deutlich von dem der weltlichen Menschen zu jener Zeit ab. Dasselbe lässt sich in Bezug auf ihre Auffassungen zu Macht und Politik feststcllen. Kein ande- rer Stand - Ritter, Bauern, Stadtbürger - war in dieser Hinsicht den Ordensbrü- dern ebenbürtig. Dies ergab sich bereits aus dem alltäglichen Rhythmus des Or- denslebens, dessen unverzichtbarer Teil das Hören erbaulicher Texte während der Mahlzeiten war. Allgemein verbreitet muss auch die Kenntnis der Regeln der Ordensstatuten gewesen sein, die während der allwöchentlichen Kapitelversamm- lungen behandelt wurden. Die - vor allem protestantische - Geschichtsschreibung zog es vor, über den monastischen Charakter des Ordens hinweg zu schauen. Karol Görski stützte seine Kritik am Deutschen Orden auf eine umgekehrte Sichtweise: Er verglich diesen mit herkömmlichen Orden, was eine negative Beur- teilung implizierte. Zur Erkenntnislagc ist zu sagen, dass es zur Geschichte des Deutschen Ordens in Preußen einen beträchtlichen Bestand an Quellen gibt, dessen Auswertung sich vor allem auf die Analyse formaler Merkmale und sachlicher Aussagen be- schränkt. Geistige und ideelle Inhalte werden aber nicht rekonstruiert, vielmehr oft erst von den Historikern konstruiert. Aus diesem Grunde ist es riskant, nach der Antwort auf die Frage zu suchen, wie eigentlich die Deutschordensritter ihre Welt verstanden, wie sie sich Gott, den Menschen, die Beziehungen zwischen Gott und Schöpfung Vorsichten. Riskant ist es deswegen, weil ein solches Vorgehen von der klassischen Forschungsempirie weit entfernt ist. Als Beispiel kann man hier auf die Suche nach der sog. Machtideologie in den Architektur- und Kunstdenk- mälern sowie im schriftstellerischen Nachlass des Ordens verweisen. Es erhebt sich die Frage, warum wir heute noch so viel über die Deutschor- densritter aussagen können, die insgesamt doch keine sehr zahlreiche Gemein- schaft bildeten. Grundlage sind die historischen Hinterlassenschaften, also die Quellen. Die Schriftquellen bilden ein kompaktes und einheitliches Material, wo- bei unter Schriftquellen der Historiker natürlich zuvorderst die urkundlichen bzw. Gott, Mensch und Welt 15
archivalischen Quellen versteht. Neuerdings werden aber immer öfter auch litera- rische Quellen ausgewertet. Hierbei ist weniger wesentlich, ob die von den Deutschordensrittern ihren Mitbrüdern vorgelcsenen Werke auch von Dcutschor- dcnsangchörigen verfasst worden waren. Wichtiger ist vielmehr der Inhalt der Werke, welche die Grundlage für das Selbstverständnis des Deutschen Ordens bildeten. Für die Bedürfnisse des Ordens wurden so das „Speculum humanae salvationis“ und die - aus franziskanisch-staufischem Umfeld stammdende - „Apokalypse“ Heinrichs von Heslcr adaptiert, ferner das „Passional“ und das „Väterbuch“ sowie die Marienepik. Erst auf Grund jener Adaption entstand die ordenscigenc Poesie, deren Gipfel die gereimte Chronik des Nikolaus von Jero- schin bildete. Die Blütezeit des Ordens in Preußen, der Höhepunkt seiner Litera- tur, Geschichtsschreibung und Kunst, beginnt Mitte des 13. Jahrhunderts und endet gegen Ausgang des darauf folgenden Jahrhunderts. Die Entwicklung der Literatur kommt ca. 1350 zu ihrem Ende. Das Christentum ist eine Religion des Buches und der Schrift. Es sei nochmals darauf hingewicsen, dass die Ordensbrüder mindestens zweimal täglich, während der Tischlesungen, mit grundlegenden erbaulichen Werken bekannt gemacht wur- den. Inhaltlich stellten diese einen einheitlichen geistigen Kanon dar. Die Regel schrieb das Vorlcsen nachdrücklich vor, auch wenn große Teile des literarischen Materials mündlich weitergegeben wurden. Vermutlich kannte jeder Ordensbruder viele interessante Geschichten; er war auch imstande, sie aus dem Gedächtnis wiederzugeben. Aber die Regel ließ dies nicht zu. Befohlen wurde das Vorlcsen. Vorgclescn werden sollten entsprechend ausgewählte Texte, für deren Interpreta- tion die Ordcnspricster zu sorgen hatten. Die Identität und Homogenität des Ordens gestaltete sich auch in der Liturgie, die für alle Konvente gleich war. Die Liturgie ist die Vergegenwärtigung der Heilswerke Gottes. Die Liturgie des Deutschen Ordens verleiht den Ordensbrü- dern somit einen Platz im unmittelbaren Gefolge des Erlösers, der das Hei 1swerk vollbrachte. Der leidende Heiland und die leidenden Ordensbrüder werden als eine Gemeinschaft begriffen, wobei aber zwischen der Vollkommenheit des Schöpfers und der Unvollkommenheit der Schöpfung wohl unterschieden wird: Ist die letzte- re zu heroischer Kraft fähig, so nur deshalb, weil sie diese von Gott bezieht. Ausstattung und Architektur der Kirchen oder Burgen schöpften ihre Inspira- tionen mehr oder weniger direkt aus der erbaulichen Literatur. Der samländische Bischof Johannes Clare ließ in seinem Dom Malereien nach der Handschrift „Spe- culum humanae salvationis“ anbringen. Der Turm Davids in Jerusalem, der dem Deutschen Orden von Kaiser Friedrich II. überlassen worden war, taucht, mit dem Ordenswappen verziert, als Motiv in Handschriften und Malereien des Doms auf. 2. Transzendenz als Schlüssel zum Verständnis der Welt und als Kriterium für deren Bewertung Die Mentalität der Ordenspriester war durch scholastischen Formalismus de- terminiert. Dieser machte sich dadurch bemerkbar, dass die gesamte Spiritualität des Ordens nach den formalen Prinzipien der Erklärung und der Klassifizierung der Wirklichkeit systematisiert war. Das zweite Grundphänomen war die Unte- rordnung der gesamten geistigen Leistung des Deutschen Ordens unter die univer- 16 Stefan Kwiatkowski
seile Auffassung von der teleologischen Entwicklung der Mcnschheits- und Schöpfungsgeschichte. Es gibt kein besseres Beispiel für die Popularisierung der scholastischen Men- talität unter den Ordensbrüdern als die beiden Ordenschroniken aus der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts. Das Werk Peters von Dusburg ist in inhaltlicher und forma- ler Hinsicht reicher als das gereimte Werk des Nikolaus von Jcroschin. Dies ergibt sich aus der Faszination des Chronisten sowohl für die scholastische Lehre als auch für das entbehrungs- und gefahrenreiche Ritterlcbcn. In seinem Werk werden die Realien stets in den Kategorien der scholastischen Theologie geordnet. Übri- gens legitimiert Dusburg auf der elementaren Stufe seines Diskurses unumwunden die brutale Wirklichkeit der Eroberung Preußens, indem er dieser die Gestalt der Verwirklichung der göttlichen Ordnung auf Erden verleiht. Die Geschichte der Welt wird, nicht nur in den erwähnten Chroniken, als notwendiger und determi- nierter Prozess gezeigt. Sic sollte die Grundlage für eine wenigstens partielle Ein- sicht in das Geheimnis der Offenbarung bieten. Dieser Denkweise zufolge konnte jedes Detail durch eine vom Schöpfer ein für allemal gegebene Wahrheit erläutert werden. Deshalb ist die Suche nach den sich ewig sich wiederholenden Typen und Mustern, nach Präfigurationen, in denen sich das kollektive Schicksal erfüllt, ein ständiges Motiv der Chronik Dusburgs und der gesamten Deutschordcnsliteratur. Die Überzeugung, dass die Quelle der Werte die transzendente Welt sei, ent- springt dem Glauben an ein dualistisches Bild der Welt. Dieser Dualismus, der die Welt in eine heidnische und in eine christliche cintcilte, gehörte zur augustei- schen Tradition und bewahrte ihre Aktualität das ganze Mittelalter hindurch. Ge- mäß der dualistischen Denkweise wurde die Vielfalt der Details systematisiert und erhielt auf dem Wege der Interpretation einen sowohl rationalen als auch magisch- symbolischen Charakter. Die Philosophie jener Zeit verkündete, dass der Wert einer jeden Handlung von deren Ziel bestimmt sei, wobei die irdischen Ziele den göttlichen in ihrer Bedeutung nachgeordnet waren. Der Dualismus betrachtete Geist und Materie als korrespondie- rend und er sah, was daraus resultiert, eine gewisse Parallelität zwischen den Er- scheinungen der übernatürlichen und der materiellen Welt. Dadurch wurden die von den Ordensrittern geführten Kämpfe, ihre Opfer und Entbehrungen mit Sinn er? füllt, und zwar als unmittelbare Abbilder der geistigen Werte. Ein enger Zusammenhang zwischen der Alllagswirklichkcit und der idealen Welt ist im Mittelalter besonders deutlich erkennbar. In dieser Hinsicht ver- schwindet die chronologische Reihenfolge von Gewesenem und Seiendem. Es ist dies ein Umstand, der offenkundig von der in der Historiosophie fast durchweg anerkannten These abwcicht, in der jüdisch-christlichen Tradition sei die Vorstel- lung vom linearen Lauf der Geschichte selbstverständlich gewesen. Es gab auch die neuplatonische mystische Schicht. Gemäß dieser Tradition war das Leben der Schöpfung eine ständige Annäherung an den Schöpfer. Den- noch seien nur einige der von der Erbsünde befleckten Menschen imstande, die Niederträchtigkeit ihrer Verfassung zu überwinden. Diese Denkweise, in monasti- schcn Kreisen besonders populär, setzte bei ihrem ganzen Elitarismus doch eine Richtung, an der sich immer mehr Menschen, wie beispielsweise die Konvcrscn, orientierten. Gott, Mensch und Welt 17
3. Das Gottesbikl Die theologische Überzeugung von der unermesslichen Güte des Schöpfers gegenüber seiner Schöpfung war unter den Deutschordensbrüdern weit verbreitet. Ihr geistiger Kontext lässt allerdings einige Spezifika fcststellen. In didaktischen Abschnitten der Chroniken wird erwähnt, dass alle Macht vom Himmel komme und von dort auch Hilfe zu erwarten sei. Der Schöpfer verlasse nie die Menschen, die auf ihn hoffen, er entziehe hingegen den Abtrünnigen sei- nen Schutz. Gemäß diesen Vorstellungen hält Gott Gericht über alles, was die Menschen vollbringen. Seine Urteile sind freilich unergründbar und können sich sogar für Gerechte und Auserwähltc als streng erweisen. Die Gläubigen dürfen dennoch nicht an Gottes Barmherzigkeit zweifeln, die gewiss kommen wird. Nie- derlagen und Leiden sind Strafen für die Sünden. Falls sic dem Menschen schon im Diesseits und nicht erst am Jüngsten Tag zuteil werden, soll man sic als Zei- chen der Barmherzigkeit deuten. Die Dcutschordcnsbrüdcr stellten sich Gott oft als tätigen Teilnehmer an den von ihnen geführten Kämpfen vor. Die Frage der fortwährenden Gegenwart Gottes im irdischen Geschehen wurde als eine der Hauptkontroversen zwischen dem Christentum und dem Heidentum angesehen. Der Heide, der den geschlagenen Christen die Frage „Wo ist euer Gott?“ stellt, wurde zu einer stereotypen Figur im religiösen Schrifttum. Im Kreise der Dcutschordcnsbrüdcr glaubte man entsprechend, dass Gott seine Herrschaft über die Welt schon unter derartigen Umständen zu offenbaren pflege. Recht spezifisch war indes die Gegenüberstellung des Guten und des Bösen, das sich in der Sünde kenntlich machte. Gegen die Sünde sollte sich nämlich der gerechte und zerstörerische Zorn Gottes richten. Wesen des Naturrcchts sei cs, jedem Teil der Schöpfung das ihm Zugehörige oder Zustehende zu gewähren. Die Unkenntnis und ausblcibcndc Verherrlichung Gottes seien ein Verstoß gegen das von Gott im Dckalog vorgcschricbcnc Gesetz. Die Ordensbrüder glaubten, dass die Welt fortwährend dem Schöpfungswillen Gottes unterstellt sei. Man sieht hier den Einfluss der neuplatonischen Überzeu- gung von der Unmöglichkeit einer unabhängigen Existenz der Schöpfung. Die Schöpfung könne von sich aus nichts verrichten, wenn sic nicht von Gott unter- stützt werde. Im scholastischen Denken wurde dennoch die Frage gestellt, warum die Menschen das Recht haben, Gottes Hilfe zu erwarten. Weil, antwortete man, Gott von der Schöpfung, die an und für sich nichts vermag, doch gewisse Hand- lungen innerhalb der von ihm bestimmten Natur erwarte. Die Vorstellung vom fortwährenden Eingreifen Gottes in den Lauf der irdi- schen Dinge hatte weitreichende Konsequenzen auf die anthropologische Dimen- sion. Gnade und Vorsehung, als menschlicher Erkenntnis unzugänglich, vermittel- ten keine praktische Wcltorientierung. Dies wurde auch von den Dcutschordens- brüdern im Ostsccraum empfunden. Die aus diesem Milieu stammenden Schrift- steller bemerkten mehrmals, dass menschliche Urteile auf diesem Gebiet unzuver- lässig seien. In der dualistischen Teilung der Welt, die direkt an die augustinische Einteilung der Menschheit in civitas dei und civitas diaholi anknüpfte, sahen die Ordensbrüder dagegen eine wirklichkcitscrläuterndc Kategorie. Die Einteilung der Menschheit in eine göttliche und eine teuflische Gemein- schaft war durch die Beziehung Gottes zum Menschen bedingt. Eine natürliche Verpflichtung des Menschen sollte in der Liebe zu dem einen Gott und in dessen 18 Stefcui Kwiatkowski
Verherrlichung bestehen. Die Erbsünde und die Menschen, die sich von ihr nicht reinigen konnten, also die Heiden, sollten vom Antlitz der Erde weggefegt wer- den; die endgültige Entscheidung über ihr Schicksal solle jedoch erst am Jüngsten Tage getroffen werden, wie man cs sich auf Grund der Rezeption der apokalypti- schen Prophezeiung erwartete. Die Ordensbrüder führten ihre Ostsee-Mission auf eine Fügung Gottes zurück und beschrieben die unvergängliche Aktualität ihrer Aufgabe überaus gerne an Hand von Vorstellungen, die der Apokalypse entlehnt waren. Man sicht, wie beschränkt die Fähigkeit ist, moralische Normen auf den Näch- sten zu beziehen, das Wesen des Menschen als Wcrtkritcrium anzunchmcn. Der Dckalog und das Alte Testament sind der Hauptbezugspunkt für die Beziehungen zwischen Gott und Mensch. Der Gott der Deutschordensritter ist der Gott Moses’ und Abrahams, der Gott der Makkabäer, der Gott Davids, Judiths und Esthers, der die Feinde Israels und die Abtrünnigen mit dem Tode bestraft, aber nicht der Gott der Maria Magdalena, der dem reuigen Sünder seine Sünden vergibt. In dieser Vorstellung spiegelt sich der für das Hochmittelaltcr typische eschatologische Pes- simismus wider. Erst am Ende des menschlichen Weges, der mit dem Kampf gegen das Böse erfüllt war, erscheint die göttliche Barmherzigkeit. Bemerkbar ist die Skepsis der Deutschordensbrüder gegenüber der Botschaft der Evangelien. Sic fühlen die dort spürbare Nähe der Erlösung nicht. Warum? Die Deutschordensritter vergessen allzu leicht, dass sic sich in einer erlösten Welt befinden; sie nehmen sich vielmehr als in derselben Welt befindlich wahr, auf die der Sohn Gottes als Mensch gekommen war. Von dem Versprechen der Erlösung sind sie durch eine Mauer von Heroismus getrennt, durch die Mühen und die Lei- den, die sic nach dem Vorbild Christi durchleben müssen. Ihre Ahnengalcric be- ginnt mit den Helden des Alten Testaments und findet eine Verlängerung unten den Helden des Passionais. All die im Kampfe für den Glauben Gefallenen (nicht nur die Ordensritter) sind Auscrwähltc Gottes. Andere Heilige und andere Arten der Heiligkeit haben für den Orden keine wesentliche Bedeutung. Es fehlt im Orden am Interesse für die (auch universelle) Hagiographie. Es ist offenkundig, dass der Christozcntrismus auch im Bereich der religiösen Vorstellungen dominiert. Die Überwindung der Verderbtheit der Welt und der sündigen Natur des Menschen ist durch den Märtyrertod, durch die Nachfolge Christi möglich. Der Christozentrismus äußert sich auch dadurch, dass die Or- densbrüder sich selbst in der unmittelbaren Nähe des Erlösers verorten. Sie halten es für ihre geistige Schuldigkeit, Christus in seinem Heilswcrk und in seiner Pas- sion zu begleiten, aber auch dann, wenn er seinen Zorn gegenüber den Verderbten und den Sündigen äußert. 4. Das Menschenbild Alle Schöpfung habe eine dualistische Natur. Im Menschen gehöre die Seele zur göttlichen, der Körper zur irdischen Sphäre. Die Dcutschordcnsbrüdcr teilten diese augustinische Überzeugung, der zufolge das menschliche Wesen als solches keinen realen Wert besitze. Zwischen Gott und Mensch bestehe eine Kluft, die infolge der Erbsünde entstanden ist. Die Schuldigkeit des Menschen sei, seine miserable Verfassung in eine vollkommene zu transformieren, durch Tugend das zu erreichen, was mit Hilfe der Natur nicht zu erreichen ist. Gott, Mensch und Welt 19
In den Reihen des deutschen Ordens war die Überzeugung verbreitet, dass der Mensch, als Wesen aus Körper und Seele, in der Tat eine dualistische Natur habe. Für eine Bestätigung dieser Ansicht kann die häufige und detailhafte Beschrei- bung der Trennung von Seele und Körper dienen. Die Scholastiker lehrten, dass die Seele ihre volitiven und kognitiven Funktionen nur deshalb erfüllen könne, weil sie ihre Abgeschiedenheit vom Körper wahre. Nach Dusburg ist der Körper lediglich ein Diener der Seele und dieser gänzlich untergeordnet. Die sterbliche Hülle steht also im Widerspruch zur wahrhaft geistigen Natur des Menschen. Lobenswert sind also diejenigen Ordensbrüder, die für das Wohl der Seele ihre Körper bändigen, ihnen verschiedene Leiden zufügen können, Handlungen, die als Beweis der Überlegenheit der Seele und der Überwindung der angeborenen Ge- brechlichkeit dienen. Der contemptus carni ist nur ein Bestandteil der allgemeinen Weltvcrachtung, nimmt jedoch in der Mystik eine zentrale Stelle ein. Augustinus lehrte, dass sich Körper und Seele im Zustand eines permanenten Krieges befinden. Im Schrifttum des Deutschen Ordens wurden die natürliche Neigung des Körpers zum Bösen und seine Opposition gegen die natürlichen Dispositionen einer gottstrebigen Seele hervorgehoben. Durch das Bcwusstwerdcn der eigenen Nichtigkeit gewinne der Mensch ein rechtes Verhältnis zu seiner irdischen Umgebung. Die Verachtung des Körpers manifestiert sich durch die Abtötung des Fleisches. Die Askese der Or- densbrüder beschränkt sich vor allem auf das Einhalten der harten Ordensregel. Sic gibt die Kraft, die Mühen und Gefahren des Krieges, den Hunger, die Entbeh- rungen zu ertragen, im Kampf Wunden und den Tod in Kauf zu nehmen. Die Akte individueller Askese beruhten auf der Abtötung des Fleisches und der Bändigung der Begierde. Der contemptus carni findet seine Widerspiegelung in der Beziehung zum Le- ben und zum Tod. In einem Brief an die Tempelherren, und dann detaillierter in einem an die Kreuzritter allgemein, hat Bernhard von Clairvaux, wohl auf die Pcrzeptionsmöglichkcitcn der Adressaten Rücksicht nehmend, seine eigene Mys- tik vulgarisiert. Der Geist der Überwindung der Bindungen an die Welt nimmt in beiden Schriften eine materielle Gestalt an und konzentriert sich auf die Überwin- dung des Todes. Das diesseitige Leben wird als eine Art Opfer dargcstcllt, das zwecks Erlangung des ewigen Lebens dargebracht wird. Dies schuf eine Grundla- ge für die Darstellung des Todes als ewiges Leben, und für die Darstellung des diesseitigen Lebens als Tod. Gemäß Dusburg bringt der Körper der Seele keinen Nutzen, weil er sic eher von Gott trenne. Über Meinhard von Querlurt, den Land- mcistcr von Preußen, heißt cs in seiner Chronik im panegyrischen Ton: „nec mori limuit nec vivcrc rccusavit“ (III 254). Das Leben in der Sünde verursacht den Tod von Körper und Seele (III 245, Suppl. 20). 5. Die Welt außerhalb des Ordens Die außerhalb des Ordens befindliche Welt ist voller Verderbens; die Söhne der Verdammnis verbreiten Verwesung und Übel. Die apokalyptischen Prophe- zeiungen, die den Untergang der Welt weissagen, werden nicht nur akzeptiert, sondern sollen auch zum Verständnis der aktuellen Lage verhelfen. Das Schicksal der Verdammten erweckt kein Mitleid und wird als voll verdient akzeptiert. In Hosiers Illustrationen zur Apokalypse, um nur bei diesem einen Beispiel zu blei- 20 Siefen i Kwiatko wski
ben, nehmen sieh die Deutsehordensritter als die Reiter der Apokalypse wahr; sic begleiten Christus, der kommt, um das Übel der Welt zu vernichten. Die Deutschordenritter geben selbst zu, dass sie von einer verdorbenen Welt herkommen, sie wollen sich aber von dieser Last befreien. Peter Dusburg führt die Worte des hl. Paulus an (Ephcs. 4, 221): „... deponite vos secundum pristinam conversacionem veterem hominem, qui corrumpitur secundum desideria erroris, et induite novum hominem, qui secundum deum creatus est“. Deshalb sind sie gege- nüber sich selbst unerbittlich streng, oder sollen cs mindestens nach ihrer Lehre sein. Contemptus mundi - die Weltverachtung - tritt programmatisch in den Regeln und im mönchischen Leben auf, wovon selbstverständlich auch der Deutsche Orden betroffen ist. Die verdorbene und deshalb verlassene Welt hat viele schein- bare Reize: Reichtümer, Bequemlichkeit, das Prestige des Ritterstandes. Das Ziel des Menschen ist es, die Bindungen an die Welt abzubrcchen und nur Gott zu gehören. Die Deutschordensbrüder glaubten, gemäß der augustinisehen Konzepti- on, dass das Gute in der erschaffene Welt allein auf Grund der unmittelbaren Ein- wirkung Gottes bestehen könne. Sie glaubten, dass das Fehlen des Guten in den heidnischen Ostsecländern allgemein verbreitet war. Die Heiden und ihre Gebiete dürfe man also zerstören, im Namen der Einführung des göttlichen Elements. Die Mission soll den unterworfenen Völkern dann eine neue Qualität im Rahmen der erschaffenen Wirklichkeit verleihen. Im Bewusstsein der Ordensbrüder in Preußen gab es eine scharfe Grenze zwi- schen dem Wert des Lebens der Christen und der Heiden. Das Leben der Christen habe, da erlöst mit des Erlösers Blut, einen Bezug auf Gott; das Blut der Christen sei das Fundament der Kirche. Das von Gott stammende Gut, verloren in den Menschen durch die Erbsünde, gewinnt seine Kraft durch das Erlösungswcrk Christi zurück. Die Christen, und vor allem diejenigen, die zweifellos zu seinen Auserwählten gehören, d.h. seine Ritter, verwirklichen die Pläne des Schöpfers, die in dessen Vorwissen (pracsciencia) bestanden haben. Das Leben der Heiden entbehre des göttlichen Elements und sei deshalb von Nichtigkeit erfüllt. Die Ordensbrüder machen aus ihrer Verachtung für dieses Leben keinen Hehl. Bernhard von Clairvaux lehrte, dass der Tod eines Kreuzrit- ters im Kampfein Lohn für den Gefallenen, der Tod des Heiden dagegen ein Nut- zen für Christus (hierum Christi) sei. Diesem Prinzip entsprechend nennen die Chronisten des Deutschen Ordens mit Begeisterung die Zahlen der in Preußen von den Ordensbrüdern getöteten Heiden; als sei ihre Tötung ein besonderes religiöses Verdienst gewesen. Der Platz der Heiden wurde, aus der Perspektive der Erlösung gesehen, in alt- tcstamcntlichen Kategorien bestimmt. Die Heiden standen demnach den göttlichen Plänen im Wege und waren somit zur Ausrottung bestimmt. Verständlich wird die Skepsis der Ordensbrüder bezüglich des Platzes der Heiden im göttlichen Vorwis- sen, die eine Widerspiegelung des Dualismus im anthropologischen Bereich dar- stcllt. Die Neophyten werden in der Tradition des Deutschen Ordens in Preußen in der (Ausnahmen zulassenden) Regel abtrünnig. Dusburg unterscheidet zwischen den Kreuzrittern und „alten Christen“ einerseits und den frisch Konvertierten andererseits; wider die Lehren der Kirche werden die Letzteren von den Ersteren abgetrennt und als untergeordnet behandelt. Gott, Mensch und Welt 21
Die Unkenntnis Gottes bei den Heiden verursacht, dass es in ihrer Mitte das Gute nicht gibt, dass sic diejenigen sind, die der Welt den Krieg bringen. Dusburg schrieb, dass die Ursache des Götzendienstes bei den Preußen in deren Unwissen liegt. Sie kennen keinen Gott, weil sic nicht imstande seien, ihn begriff lieh zu erfassen, ja nicht einmal der Schrift kundig seien. Das Fehlen des religiösen und ethischen Bewusstseins gehöre zu derselben Art von Unwissen und ziehe Ver- derbnis - auch von Christen - nach sich. Die weltlichen Kriege, die im Namen der Realisierung von menschlichen und diesseitigen Zielen geführt werden, sollen eben aus der Unmöglichkeit resultieren, den wahren Sinn der menschlichen Exis- tenz zu erkennen. 6. Gott und menschliche Erkenntnis Ewige Wahrheiten wirken als Gedanken Gottes auf die Menschen, erleuchten den Geist und geben dem Herzen Liebe. Die menschliche Erkenntnis sei dank dem Licht des Schöpfers, also dank der Illumination möglich. Während dem Menschen etwas ungewiss scheinen könne, wisse Gott alles. Dusburg wiederholt mehrere Male: „ncscio, deus seit“. Die kognitive Mühe des Menschen, der sich auf den eigenen Verstand verlässt, sei unzuverlässig. In den Beispielen, die in den Chroni- ken des Deutschen Ordens zu finden sind, werden sowohl diejenigen, die auscr- wählt zu sein glauben (in der Regel also die Ordensbrüder selbst) als auch die als verworfen geltenden Heiden von dieser Wahrheit überzeugt. Gottes Urteile sind für die Sterblichen unergründbar und unumkehrbar. Der Mensch fehlt, wenn er meint, er könne sic selbständig durchdringen. Die Handlungen, die nur nach eige- nem Konzept unternommen werden, führen zum Fehler und zum Scheitern. Ein typisches Chronikenbcispicl ist der Bericht vom Erkennen der militäri- schen Lage. Den Rittern, die dem eigenen Verstand vertrauen und keine Unter- stützung bei Gott suchen, steht eine Niederlage bevor. Die Schuldigkeit des Men- schen ist also das Auffinden von ewigen Wahrheiten und das Handeln auf deren Grundlage. Gott könne Auserwählten das Wissen von ihren späteren Schicksalen, auch von ihrem Verderben und ihrer Niederlage senden. Den Auserwählten gebe dieses Wissen die Kraft, die Verworfenen werden davon geschlagen, verlieren Mut und Verstand. 7. Die F römmigkeit der Deutschordensbrüder Die Frömmigkeit und die Spiritualität der Deutschordensbrüder entwickelten sich während der Kreuzzüge im 12. und 13. Jahrhundert. Es ist wohl bekannt, dass beiden Krcuzzugsidcc und Spiritualität der Zisterzienser, später auch der Domini- kaner, zugrunde lagen. Diese unterschiedlichen Traditionen beeinflussten unmit- telbar die Gestalt der Ordensstatuten, die von religiösem Konservatismus geprägt waren und entscheidend dazu beitrugen, dass die Deutschordensritter innerhalb der traditionellen Frömmigkeitsströmung verblieben. Als Sammlung der obersten normativen Akte für die mönchische Korporation bestimmten sic die religiösen Verhaltensweisen der Ordensbrüder. In populären geschichtlichen Vorstellungen sucht man in der Mentalität der Ordensbrüder nach einem „teutonischen“ Paradigma. Die Deutschordensritter 22 Stefcui Kwiatkoivski
repräsentierten zweifelsohne ein schcmatisehes Weltbild, aber seine geistigen Prämissen stammen aus den Krcuzzugsländern und liegen der religiösen Kultur des gesamten Abendlandes zugrunde. Der Anfang des 15. Jahrhundert ist eine Zeit der Wende, die sieh durch fol- gende Erscheinungen äußert: Das Auseinandergehen von religiösem Formalismus und einer emotionalen (d.h. in Preußen: volkstümlichen) Strömung, die Abkehr von der religiösen Literatur in der Volkssprache im Rahmen der Bekämpfung des Hussitismus sowie die Schwächung des traditionellen Kreuzzugsmusters und die verstärkte Einbindung des Ordens in die Veränderungen der Gcsamtkirchc. Für die frühere, traditionelle Periode gilt: Der Grundzug der Frömmigkeit war der öffentliche Charakter von Glauben und Kult. Die Liturgie und alle devotiona- len Praktiken waren kollektiv, auch das Nachdenken über persönliche Vergehen, deren Bekanntgabe während der Kapitclversammlung, schließlich die Sühne. Jeder religiöse Akt, auch der persönlichste, hatte seine Widerspiegelung in der symbolischen und materiellen Wirklichkeit, die ihn so zum öffentlichen Besitz machte. Die Ordensregel schrieb vor, die Brüder mögen sich gegenseitig in allen Fragen ermahnen, die der Einhaltung des monastischen Lebens gelten. Die so verstandene „individuelle“ Frömmigkeit galt als Bedingung des persönlichen Muts. Eine Schuldigkeit der „guten Menschen“ (boni hoinines) sei die Erhaltung der Kraft des Geistes und der Waffe. Ein interessanter Zug beruht hier auf der Hervorhebung der kollektiven Devotion des Deutschen Ordens und der einzelnen Konvente. 8. Die Berufung zum Orden Im Lichte dieser Didaktik sollte sich jeder Ordensbruder persönlich vom Schöpfer auscrwählt fühlen und, was sich aus dem augustinischcn Verständnis der Berufung ergab, er durfte sich dieser Berufung nicht entziehen. Als Zeichen der Prädestination konnten dabei zufällige, rein äußerliche Ereignisse gelten, die eher selten ihre Begründung in einer tieferen geistigen Motivation der Berufenen fan- den. Das Problem beruhte, wie man vermuten kann, auf einem oberflächlichen Verständnis von Berufung und Bestimmung, wie sic in den Beschreibungen der menschlichen Einzelschicksale deutlich sichtbar waren. Die Ethik der Dcutschor- densbrüder stützte sich auf Gehorsam. Dessen höchste Form war der Gehorsam gegenüber Befehlen, die von Gott stammen. Actus humanus ist eine befohlene Handlung, der sich der Mensch nicht entziehen könne. Gut ist, was Gott will und in seiner Offenbarung befiehlt. Alle menschlichen Handlungen gewinnen ihre moralische Qualität dadurch, dass sie von Gott befohlen sind. Es war die Schul- digkeit des Ordensritters, seine Berufung durch die Einhaltung der Regel und der Gelübde sowie durch Tapferkeit und Ausdauer zu bestätigen. Wesentliche Bedeu- tung wurde der Überwindung des Leidens durch die Anstrengung des Willens zuerkannt. Das Mittelalter entwickelte die Erklärungen für die Existenz des Menschen auf Erden auf der Grundlage der Erfahrung der rein feudalen Ordnung. Die Deutsch- ordensritter hielten sich, ähnlich wie Johanniter und andere Kongregationen der Mönchrittcr aus der Zeit der Kreuzzüge, für Ritter Gottes, Christi und Maria. In einer Begriffswelt, in der die feudale Hierarchie der ordnende und erläuternde Faktor war, verlieh der Dienst für den Höchsten Herrn eine außerordentliche Privi- Gott, Mensch und Welt 23
legierthcit. Diese konnte sieh durch unmittelbare Hilfe Gottes und seiner Heiligen ausdrücken, womit am häufigsten die Selbstverständlichkeit der militärischen Erfolge des Deutschen Ordens in Preußen erklärt wurde. Die übernatürliche Inter- vention, die übrigens mit dem Voluntarismus im Einklang stand, konnte vor allem auf der außerordentlichen Vermehrung der körperlichen Stärke und des Mutes beruhen, denn, wie das Dusburg fasste, „der Gott vertrauende Mensch wagt sich an erhabene, die menschliche Natur irgendwie überschreitende Dinge heran“. In der traditionellen Frömmigkeit des 12. und 13. Jahrhunderts gab es eine deutliche Hierarchie der Beziehungen, die zwischen Gott und Mensch entstehen konnten. Zu den elitären Formen gehörte das Leben nach der Ordensregel. Man ließ die Deutschordensritter glauben, dass ihre Regel die vollkommenste sei und dass sie dank den von ihr erforderten Mühen und Entbehrungen, dank den im Kampf davongetragenen Wunden, dank der Leiden und dem ständig drohenden Tod die Erlösung sichert. Diese Überzeugung war allgegenwärtig in dem didakti- schen Programm, das unter den Ordensbrüdern realisiert wurde. Der Platz des Menschen in der traditionellen Frömmigkeit wurde durch eine im gesellschaftlichen Leben lesbare Symbolik bestimmt und bestätigt. Sie umfass- te die Hierarchie der Lasten, die man zu Gottes Ehre trug. Der Heiligenkult, also im Grunde genommen der Kult bestimmter religiösen Ideen, manifestierte sich u.a. in Reliquien, hatte aber vor allen seine geistige Ebene in der Tradition der Weltcntsagung oder Selbstaufopferung für den Glauben oder in den Wundererzäh- lungen, die am stärksten verbreitet waren und die Vorstellungskraft am stärksten ansprachen. Es wird unter Kunsthistorikern diskutiert, was die erhabene Form eines Kon- ventschlosses vermitteln sollte. Eine Dcutschordensburg wird heute oft als Aus- druck der irdischen Herrschaft über ein Land angesehen. Man kann sie aber auch als einen Ort auf lassen, wo sich das sacrum manifestierte. Es war eine Stätte, die zu Ehren Gottes errichtet, nach Gott, seinen Heiligen oder Glaubenssymbolen benannt (Christburg, Marienburg, Gcorgenburg, Kreuzburg), mit wundertätigen Reliquien ausgestattet wurde und aus dem tugendhaften Leben der Christus nach- folgenden Brüder ihre Stärke bezog. Der Ordenskonvent wurde als das irdische Jerusalem dargestcllt, wohingegen das dem Gebet ergebene Leben (im Traktat des Deutschordensbruders Ulrich) das himmlische Jerusalem förderte. Die Ideen materialisierten sich in Kunstdenkmälern, z.B. in der monumentalen Marienstatuc oder im „Goldenen Tor“ im Marienburger Hochschloss, aber auch in Altären, Malereien, Rcliquicnschreinen, liturgischen Geräten und Büchern. An den Wänden der Burgen konnte man die Bildnisse von Artus, Georg, Mauritius, Martin neben den Helden des Alten Testaments wie u.a. Judas Makkabäus be- trachten. Diese Gestalten wurden in der synchron programmierten Vorstellungswelt wieder lebendig. 9. Die soziale Identität In der Identität der Ritterorden fügten sich zwei grundsätzliche Motive zu- sammen: das monastische und das ritterliche, beide naturgemäß in einer jeweils reduzierten Gestalt. Das monastische Motiv war auf den Bereich der Liturgie, Askese und Klausur beschränkt. Am wesentlichsten erwies sich allerdings die 24 Stefan Kwiatkowski
Tatsache, dass man aus diesem Motiv die Idee der friedlichen Lebensweise ent- fernte und dafür den Waffengebrauch gegenüber den Feinden Christi, wie man die Heiden nannte, legitimierte. Mit anderen Worten, cs bestand ein Gebot, Krieg zu führen und zu töten, abgeleitet aus dem Alten Testament, wo man Beispiele dafür fand, dass Gott auf Grund seiner Allmacht den Menschen auch wider die Gebote des Dekalogs handeln lassen könne. Aus dem ritterlichen Motiv wurden die standesgemäßen Lebensstandards ent- fernt: die Bemühungen um Verwirklichung weltlicher Ziele wie Reichtum, Ruhm, Manifestation des Besitzes. Verboten waren Turniere, Jagden, Ausschmückung der Rüstung und der ritterlichen Ausstattung, höfischer Überfluss. Gehorsam, Keuschheit und Armut sind Fundamente der monastischcn Gelübde. Die Einhal- tung der Regel, die Andacht samt Sakramenten, der ständige Bezug auf den Mär- tyrertod Christi waren genauso wichtig wie der Kampf. Die Kanonisten gliederten die menschlichen Handlungen in zwei Bereiche: opus Dei und opus servile. Der erstere umfasste ausschließlich die sakralen Tätig- keiten, der andere alle zwischenmenschlichen Angelegenheiten, also nicht nur gewöhnliche Beschäftigungen, sondern auch die Machtausübung und Kriegsfüh- rung. Für den ersten Bereich waren Geistliche, für den anderen Laien bestimmt. Die Entstehung der Ritterorden spaltete diese Dichotomie: der Krieg wird beinahe in den Kategorien des opus Dei verstanden, er ermöglichte auf jeden Fall die Er- langung der Seligkeit. Die Hilfe für Leidende und Arme hat grundsätzlich einen ähnlichen Stellenwert wie die Kriegsführung. Geistliche wie Peter Dusburg hoben die Mission der Priester hervor, der Disponenten der Sakramente als geistiger Waffen. 10. Die Kriegsethik Wenn es eine Deutschordensethik gab, so war sie grundsätzlich eine Kriegs- ethik. Der Deutsche Orden entstand in der Ära der Kreuzzüge, die „Gerechtigkeit“ des Krieges stützte er also vor allem auf die Offenbarung. Unter Berufung auf diese geistigen Kategorien wurde Preußen erobert (1230-1283). Ende des 13. Jahrhunderts war der Glaube an eine übernatürliche Berufung zum Krieg aller- dings stark verblasst. Die Kriegsethik sucht eine Antwort auf die Frage nach moralischer Legitima- tion der Konfliktparteien. Sie stellt die Sclbstbewcrtung des Milieus dar, das sie begründet und gestaltet, und bestimmt das Bild des Feindes. In dem Deutschen Orden herrschte in diesen beiden Bereichen das augustinische Paradigma vor. Nach Augustinus erlangte der gerechte Krieg seine Qualität nicht durch die ratio mentis, sondern dadurch, dass sich der Mensch dem Wort Gottes entsprechend beugt, einem Wort, das die Guten fähig macht, das gottbefohlene Gut zu tun. Das Wort Gottes und die boni homines, als die Wortgehorsamen, treten gegen jegli- ches Übel auf. Die ganze Unmoral, durch die sich die Teilnahme an Kricgshand- lungen auszcichnct, ist nur eine natürliche Konsequenz dieser Situation. Der Mensch, der dank dem Vertrauen zu Gott seinen inneren Frieden gefunden hat, ist frei von bösen Intentionen. Er will keinen Krieg, es sei denn, er sei zu ihm durch die Niedertracht seiner Feinde gezwungen. Das geistige Elend der Men- schen, die Gott nicht kennen, oder der falschen Christen ist eine Ursache für den Krieg in der Welt. In dem zur Erbauung der Ordensbrüder entstandenen Schrift- Gott, Mensch und Welt 25
tum werden ständig der innere Verfall und die geistige Nichtigkeit der Ordens- feinde hervorgehoben. Die Ritterschaft Christi, die die Welt vom Heidentum reinigen solle, zeichne sich durch die Rücksichtslosigkeit im Kampf und Barmherzigkeit gegenüber Be- dürftigen aus. Nach der alten Tradition des Abendlandes wurden die Heiden stets als diejenigen dargcstcllt, die sich außerhalb des Gesetzes der Christen befanden. In der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts wird dieses Prinzip durch die Einstellung der Heiden zu dem ihnen gepredigten Glauben bestimmt. Es herrschte die Ansicht, dass das Leben der Heiden ohne Akzeptanz Gottes gottlos und sogar naturrcchts- widrig verlaufe. Der Ritter Christi und des Ordens verdanke seine Kriegstapferkeit der Über- windung seiner sündigen Natur. Es solle keine eigenen egoistischen Ziele mit der Führung eines gerechten, im Namen Gottes entfesselten Krieges vermischen. Dementsprechend suchte Peter Dusburg zu beweisen, dass das Schwert des Krie- ges in Preußen den Ordensbrüdern von Gott ausgehändigt worden sei. Belehrend ist in diesem Zusammenhang die Geschichte von Kreuzrittern, die in Preußen gefallen waren und sofort nach dem Tode als Glaubenskriege!- erlöst wurden. Unter ihnen befanden sich allerdings auch drei Ritter, die sich dem Kreuzzug aus reiner Kampfeslust angeschlossen hatten; diese wurden dafür zur ewigen Ver- dammnis verurteilt. Schlussfolgerung Zum Schluss dieser Übersicht über das Weltbild des Deutschen Ordens möchte ich seinen universalen Charakter betonen. Die Deutschordensritter verstanden Welt und Menschheit gemäß den universellen Ideen des Christentums. Es ist eine Behauptung, die im völligen Widerspruch zu den traditionellen Vorstellungen über den Deutschen Orden steht. Diese stützten sich auf die Ethnisierung, d.h. Ableitung des Weltbildes aus der Angehörigkeit der meisten Ordensbrüder zu der deutschen ethnischen Gruppe. In der „modernen“ Geschichtsschreibung wurden die Deutschordensritter als Emanation des deutschen Geistes angesehen. Diese Überzeugung schuf Grundlagen für sowohl apologetische Verherrlichung als auch rücksichtslose Verurteilung. Andererseits nahm der Konflikt mit Polen im 15. Jahrhundert ein solch großes Ausmaß an, dass sich die Deutschordensritter selbst nach ihrer ethnischen Identität zu bestimmen anfingen und auch von ihren Geg- nern so bestimmt wurden. Literatur Marian Dygo, Mnich i rycerz. Ideologicznc modele postaw w zakonie krzyzackim w Prusach w XIV-XV w., Zapiski Historyczne 55: 1990, S. 7-20. Marian Dygo, Die heiligen Deutschordensritter. Didaktik und Hcrrschftsideolo- gie im Deutschen Orden in Preussen um 1300, in: Die Spiritualität der Ritterorden im Mittelalter, hg. von Zenon Hubert Nowak (Ordines militarcs VII), Torun 1993, S. 165-176. 26 Stefan Kwicitkowski
Kaspar Elm, Die Spiritualität der geistlichen Ritterorden des Mittelalters. For- schungsstand und Forschungsproblcme, in: Die Spiritualität der Ritterorden im Mittelalter, hg. von Zenon Hubert Nowak (Ordines militares VII), Torun 1993, S. 7-44. Carl Erdmann, The Origin of Idca of Crusade, Princeton 1977. Karol GORSKI, O zyciu wewn^trznym zakonu krzyzackiego, in: DERS., Studia i matcrialy z dziejöw duchowosci. Hans-Dietrich KAHL, Die Spiritualität der Ritterorden als Problem. Ein metho- dologischer Essay, in: Die Spiritualität der Ritterorden im Mittelalter, hg. von Zenon Hubert Nowak (Ordines militares VII), Torun 1993, S. 271-295. Stefan Kwiatkowski, „Dcvotio antiqua“, ihr Niedergang und die geistigen Ur- sachen der religiösen Krise des Deutschen Ordens im Spätmittelaltcr, in: Deutsch- er Orden 1190-1990, hg. von U. Arnold, Lüneburg 1997, S. 107-130. Stefan Kwiatkowski, Zakon nicmiecki w Prusach a umyslowosc sred- niowieczna. Scholastyczne rozumicnie prawa natury a ctyczna i rcligijna swia- domosc Krzyzaköw do okolo 1420 r., 2. Aufl., Szczecin 2005. Erich MASCHKE, Die inneren Wandlungen des Deutschen Ritterordens, in: DERS., Domus hospitalis Theutonicorum. Europäische Verbindungslinien der Deutschordensgeschichte, Bad Godesberg 1970 (Quellen und Studien zur Ge- schichte des Deutschen Ordens 10), S. 35-59. Klaus M1LITZER, Von Akkon zur Marienburg. Verfassung, Verwaltung und So- zialstruktur des Deutschen Ordens 1190-1309 (Quellen und Studien zur Geschich- te des Deutschen Ordens 9), Marburg 1999. Arno Mentzel-Reuters, Literatur im Deutschen Orden 1275-1550, in: Deutsche Literatur und Sprache im östlichen Europa. Tagung über Forschungen und Forschungsvorhaben 24.11. - 26.11.1994, hg. von Carola L. GOTTZMANN (1995) S. 40-41. Arno Mentzel-Reuters, Anna spiritualia. Bibliotheken, Bücher und Bildung im Deutschen Orden (Beiträge zum Buch- und Bibliothckswscn 47), Wiesbaden 2003. Jürgen SARNOWSKY, Identität und Selbstgefühl der geistlichen Ritterorden, in: Ständische und religiöse Identitäten im Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von Stefan Kwiatkowski, Janusz Mallek, Torun 1998, S. 109-130. Gott, Mensch und Welt ZI
Maria als Patronin des Deutschen Ordens im Mittelalter Udo Arnold Ein mittelalterliches Hospital war eine geistliche Einrichtung mit drei Funktio- nen: Aufnahme und Pflege von Kranken, Gasthaus vor allem für Pilger sowie Heim für Pfründner, die dort ihren Lebensabend verbrachten. Für alle drei Funk- tionen bedurfte es der geistlichen Betreuung, vor allem für die Kranken, denn Krankheit bedeutete gleichermaßen eine Strafe Gottes für das sündige Leben auf Erden wie die Nähe zu Gott als Auserwählter. So hatte ein Hospital wie jede ande- re geistliche Institution seinen Patron, seinen erwählten Heiligen als Mittler zu Gott, sofern es nicht - wie viele städtische Hospitäler - sogar eine Person der Trinität zum Patron hatte, den Hl. Geist.1 Der Deutsche Orden wurde 1190 als Feldspital bei der Belagerung Akkons im Hl. Land durch die christlichen Kreuzfahrer gegründet, besaß also am Beginn die Funktion der Krankenpflege.2 Das Hospital hatte als Patronin die Muttergottes, die auch in den offiziellen Namen der Institution aufgenommen wurde. So heißt es bereits im September 1190 in der ersten Urkunde über das Hospital: quod est hedificatum in honore [fehlt ein Wort] et gloriose semperque virginis Marie (wel- ches errichtet ist zur Ehre ... und der stets glorreichen Jungfrau Maria)? In leichten Variationen, jedoch immer mit dem Maricnbczug, blieb der Titel des Ordens durch acht Jahrhunderte bis heute. Zum einen lag die Wahl Marias als Patronin nahe, denn sic galt als frei von jeglicher Sünde und stellte die ideale Fürbitterin bei Jesus dar für den sündigen, mit Krankheit geschlagenen Menschen. Eine andere Form der Wahl eines Patrons bot sich an, wenn es bei der Gründung um einen ganz bestimmten Heiligen ging, zu dem seitens der Gründer bereits eine Beziehung existierte. Das war beispielsweise der Fall bei dem ebenfalls während des Dritten Kreuzzuges errichteten englischen Thomas-Hospital in Akkon, das in Thomas von Canterbury Vgl. immer noch grundlegend Siegfried REICKE, Das deutsche Spital und sein Recht im Mittelalter, 2 Bde. (Kirchenrechtliche Abhandlungen 111-114), Stuttgart 1932. Vgl. Udo ARNOLD, Entstehung und Frühzeit des Deutschen Ordens. Zu Gründung und innerer Struktur des Deutschen Hospitals von Akkon und des Ritterordens in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, in: Die geistlichen Ritterorden Europas, hg. v. Josef Fleckenslein und Manfred Hellmann (Vorträge und Forschungen XXVI), Sigmaringen 1980, S. 81-107; polnische Fassung: Powstanie i najstarsze dzieje zakonu krzyzackiego. O zalozeniu i slruklurze wewn^trznej szpitala niemieckiego w Akkonie oraz zakonu rycerskiego w pierwszej polowie XIII wieku, in: Udo ARNOLD, Zakon krzyzacki z Ziemi Swi^tej nad Bahyk, Toruri 1996, S. 13-49. - Ders., Vom Feldspilal zum Ritterorden. Militarisierung und Territorialisierung des Deutschen Ordens (1190 - ca. 1240), in: Ballicum. Sludia z dzicjow polilyki, gospodarki i kultury XII-XVII wieku, ofiarowanc Marianowi Biskupowi, pod red. Zcnona Huberta Nowaka, Toruri 1992, S. 25-36; Wiederabdruck in: Udo Arnold, Deutscher Orden und Preu- ßenland. Ausgewählte Aufsätze anläßlich des 65. Geburtstages, hg. v. Berühmt Jähnig und Georg Mi- chels (Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung 26), Marburg 2005, S. 133-142. Tabulae Ordinis Theutonici, hg. v. Emst Strehlke, Berlin 1869, neu hg. v. Hans E. Mayer, Toronto 1975, Nr. 25, 1190, Mille September. Maria als Patronin des Deutschen Ordens 29
(Thomas Beckett) seinen erst vor kurzer Zeit ermordeten und kanonisierten, in England ungemein populären Heiligen von Hause mitgebracht hatte.4 Noch deutli- cher wird dies bei den Johannitern, deren Hospitalgründung neben Maria noch Johannes den Täufer als Patron führte - beide waren Patrone der Kathedrale von Amalfi, woher die Gründer kamen.5 Gerade dieser Hinweis lässt für das Deutsche Hospital vor Akkon eine weitere Überlegung zur Wahl Mariens als Patronin zu. Die Gründungserzählung des Or- dens, in der vorliegenden Form wohl 1244 entstanden, sieht als Gründer des Zclt- spitals Bürger aus Bremen und Lübeck.6 Es besteht kein Grund, dieser Überliefe- rung zu misstrauen.7 Intercssanterweise war in beiden Städten die Hauptpfarrkir- chc Maria geweiht. Das könnte - wie bei den Johannitern - ebenfalls bei der Wahl der Patronin des Deutschen Hospitals vor Akkon eine Rolle gespielt haben, die Parallele ist auffällig. Auch nach der Umwandlung des deutschen Hospitals von Akkon in eine ritter- liche Gemeinschaft 1198 gab cs keinen Grund, Maria als Patronin auszuwechseln, war sie doch ebenfalls Patronin der älteren, vor 1071 gegründeten Kirche mit Kloster und der Funktion eines Hospizes in Jerusalem S. Maria de Latina8 sowie der Ritterorden, die der Umwandlung als Vorbilder und Paten dienten, der Temp- ler und der Johanniter. Außerdem löste sich die Gemeinschaft nicht von ihrer bisherigen Hospitaltätigkeit, wenngleich diese neben dem ritterlichen Kampf zu- nehmend in den Hintergrund trat. Das lässt sich schon im Hl. Land feststcllen, als der Deutsche Orden am Fünften Kreuzzug bei der Belagerung von Damiette im Nildelta teilnahm: Seine Beteiligung am Kampf steht in den Berichten im Vorder- grund. Als in den 20er Jahren des 13. Jahrhunderts der hl. Georg als ritterlicher Patron9 und nach ihrer Kanonisation 1235 die hl. Elisabeth von Thüringen für den Hospitalbereich des Deutschen Ordens10 * * * hinzutraten, war ein Ablegen der Ur- sprungspatronin weder notwendig noch sinnvoll, so dass der Orden nunmehr über eine Trias von Patronen verfügte. Dabei stand selbstverständlich die Gottesmutter an erster Stelle, ohne Unterschied für alle Regionen, in denen der Orden tätig war, während je nach regionalem Tätigkeitsprofil des Ordens Georg - in Preußen - Zum Hospital vgl. A. J. FöREY, The military order of St Thomas of Acre, in: The English Hislo- rical Review 92, 1977, S. 481 -503. Vgl. Rudolf H1ESTAND, Die Anfänge der Johanniter, in: Die geistlichen Ritterorden Europas, hg. v. Josef Fleckenslein und Manfred Hellmann (Vorträge und Forschungen XXVI), Sigmaringen 1980, S. 31-80, hier S. 45. Narratio de primordiis oidinis Theutonici, in: Scriplores rerum Prussicarum VI, hg. v. Walther Hu- balsch, bearb. v. Udo Arnold, Frankfürl/Main 1968, S. 22-29. - Vgl. Udo ARNOLD, De primordiis or- , dinis 'ITiculonici narratio, in: Preußenland 4, 1966, S. 17-30. Marie-Luisc Favreau, Studien zur Frühgeschichte des Deutschen Ordens (Kieler Historische Studien 21), Stutlgiul 11974], S. 41. * Vgl. 1 Bestand (wie Anm. 5), S. 36. Vgl. Udo ARNOLD, Georg im Deutschen Orden bis zur Regelreform im 17. Jahrhundert, in: Sankt Georg und sein Bilderzyklus in Neuhaus/Böhmen (Jindfichüv Hradec). Historische, kunsthistorische und theologische Beiträge, hg. v. Ewald Volggcr (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens 57), Marburg 2002, S. 161-171. Vgl. Udo Arnold, Der Deutsche Orden und seine Patronin, die hl. Elisabeth, in: Colloque internatio- nal Sainte Elisabeth (1207-1231). Huit siecles de rayonnement europeen, Paris 2(X)9 (im Druck). 30 Udo Arnold
oder Elisabeth - innerhalb des Römischen Reiches - dominierten.11 Dementspre- chend nannte Hochmeister Ludwig von Erlichshauscn 1452 in seinem im Großka- pitcl beschlossenen Gesetz Maria, die eyne howbtfrawe vnd beschirmerinne ist vnsers ordens.'2 Allerdings hatte Papst Gregor IX. bereits anlässlich der Kanonisa- tion Elisabeths deutliche marianische Bezüge hergestcllt.H Maria blieb vom Titel her das ,Markenzeichen‘ des Deutschen Ordens durch alle acht Jahrhunderte seiner Existenz. Auf sie verpflichtete sich der Ordensbruder bereits bei seiner A u f n a h m c , bei der er Keuschheit, Eigentumslosigkeit unde gehorsam Gote unde sente Marien unde üch meistere ordens des Dütschen hüses gelobte14, was in den Gesetzen Konrads von Feuchtwangen Ende des 13. Jahrhun- derts auch für den Dienst eines knecht im Orden nochmals ausdrücklich in Erinne- rung gerufen wurde.15 Stand die Muttergottes also vom Anbeginn der Zugehörigkeit des Bruders zum Orden im Zentrum, so begleitete sie ihn auch weiterhin. In den zu absolvierenden regelmäßigen sieben T a g z e i t e n in der Hauskapclle wurde ihrer in wiederkeh- renden Gebeten gedacht.16 * Noch um 1495, als der hochmeisterliche Kanzler in einer Denkschrift Formulare und Vorschläge für die Durchführung der Visitatio- nen entwarf, legte er Wert darauf, dass bei der Prim, der Terz, der Sext, der None, der Vesper und der Komplet jeweils sal man beten von Unser Liben Fra wen und singen de tempore.11 Die Priesterbrüder beteten abschließend knieend sieben Mal die aus dem 12. Jahrhundert stammende Antiphon salve regina, einen Gruß an die Himmelskönigin; die Laienbrüder (Ritter und andere Nicht-Priesterbrüdcr) beteten stattdessen sieben ave Maria - es sei denn, sie seien geleret, dann durften auch sie sieben salve regina beten. Wer aber nit geleret ist, durfte sein pater noster unde " Vgl. Udo ARNOLD, Elisabeth und Georg als Plänpalrone im Deuischordensland Preußen. Zum Selbst- verständnis des Deutschen Ordens, in: Elisabeth, der Deutsche Orden und ihre Kirche. P’cslschrill zur 7(X)jährigen Wiederkehr der Weihe der Elisabethkirche Maiburg 1983, hg. v. Udo Arnold und Heinz Liebing (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens 18), Marburg 1983, S. 163-185; polnische Passung: Elzbieta i Jerzy jako patroni parafii w paristwie zakonu nicmieckiego w Prusach. O samowiedzy zakonu nicmieckiego, in: Udo ARNOLD, Zakon krzyzacki z Ziemi Swiclej nad Ballyk, Torun 1996, S. 130-159. 1 1452, März 28; Druck: Die Statuten des Deutschen Ordens, hg. v. Emst Hennig, Königsberg 1806, S. 157. 1' Vgl. Otfried Krafit, Papsturkunde und Heiligsprechung. Die päpstlichen Kanonisationen vom Mitte- lalter bis zur Reformation. Ein Handbuch (Archiv für Diplomatik. Beiheft 9), Köln 2005, S. 385-426, bes. S. 404, 407,413 f., 424. 11 Die Statuten des Deutschen Ordens, hg. v. Max Perlbach, Halle 1890, Aufnahmcritual, S. 128. IS Vgl. ebd., Gesetze 11.11, S. 142. Zum Problem der Knechte vgl. ARNOLD, Entstehung (wie Anm. 2), S. 101, wobei diese Quellenstclle allerdings eher die dort genannten Diener meint. 16 Vgl. zum Folgenden Bernhard-Maria ROSENBERG, Marienloh im Deutschordenslande Preußen. Beiträ- ge zur Geschichte der Marienverehrung im Deutschen Orden bis zum Jahre 1525, in: Acht Jahrhunder- te Deutscher Orden in Einzeldarstellungen. Festschrift zu Ehren Sr. Exzellenz P. Dr. Marian 'ruinier O.T. anläßlich seines 80. Geburtstages, hg. v. Klemens Wieser (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens 1), Bad Godesberg 1967, S. 321-337 (mit nicht eigens angemerklen Korrektu- ren). u Visitationen im Deutschen Orden im Mittelalter, 3 Teile, hg. v. Marian Biskup und liena Janosz- Biskupowa unter der Redaktion von Udo Arnold (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens 50/I-III = Veröffentlichungen der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens 10/I-III), Marburg 2(X)2, 2(X)4, 2(X)8, hier Teil II, Nr. 223, S. 249 f. Maria als Patronin des Deutschen Ordens 31
sm ave Maria unde den glouben zu Tütsche beten.18 19 Noch um 1502 heißt cs in den hochmeisterlichen Visitationsvorschriften für Preußen und die Deutschen Lande, die Priesterbrüder sollten aufpassen, dass die Laienbrüder ihr Gebet könnten und das sie zu allen zeeiten vor das Salve Regina zyvey Ave Maria bethen.l) In den verschiedenen Messen hatte der Ritterbruder auf die Nennung des Namens Mariens hin niederzuknien, auch wenn er von der lateinischen Liturgie nichts verstand. Zum Gebetsschatz gehörte die Sequenz Ave praeclara niaris stella (Ge- grüßet seist Du herausragender Stern des Meeres)20, und am Ende der Messe stand das Stoßgebet Nos cum prole pia benedicat virgo Maria (Die Jungfrau Maria möge uns und unsere frommen Nachkommen segnen), überliefert von 1422.21 Maria begleitete den Ordensbruder also während seines ganzen Tages. Auch im liturgischen Jahrcslauf spielten die M a r i c n f e s t e eine große Rol- le, wobei das Mittelalter weniger Marienfcstc kannte als die heutige Kirche. Die Gesetze des Ordens, deren Entstehungszeit vor die Mitte des 13. Jahrhunderts zu datieren ist, legten als Hochfeste Mariae Reinigung (2. Februar), Mariae Verkün- digung (25. März), Mariae Himmelfahrt (15. August) und Mariae Geburt (8. Sep- tember) fest.22 Der etwas jüngere Kalender, der allerdings auch spätestens aus dem Beginn der 60er Jahre des 13. Jahrhunderts stammt, fügte bei Himmelfahrt und Geburt jeweils noch eine Oktav hinzu. Die vier Marienfestc galten als totum du- plex, hatten also den höchsten Festesrang, und zwei davon erhielten noch eine Oktav. Die darin liegende Bedeutung erkennen wir im Vergleich. Nur zwei Feste Jesu besaßen den höchsten Festrang: Geburt (25. Dezember) und Epiphanie (6. Januar); Geburt hatte keine Oktav, da sic mit dem Beschncidungsfcst als höher- wertigem Fest zusammenfiel, Epiphanie hatte eine Oktav. Höchsten Festesrang besaßen sonst nur Stephan (26. Dezember, mit Oktav), Johannes der Apostel und der Evangelist (27. Dezember, mit Oktav), Allerheiligen (1. November) und schließlich Elisabeth (19. November, mit Oktav).2^ Die hcrausgehobenc Stellung Marias im liturgischen Jahr des Ordens mit doppelt soviel Hochfesten wie Chris- tus wird also sehr deutlich. Hochmeister Dietrich von Altenburg soll 1340 als fünftes Hochfest noch Mariae Empfängnis (8. Dezember) hinzugefügt haben.24 Noch später wurde das Fest Visitatio Mariae (2. Juli) im Orden eingeführt.25 * 18 Gesetze des Hochmeisters Werner von Orseln (1324-1330); Statuten (wie Anin. 14), S. 147. Noch deutlicher wird die niederländische Fassung, die diese Gebete - Vater unser, Ave Maria und Credo - in Deutsch oj in der taten, die hi gheleert zijn (oder in der Sprache, die er gelernt hat) erlaubt; ebd. Auch der gleichzeitige Chronist Peter von Dusburg berichtet in seiner 1326 vollendeten Chronik, der Hoch- meister - er nennt in diesem Zusammenhang Siegfried von beuchtwangen (1303-1311)- habe festge- setzt, quod post singidas horas frat res clerici anliphoniani: Salve regina ... et layci frat res nimm Ave Maria dicerent oh reverenciam heute virginis (dass nach jedem Stundengebet die Prieslerbrüder die Antiphonie „Salve regina“ ... und die Laienbrüder ein „Ave Maria“ sprechen sollten zur Verehrung der hl. Jungfrau); Peter von Dusburg, Chronicon terrae Prussiac, hg. v. Max Toeppen, in: Scriptores rcrum Prussicarum I, Ixipzig 1861, ND Frankfurt/Main 1965, Buch III, Kap. 305, S. 175. 19 Visitationen II (wie Anin. 17), Nr. 233, S. 269. Überliefert in Deutschordenszentralarchiv Wien, Hs. 389, aus der Plärre Unterinn (Ballci Etsch), 12. Jh. (!). 1 Statuten (wie Anm. 14), S. 158. Vgl. ebd., Gesetz 32, S. 76 f. " Vgl. ebd., S. 1-12. 1 Die Chronik Wigands von Marburg, hg. v. Theodor Hirsch, in: Scriptores rcrum Prussicarum II, Leipzig 1863, ND Frankfurt/Main 1965, S. 498. Vgl. allgemein Bernhari Jaiinic;, Festkalender und 32 Udo Arnold
Die Ausgestaltung der Hochfeste geschah besonders feierlich. Das Messbuch des Ordens fügte den allgemeinen liturgischen Texten noch Tropen, Zusätze, hinzu, wie auch die Ausgestaltung des Messbuchs selber durch Verzierungen die Bedeutung der Feste unterstrich. Die Wertigkeit der Feste im allgemeinen Tagesablauf war unterschiedlich. Ein Hochfest bedeutete arbeitsfrei auch für alle Nichtmitglieder des Ordens, das heißt ebenso für das Land, während die Oktav nur intern begangen wurde. Der Sonn- abend war grundsätzlich Maria geweiht. Ihr zu Ehren wurden die Vesper und die Messe besonders feierlich ausgestaltet, wobei die Gebete gesungen wurden.26 Siebenmal im Jahr hatte der Ordensbruder zur Kommunion zu gehen. Zwei dieser vorgcschriebcncn Tage waren Marienfeste: Himmelfahrt (15. August) und Licht- mess (2. Februar).27 Rozynkowski geht von einem Maricngedenken bei etwa ein- hundert Messen im Jahr aus.28 Für Aufnahme, normalen Tagesablauf und und liturgisches Jahr haben wir in erster Linie als normative Quelle das Ordensbuch herangezogen. Es änderte sich während des Mittelalters nicht. Auch als 1442 eine Revision vorgenommen wurde, griff das Generalkapitcl auf die Bestimmungen des 13. Jahrhunderts zurück und setzte nicht Neues an deren Stelle.29 Allenfalls der Kalender hätte in der Wertung der Feste geändert werden können, wie es bei der Aufwertung Georgs in Preußen feststellbar ist.30 An den Maricnfcsten wurde jedoch nichts geändert - sie waren Hochfeste, und eine Rückstufung im Festesrang für die oberste Ordenspatronin verbot sich von selbst. Die Einhaltung dieser Normen im Ablauf des Ordcnslebens wurde zentral überwacht, durch Visitatoren im Auftrag des Hochmeisters, später auch für seinen Amtsbereich durch Visitationen des Deutschmeisters. Zu den zu überprüfenden Bereichen gehörte ebenfalls die Einhaltung der Regel Vorschriften im Hinblick auf das geistliche Leben.31 Im normalen Tagesablauf des Bruders spielten die Mahlzeiten eine wichtige Rolle. Sie mussten schweigend eingenommen werden. Da jedoch nicht nur der Körper genährt werden sollte, sondern auch der Geist, gab es von der Ordensregel vorgcschricbcnc T i s c h 1 e s u n g e n . Diese mussten in deutscher Sprache vor- getragen werden, um für alle verständlich zu sein; Latein wäre genausowenig Heiligenvciehning beim Deutschen Olden in Preußen, in: Die Spiritualität der Ritterorden im Mittelal- ter, hg. v. Zenon Huben Nowak (Ordines militares VII), Torun 1993, S. 177-187. 2^ Vgl. Anette LÖFFLER, Die Liturgie des Deutschen Ordens in Preußen. Ritus und Heiligenverehning am Beispiel des Festes Visilatio Mariae anhand der Königsberger Fragmentüberliefcrung, in: Zeitschrift für Oslmiiieleuropa-Forschung 47, 1998, S. 371-382. 2G Vgl. Gesetze Dietrichs von Altenburg (1335-1341), Nr. 16; Statuten (wie Anm. 14), S. 150. Vgl. ebd., Regel 9, S. 36. "s Vgl. seinen Beitrag in diesem Band. 29 Vgl. Udo Arnold, Refonnansälze im Deutschen Oiden während des Spätmittelalters, in: Reformbe- mühungen und Observanzbestrebungen im spätmittelalterlichen Ordenswesen, hg. v. Kaspar Elm (Be- rliner historische Studien 14 = Ordensstudien VI), Berlin 1989, S. 139-152; Wiederabdruck in: Udo Arnold, Deutscher Orden und Preußenland. Ausgewählte Aufsätze anläßlich des 65. Geburtstages, hg. v. Beinhart Jähnig und Georg Michels (Einzelschritten der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Lindesforschung 26), Marburg 2(X)5, S. 225-235. Vgl. Arnold, Elisabeth und Georg (wie Anm. 11). 11 Während des 13. und 14. Jahrhunderts wird dies aus der Überlieferung der Visitationsaktcn weniger deutlich, später jedoch den Visitatoren und den zu Visitierenden sehr klar vor Augen gehalten. Vgl. z.B. die Instruktion des Hochmeisters Michael Küchmeistcr für die Visitatoien der preußischen Kon- vente um 1420 in: Visitationen I (wie Anm. 17), Nr. 70. Maria als Patronin des Deutschen Ordens 33
verstanden worden wie in der Messe. Dazu ist zum einen das Ordensbuch heran- gezogen worden mit seinen Vorschriften, die immer wieder ins Gedächtnis gern- fen werden sollten. Zum anderen wissen wir von geistlichen Erzählungen, oftmals Bibelparaphrasen, die vorgelesen wurden. Zum dritten ist die Darstellung der Geschichte des Ordens selbst zu nennen.32 Nun ist die Definition der Deutschordensliteratur in letzter Zeit recht umstritten, und die Frage, was von der im Orden oder in seinem Umkreis entstandenen Literatur wirklich zur Tischlesung gedient hat, kann mangels ent- sprechend detaillierter Quellen nicht definitiv entschieden werden. Doch selbst wenn wir mit Mentzel-Reuters von diesen Werken nur sprechen als „von einer an Laien gerichteten literarischen Strömung, die im Deutschen Orden auf fruchtbaren Boden fiel“33, so bleibt doch die Feststellung, dass sic im Orden auch dann noch einen Rezipienten fanden, wenn sic nicht zur Tischlcsung benutzt wurden. Daher kann die Diskussion um Entstehung, Verfasser und Tischlese-Funktion hier aus- geklammert werden, denn die Affinität zu jenen Werken war auf jeden Fall gege- ben.34 Das wusste man auch außerhalb des Ordens. So lesen wir bei dem fränkischen Kartäuser Philipp, der im österreichischen Seitz in der Steiermark um oder bald nach 1300 sein „Marienleben“ verfasste: Ditz puechlin han ich gesaut Den bmodern die da sint genant Von dem daeutschen haus vnd sint Marien ritter... Und im Epilog greift er den Gedanken nochmals auf: Auch ditz buechlin ich sende den bruodern von dem daeutschen huas Die han ich lange er ko em uoz Wand sie gern marien erent Vnd den gelauben cristes merent. Der Versuch von Jaroslaw Wenta, Studien über die Ordensgeschichtsschreibung am Beispiel Preu- ßens, Tonin 2(XX), S. 157, die Tischlesung auf den Tisch des Herrn = Altar zu beziehen und daraus in- nerhalb der (lateinischen) Messe eine deutsche Lesung aus der Hl. Schrift zu konstruieren - was dann allzuleicht als Lesung auch aus literarischen und historiographischen Texten verstanden werden kann -, ist nicht akzeptabel. Arno Men'IYEL-ReüTERS, Anna spirilualia. Bibliotheken, Bücher und Bildung im Deutschen Orden (Beitrage zum Buch- und Bibliothekswesen 47), Wiesbaden 2003, S. 63; vgl. auch DENS., „Gote, Ma- rien und dem meislir“. Der Deutsche Orden und die Anfänge der preußischen Literaturgeschichte, in: Ostpreußen - Westpreußen - Danzig. Eine historische Lileralurlandschaft, hg. v. Jens Slüben (Schriften des Bundesinslituls für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 30), München 2(X)7, S. 137-154. An älterer Literatur zu den literarischen Quellen der Marienverehrung ist besonders zu nennen Mary Ellen GOENNER, Mary-Verse of the Teulonic Knights (The Catholic Universily of America. Studics in German XIX), Washington 1944, ND New York 1970, die manche Beobachtungen der jüngeren Lite- ratur bereits vorwegnimmt. Dasselbe gilt für Erika TiDICK, Beiträge zur Geschichte der Kirchen- Patrozinien im Deulschordenslande Preußen bis 1525, Diss. phil. Königsberg 1925, Druck in: Zeit- schrift für die Geschichte und Altertumskunde Ennlands 22, 1926, ND 1992, S. 343-464, für Maria S. 356-367, wobei allerdings Orden und Land nicht getrennt werden. Zitiert bei MENTZEL-REUTERS (wie Anm. 33), S. 64. 34 Udo Arnold
Philipps „Marienleben“ ist nicht in der Bal lei Österreich des Deutschen Ordens geblieben, sondern auch nach Preußen gelangt.36 Mit seiner Verbreitungszcit im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts fällt es in die Epoche des Auf- und Ausbaus Preußens als hochmeisterliches Territorium und Kcrnland des Ordens, mit einem literarisch-künstlerischen Höhepunkt unter Hochmeister Luther von Braunschweig (1331-1335).37 Dort kannte man bereits das wohl gegen Ende des 13. Jahrhunderts abge- schlossene „Passional“, dessen erstes Buch ausführlich auf Maria eingcht:38 Ihre Geburt, die Verkündigung, Jesu Geburt, die Anbetung der Könige, der Kinder- mord, legendarische Wunder Jesu, Pilatus, Auferstehung, Himmelfahrt und Pfing- sten, schließlich der Tod und die Wunder Mariens sind die Themen. Allein 25 Marienlegenden enthält das Werk sowie ein großes „Marienloh“, „Perlen mittelal- terlicher Poesie“. Die Legenden erzählen zum Beispiel von einem frommen Ritter, für den und in dessen Gestalt Maria im Turnier den Sieg erringt, während er die Messe hört; oder von einem Maler, der auf einem Vorhang ein wunderschönes Bild Mariens und ein grundhässliches des Teufels malt und den Maria vor dem darob erbosten Teufel schützt, indem sie die Hand aus dem Bild streckt und ihn somit rettet; oder dem Teufelspakt des Bischofs Theophilus, der jedoch durch Mariens Eintreten gerettet wird. Alle Legenden enden mit dem Vers: Des si gelo- bet die kunigin. Und das umfangreiche, anschließende „Marienloh“ endet: Ave du edele vrouwe min, tu mir uf der genaden schrin unde nim mich in den schirm din, daz mir din truwe werde schin. Ave du himils kuningin!39 Der Deutschordcnspricster und Domherr der Diözese Samland Thilo von Kulm widmete sein Werk Von siben ingesigeln so wie sich di entrigeln dem Hochmeister Luther von Braunschweig (1331-1335), der es wohl auch angeregt hatte. Es ist eine Schilderung von Jesu Fleischwerdung bis hin zum Jüngsten Ge- richt in sieben Kapiteln, für die jedesmal ein neues Siegel erbrochen wird. Thilo beginnt mit dem Hinweis auf Maria und den Orden und endet mit dem Satz: ad laudem dei et matris eius gloriose Virginis Mariae (zum Lobe Gottes und seiner glorreichen Mutter, der Jungfrau Maria).40 Dieser Marienbezug im Hinblick auf ’6 Ders., ebd., S. 236 vermutet eine Handschrift in Osterode. Ralf G. PÄSLER, Handschriftenftinde zur Literatur des Mittelalters. 174. Beitrag: Ein unbekanntes Fragment von Binder Philipps ,Marien leben' aus der Eibinger Stadtbibliothek, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 136, 2(K)7, S. 178-181 nennt das Werk S. 180 „einen Bestseller' des Spälmiliclalters“. w Zu ihm vgl. Simon I1ELMS, Luther von Braunschweig. Der Deutsche Orden in Preußen zwischen Krise und Stabilisierung und das Wirken eines Fürsten in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens 67), Marburg 2(X)9. 'H Zum Folgenden vgl. Karl HELM und Walther ZlESEMER, Die Literatur des Deutschen Ritterordens (Gießener Beiträge zur deutschen Philologie 94), Gießen 1951, S. 54-70, das Zitat S. 54. Zitiert ebd., S. 63. 1,1 Dazu vgl. zuletzt Amo MENTZEL-REUTERS, durch mins herczen i>ral. Die ,Siben Ingesigel' Tilos von Kulm als Reformschrift, in: Vom vielfachen Schrift sinn im Mittelalter. Festschrift für Dietrich Schmidtke, hg. v. Freimut Löser und Ralf G. Päsler (Schriften zur Mediävistik 4), Hamburg 2(X)5, S. 283-307; Udo ARNOLD, Tilo von Kulm, „Von siben ingesigelen", in: Elisabeth von Thüringen - eine europäische Heilige. Katalog, hg. v. Dieter Blume und Matthias Werner, Petersberg 2(X)7, S. 358 f. Maria als Patronin des Deutschen Ordens 35
den Orden war Allgemeingut innerhalb des Deutschen Ordens, aber wohl auch im gesamten Preußen. Die Beteiligung des Ordens am Jüngsten Gericht war ebenso im Ordensbewusstsein verankert, einschließlich ihrer dabei gegebenen Verbin- dung zur Gottesmutter, waren die Ordensritter doch Marie ritter, als welche sie das Väterbuch ebenfalls bezeichnet.41 Das sind herausragende literarische Beispiele für eine Marienverehrung im Deutschen Orden, die sich vermehren lassen.42 Dabei ist cs gleichgültig, ob sie von einem Ordensbruder oder einem nicht dem Orden Angehörenden, ob sie in einer thüringischen Ordenskommende oder in Preußen verfasst wurden, sie fanden jedenfalls im preußischen Ordenszweig, aber auch im Orden im Reich, ihre Re- zeption. Nicht nur im Bereich der geistlichen Literatur, auch in der Geschichts- schreibung begegnet uns die Marienverehrung. Dazu ist vorauszuschicken, dass innerhalb des Ordens Preußen die reichhaltigste Historiographie aufzuweisen hat, gefolgt von Livland; im Reich hat der Orden erst spät zu eigener historischer Darstellung gefunden.43 Das erste große Werk in Preußen ist die Chronik des Ordenspricsters Peter von Dusburg, 1326 vollendet. Wenige Jahre später folgte die Übertragung seiner lateinischen Handschrift in deutsche Verse, ebenfalls durch einen Priesterbruder des Ordens, Nikolaus von Jeroschin. Während Dusburgs Chronik vor allem nach außen gerichtet war und in meinen Augen eine politisch motivierte Rechtfertigungsschrift darstellt44, eignete sich die Übertragung Jero- schins für die Nutzung und Verbreitung innerhalb des Ordens. Am Ende seiner Vorrede steht eine ausführliche Anrufung Mariens, die mit einer Widmung an die Gottesmutter endet: ... milde kuni ginne; nü bis mm leite rin ne, want dir zu lobis winne diss büchis ich beginne (milde Königin, sei meine Führerin, denn Dir zu Lobgewinnc dies Buch ich beginne), wie er denn auch das zweite Buch mit einer Anrufung Mariens beginnt und beendet, jeweils eigenständig, nicht aus seiner Vorlage übernommen.45 Immer Das Väterbuch, hg. v. Karl Reissenbergcr (Deutsche Texte des Mittelalters 22), Berlin 1914, V. 40.762. Vgl. auch Elisabeth APELT, Die Ideale des Deutschen Ritterordens, dargestcllt nach den schriftlichen Quellen des 13. und 14. Jahrhunderts, Diss. phil. masch. Danzig 1932, bes. S. 77-79. Vgl. Udo ARNOLD, Geschichtsschreibung im Prcußenland bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 19, 1970, S. 74-126; DERS., Deutschordens- historiographie im Deutschen Reich, in: Die Rolle der Ritterorden in der mittelalterlichen Kultur, hg. v. Zenon Hubert Nowak (Ordines militares III), Tonin 1985, S. 65-87; DERS., Literatur und Kunst im Le- ben des Deutschen Ordens in Livland (in Vorbereitung). Mit ihr hat sich vielfach Jaroslaw Wenta beschäftigt, u.a. Der Deutschordenspriester Peter von Dusburg und sein Bemühen um die geistige Bildung der Laienbrüder, in: Selbstbild und Selbstverständnis der geistlichen Ritterorden, hg. v. Roman Czaja und Jürgen Smnowsky (Ordines militares XIII), Torun 2(X)5, S. 115-125; seine Vorstellung, dass Dusburg „durch die Exempel und erbaulichc[nl Beispiele die Ixiienbrüder unter den Deutschordensrittern zu erbauen suchte“ (S. 115), verbietet sich schon dadurch von selbst, weil jene den lateinischen Text nicht verstanden. Nicolaus von Jeroschin, Di Kronike von Pnizinlant, hg. v. Emst Strehlke, in: Scriptores rerum Prussica- i-um I, Leipzig 1861, ND Frankfurt/Main 1965, S. 307, V. 328-330; S. 320, V. 1499-1503; S. 345, V. 3683 f. 36 Udo Arnold
wieder begegnet die Gottesmutter bei Dusburg und Jeroschin unmittelbar oder durch ihre auf den Ritterbruder übergehende Kraft dem Leser oder Hörer, sei cs durch Hilfe im Kampf, sei es mit Ermahnungen zur Lebensführung, sei es in einer Vielzahl von Wundern. Marienwunder gehören gleichsam zum Alltag des Or- densbruders und sind immer wieder anzutreffen; ihre Zahl in der Darstellung des Chronisten Dusburg entspricht in etwa der Zahl der durch Gott oder Christus ge- übten Wunder.46 Die Muttergottes ist es, die den Ordensritter leitet und beschützt auf seinem christozentrierten Weg.47 Eins dieser Beispiele wird sogar in drei Kapiteln geschildert, Hermann der Sa- razene im Königsberger Konvent. Er ließ noch vor seinem Ordenseintritt einen gefangenen Ritter, von dem er Lösegeld oder Tod forderte, frei, als der ihn im Namen Marias darum bat. Als er zu seiner Einkleidung ritt, besiegte er einen Geg- ner im Turnier: Jener kämpfte zu Ehren seiner Herrin, Hermann jedoch zu Ehren Marias. Und schließlich erschien ihm als Ordensritter die Gottesmutter immer wieder, sie klagte ihm sogar ihr Leid, dass die Brüder sich in ihren Gesprächen im Refektorium nicht mehr über Christus und sie sowie die Taten der Heiligen, son- dern über Könige, Fürsten und die Nichtigkeiten der Welt unterhielten.48 * Die Ein- bettung in die historische Darstellung bietet die Anbindung der Marienverehrung an das tägliche Leben der Zeitgenossen, wie es im Tagesablauf der Brüder bereits sichtbar wurde. Die Beispiele lassen sich vermehren. Die literarischen und histo- riographisehen Darstellungen sollten natürlich auch Ansporn sein für die Aufga- ben des Ordensbruders, die in Preußen vor allem im Kampf gegen die Heiden bestanden. Die Kriegszüge galten dem Ritter somit als eine Art Gottesdienst. Daher war es für ihn selbstverständlich, dass die Gottesmutter voranging. Die Ordensbrüder galten eben nicht nur für den Kartäuser Philipp, sondern generell, und natürlich erst recht im Bewusstsein des Ordens selbst als Marien rittere. Ma- ria war beispielsweise die entscheidende Hilfe für die Eroberung Livlands: Mariä die konigm. die half dem lande sider wol, als ich lieh nü sagen sol, mit pil grünen manche schar, die durch ir liehe quämen dar 11 i i 49 und betwungen daz laut. Das Hauptbanner, unter dem der Hochmeister in den Kampf zog, war ein Ma- rienbanner. Auch der livländische Landmeister zog unter einem Marienbanner in die Schlacht.50 Direkte Überlieferung kennen wir nicht, verständlich aufgrund der Empfindlichkeit des Fahnenmatcrials. Erhalten ist jedoch die Abzeichnung von Vgl. u.a. Dusburg (wie Anm. 18), Buch III, Kap. 12,41,80,87, 131, 141,207, 333, 350, Suppl. 18, mit den entsprechenden Parallelen bei Jeroschin. -1/ Zum Christozentrismus des Ordensbruders vgl. die interessanten Ausführungen von Stefan KWIATKOWSKI, Gott, Mensch und Welt in der Sicht der Deutschordensritter, in diesem Band. ts Vgl. Dusburg (wie Anm. 18), Buch III, Kap. 79-81, S. 94 f.- Jüngst ist dieser Teil in Form eines Schauspiels bearbeitet und vorgetragen worden von der Gruppe „Nomina Rosae“ in Nowy Sq.cz (Neu- Sandez) 2006 und Marienburg 2(X)7. 19 Livländische Reimchronik, hg. v. Leo Meyer, Paderborn 1876, ND Darmstadt 1963, S. 11. s" Vgl. Sven EKDAHL, Die „Banderia Prutenorum“ des Jan Dlugosz - eine Quelle zur Schlacht bei Tan- nenberg 1410, Göttingen 1976, bes. S. 25 f., 55, 139. Maria als Patronin des Deutschen Ordens 37
vier livländischen Bannern, die von polnischer Seite 1431 erobert wurden, u.a. das Marien- bzw. Mauritiusbanner (Abb. I).51 Es zeigt durchaus hochstehende künst- lerische Darstellungen, auch wenn die Madonnenzeichnung nur als Abzeichnung von 1480 ohne Farbe erhalten ist. Ursprünglich steht die schlanke Figur der Maria gekrönt, mit Nimbus, in einen blauen, innen weiß gefütterten lang wallenden Man- tel gekleidet, auf grünem Rasenhügel, auf dem rechten Arm das nackte, nimbierte Kind, in der Linken den grünen Wcltapfel haltend. Die Rückseite mit Mauritius kann hier vernachlässigt werden. Die obere äußere Ecke trägt den einfachen Or- densschild. Die Madonnenfigur entspricht dem zu Beginn des 15. Jahrhunderts auch im Nordosten üblichen Weichen Stil. Das Banner diente als Vorlage für die Gestaltung der Gedenkmünze der Bundesrepublik Deutschland zum 800jährigen Jubiläum des Ordens. Abb. 1: Marienbanner, aus: Ekdahl (wie Anm. 50), Abb. 53a Zum Banner passt ein Bericht des Verfassers der Livländischen Reimchronik vom Ende des 13. Jahrhunderts über einen Brückenbau zur Vorbereitung einer Schlacht mit den Heiden: von got wart ein sanc genomen: „hilf uns Sancta Mariä zu vromen!“ ~ Alle mussten zupackcn beim Bau, und die Arbeit ging besser voran sowohl mit dem Blick auf die Schlacht als Ziel als auch mit frommem Gesang. Das dürfte nicht das einzige Beispiel gewesen sein, wenngleich die Ordensüberlie- ferung sonst schweigt. So wundert es auch nicht, dass eine Bombarde, eine gegossene leichte Stein- büchse vom Anfang des 15. Jahrhunderts, auf ihrem Rohr nahe der Mündung eine aufgelegte gegossene Plakette mit der Darstellung der sitzenden Muttergottes mit Vgl. ebd., S. 274-277 mit Abbildung 53a und 53b. s‘ Livländische Reimchronik (wie Anm. 49), V. 11.946 f., S. 273. 38 Udo Arnold
dem Kind auf dem Schoß trägt (Abb. 2).53 Die Form gleicht dem Hochmeistersie- gel, auf das noch zurückzukommen ist. Abb. 2: Plakette auf Bombarde, aus: Imagines Potestatis (wie Anm. 53), S. 388 Die Kriegszüge dienten nicht nur der Unterwerfung der Heiden und deren an- schließender Christianisierung, sondern auch dem Auf- und Ausbau territorialer Macht des Ordens. Dazu gehörten ebenfalls die B u r g e n , die immer wieder den Namen der Gottesmutter trugen. Erinnert sei an die Gründung von Marienwerder 1234, vor allem aber an die Marienburg. Bereits im Hl. Land gab es eine Marien- burg, ebenso im ungarischen Burzenland, dann in Preußen und schließlich in Liv- land. Mit der Verlegung des Hochmeistersitzes nach Preußen 1309 wurde die dortige Marienburg zum Zentrum des gesamten Ordens, in politischer wie in geis- tiger Hinsicht.54 Der Ausbau der Burg zur größten Landburg Europas erfolgte im 14. und 15. Jahrhundert. Mit dem Aufbau des eigenen Territoriums begab sich der Orden auch auf ein allgemein-politisches Feld, in das sein Selbstverständnis eingegliedert wurde. Das war kein grundsätzliches Problem, kannte der mittelalterliche Mensch die Bis- marcksche Trennung von Staat und Kirche doch nicht, war in der Zeit der Kreuz- züge militärisches, politisches, kirchliches, missionarisches Vorgehen doch auch für das Papsttum eine untrennbare Einheit. Bereits unter Hermann von Salza sehen wir die territorialbildenden Tendenzen im Deutschen Orden an verschiedenen Vgl. 8(X) Jahre Deutscher Orden. Ausstellung des Germanischen Nalionamuseums Nürnberg in Zu- sammenarbeit mit der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Or- dens, hg. v. Gerhard Boll und Udo Arnold, Gütcrsloh/München 1990, S. 70; Imagines Potestatis. Insig- nien und Henschaflszcichen im Königsreich Polen und im Deutschen Orden. Kalalog der Ausstellung im Schlossmuseum Marienburg 8. Juni - 30. September 2007, Redaktion Janusz Trupinda, Malbork 2(X)7, S. 274 f.; Imagines Potestatis. Insygnia i znaki wladzy w Krölcslwie Polskim i Zakonie Niemieckim. Kalalog wystawy w Muzeum Zamkowym w Malborku, hg. v. Janusz Trupinda, Malbork 2(X)7, S. 388 f. 54 Vgl. zur Verlegung der Ordenszentrale Udo ARNOLD, Akkon - Venedig - Marienburg. Der Deutsche Orden vom Miltclineer- zum Ostseeraum, in: Acri 1291. La fine della presenza degli ordini militari in Terra Santa e i nuovi orientamenti nel XIV secolo, hg. v. Francesco Tommasi (Biblioteca di Militia Sacra I), Ponte San Giovanni 1996, S. 69-74; DF-RS., Von Venedig nach Maiienburg. Hochmeister und Deutscher Orden am Ende des 13./Beginn des 14. Jahrhunderts, in: „Rzcz gdahska” z 1308 roku w swietle najnowszych badan, hg. v. Blazej Sliwiiiski, Gdansk 2(X)9 (im Salz); allgemein auch Kazi- mierz POSPIESZNY, Castrum et civilas Mariae - Marienburg/Malbork, in diesem Band. Maria als Patronin des Deutschen Ordens 39
Heidenkampffronten intensiv ausgeprägt.55 Daher bildete die Vorstellung von Maria als Helferin nicht nur im Kampf selber, sondern auch zum Aufbau und Erhalt der Territorialherrschaft eine gedankliche Normalität. Marian Dygo vertritt die These, Maria sei in der Ordcnsvorstellung Suzerän, Oberlchnsherrin Preußens gewesen, Preußen das von der Gottesmutter an den Orden verliehene Lehen. De- mentsprechend sei die Autorität der Ordensritter gegenüber den Untertanen legi- timiert worden, nicht zuletzt in den Auseinandersetzungen des 15. Jahrhunderts.56 Doch führt es zu weit, diese Vorstellungen als Besonderheit, als politisches Mittel zum Zweck der Herrschaftsausübung anzusehen: Die Vorstellungen gingen grund- sätzlich konform mit dem übrigen, auf die Gottesmutter ausgerichteten Gedanken- gut des Ordens. Auch im Land selber wurden sie übernommen, wie eine dichteri- sche Klage aus der Zeit kurz nach 1490, eindeutig nicht aus der Feder eines Or- densbruders, deutlich macht: Der Verfasser klagt die Führung des Ordens an als Urheber des gegenwärtigen Unheils und schließt mit einem Gebet an Maria als Patronin des Ordens mit der Bitte um Hilfe.57 Die Marien Verehrung spielte auch sichtbar in D a r s t e 1 1 u n g e n eine be- deutende Rolle. Von weitem grüßte das Standbild Marias den Hcrankommenden aus der Chornische der Kapelle des Hochschlosses58, die im übrigen Maria ge- weiht war (Abb. 3). Eine ebenso symbolische Nachfolge fand diese Darstellung unter Landmeister Wolter von Plettenberg in Livland. Über der Einfahrt in den inneren Burghof von Riga steht Maria mit dem Kind als Strahlenmadonna neben der Figur des Landmeisters; eine Datierungstafel nennt das Jahr 1515 (Abb. 4).59 Sie hat wiederum Conrad Steinbrecht bei der Restaurierung Marienburgs dazu veranlasst, 1909 eine ähnlich gestaltete Madonna mit Kind über dem Tor zum Mittelschloss anzubringen.60 Vgl. Udo Arnold, Hermann von Salza, in: Die Hochmeister des Deutschen Ordens 1190-1994 (Quel- len und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens 40 = Veröffentlichungen der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens 6), Marburg 1998, S. 12-16. Vgl. Marian DYGO, O kulcie maryjnym w Prusach krzyzackich w XIV-XV wieku, in: Zapiski Histo- ryczne LH, 1987, S. 237-270; englische Fassung: Hie political role of the cult ol the Virgin Mary in leulonic Prussia in the fourteenth and fifteenth ccnturies, in: Journal of Medieval History 15, 1989, S. 83-80. Vgl. Matthias TllUMSER, Eine neue Aufgabe im Heidenkampf? Pläne mit dem Deutschen Orden als Vorposten gegen die Türken, in: Europa und die Türken in der Renaissance, hg. v. Bodo Guthmüller und Wilhelm Kühlmann (Frühe Neuzeit 54), Tübingen 2000, S. 139-176, hier S. 172 f. und 176. Abb. einer farbigen Postkarte um 1930 in: Zamek wysoki w Malborku. Interdyscypliname badania skrzydla pdlnocnego. The High Castle of Malbork. Intcrdisciplinary Research on the Northern Wing, hg. v. Maiia Poksinska, Malbork 2(X)6, S. 163. Kazimicrz Pospicszny geht davon aus, dass bereits die erste Kapelle von ca. 1280 an ihrer Ostfassade ein Marienbild kannte, das spätere nach der Erweiterung der Kapelle im 14. Jahrhunden nur eine Replik sei; vgl. den Beitrag in diesem Band. Olfen bleibt, ob die Madonna vielleicht schon aus dem 15. Jahrhundert stammt; vgl. u.a. Ojärs SpärTtis, Formale Merkmale in der dekorativen Plastik und Skulptur des 16. und 17. Jh. als Indikator der inneren Periodisiening des Manierismus in Lettland, in: Sztuka prus XI1I-XV11I wieku, hg. v. Michal Wozniak (Sludia Borussico-Baltica Torunen.sia Historiae Artium I), Torun 1994, S. 227-263, hier S. 233 f. und 244. Zur allgemeinen Einordnung demnächst Udo ARNOLD, Literatur und Kunst im Leben des Deutschen Ordens in Livland, in: Der Deutsche Orden in Livland (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens). 60 Vgl. Rainer ZACHARIAS, Portale der Marienburg. Zeugnisse für Fortifikation und Frömmigkeit, in: Westpreußen-Jahrbuch 49, 1999, S. 5-24, bes. S. 9-11. 40 Udo Arnold
Abb. 3: Mosaikmadonna der Schlosskirche der Marienburg, Archiv Foto Marburg, siehe Farbtafel 1 Maria als Patronin des Deutschen Ordens 41
Abb. 4: Strahlenmadonna innerer Burghof Riga, Archiv Udo Arnold Am äußeren Stadttor von Marienburg, dem äußeren Marientor, befand sich ei- ne Marienkapelle, deren Ursprung nicht eindeutig datiert werden kann, die aber wohl nach 1410 errichtet wurde. Zu ihr stiftete Hochmeister Konrad von Erhch- shausen 1448 eine Vikarie. Der Besucher des Ordenszentrums wurde also ein weiteres Mal von der Gottesmutter begrüßt.61 Der offizielle Besucher des Hoch- meistersitzes Marienburg, der im Großen Remter empfangen wurde, erlebte so- dann das bedeutende Fresko der Marienkrönung von etwa 1330 (oder 1370-1390?) über dem Haupteingang an der Ostseite.62 Unter der Marienkapelle der Ordensbrü- der lag die neugebaute Kapelle mit der Gruft der Hochmeister, der Mutter Marias, Anna, geweiht. Während das Südportal als Eingang Christus gewidmet ist mit einer Kreuzesallegorie, Himmelfahrt und Jüngstem Gericht, zeigt das Nordportal als Aus- gang zum Begräbnisplatz der Brüder eine Trias der Marienverehrung: seitlich die Anbetung Christi durch die Könige - die Symbiose von Christologie und Mariolo- gie und somit der Übergang von Südportal zu Nordportal -, an_der an(^eren ^e^te den Tod Mariens, im Tympanon die Krönung (Abb. 5, 6 und 7). 61 Vgl. ausführlich Rainer ZACHARIAS, Wallfahrtsort Marienburg, in: Westpreußen-Jahrbuch 38, 1988, S. 95-110, bes. S. 98-107; zuletzt Wieslaw DLUGOKI'CKI, Kaplica i wikaria. NajswiQtszej Marii Panny na Bramie Przewozowej w Malborku w. sredniowicczu, in: Mieszczanie - wasale - zakonnicy, hg. v. Bkizej Sliwinski (Studia z dziejöw sredniowiecza 10), Malbork 2004, S. 61-73. 62 Vgl. Zacharias, Portale (wie Anm. 60), S. 14 f. 61 Abb. in: Zainek wysoki (wie Anm. 58), S. 164 f. 42 Udo Arnold
Abb. 5: Marienburg, Annenkapelle, Anbetung der Könige, Foto: Udo Arnold Abb. 6: Marienburg, Annenkapelle, Marientod, Foto: Udo Arnold Maria als Patronin des Deutschen Ordens 43
Abb. 7: Marienburg, Annenkapelle, Marienkrönung, Foto: Udo Arnold Die preußische Marienburg mag ein Zentrum marienbezogener Darstellungs- formen gewesen sein, doch steht sie damit keineswegs allein. Gerade Marienkrö- nungen kennen wir auch aus anderen Kirchen in Preußen - Graudenz, Elbing, Wormditt ohne dass sie zwingend mit dem Orden in Verbindung gebracht wer- den müssen, sondern eher auf nicht dem Orden zuzuschreibende westeuropäische Vorbilder zurückzuführen sind.64 Wahrscheinlich bildeten solche Steinmetzarbei- ten oder Fresken sogar ein Vorbild für die Buchmalerei, beispielsweise in der Jüngeren Königsberger Apokalypse vom Ende des 14. Jahrhunderts für die Ma- rienkrönung (Abb. 8).65 Ob dies auch für den dritten (einzig erhaltenen) Band der Bibel des späteren Hochmeisters Luther von Braunschweig aus seiner Zeit als Komtur von Christburg (1314-1331) gilt, mag offenbleiben: in der Initiale D zu Beginn der Makkabäerbücher die Krönung Mariens, darunter in Adorantenhaltung ein Oidensritter - wohl Luther selbst - und ein Ordenspriester. Es handelt sich wahischeinlich um die älteste Darstellung der Marienkrönung im preußischen Ordenszweig, 1321 datiert (Abb. 9).66 Vgl. Jerzy Domaslowski, Malerei im Deutschordensland Preußen, in: Deutscher Orden 1190-1990 (I agungsberichte der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung 11), Lü- neburg 1997, S. 131-170, hier S. 137, Abb. 11 zu Wormditt; weiterführend Ingrid FLOR, Glaube und Macht. Die mittelalterliche Bildsymbolik der trinitarisehen Marienkrönung (Schriftenreihe des Instituts für Geschichte 16), Graz 2(X)7, S. 153 f. 65 Das vermutet Rainer KAHSN1TZ, in: 800 Jahre Deutscher Orden. Ausstellung des Gennanischen Natio- nalmuseums 1990. Ergänzungen und Korrekturen, zusammengestellt von Irmtraud Frfr. von Andrian- Werburg, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1992, S. 7-62, hier S. 19 f.; vgl. in diesem Band Sabine JAGODZINSKI, „knecht und frowe“ - Ordensritterliche Marienverehrung in der illustrier- ten Apokalypse Heinrichs von Hesler. 66 Handschrift von 1321, Krakow, Archiwum Kapituly Metropolitanej Krakowskiej, nr 63/10. Vgl. zur Handschrift die neueste Untersuchung bei Helms (wie Anin. 37). Zur Einordnung vgl. Domaslowski (wie Anm. 64), S. 132. 44 Udo Arnold
Abb. 8: Marienkrönung, Apokalypsenkommentar des Heinrich von Hesler, BG UMK Toruh, Msk. Nr. 44 Abb. 9: Bibel des Luther von Braunschweig, Initiale D mit Marienkrönung, aus: 800 Jahre Deutscher Orden (wie Anm. 53), S. 99 Symbolisch an die Seite zu stellen ist die indirekte Form der Marienvcrchrung in der Darstellung des Turms Davids. Peter von Dusburg beruft sich in seiner Chronik auf das Hohelied Salomons, dass am Turm Davids die gesamte Rüstung der Tapferen hing.67 Dem Turm Davids entspricht im Speculum humanae salva- tionis, einem weitverbreiteten mittelalterlichen Andachtsbuch, als neutestamcntli- ches Pendant Maria. In mehreren Handschriften ist der Turm mit Dcutschordens- 67 Scriptum est in canticis, quod in turn David omnis armatura forcium dependebat; Dusburg (wie Anm. 18), Buch II, Kap. 8, S. 40. Maria als Patronin des Deutschen Ordens 45
Schilden behängt, der Orden bietet den Schild Mariens (Abb. 10).6!i Eine solche Handschrift dürfte ebenfalls Vorlage für die Übertragung des Heilsspiegels auf die Chorwände des Königsberger Domes gewesen sein; die Nordwand hat vermutlich auch diese Darstellung enthalten, wenngleich die Zerstörung aller Fresken jener Wand eine genaue Bestimmung nicht mehr möglich macht. Abb. 10: Turm Davids, aus: Ritter und Priester (wie Anm. 68), siehe Farbtafel 2 Desgleichen befanden sich im persönlichen Gebrauch des Ritters Gegen- stände der Marienverehrung, zum Beispiel das Reliquiar des Eibinger Komturs Thilo von Lorich um 1388, ein Dyptichon: außen als Silbergravur ein die Gottes- mutter mit Kind verehrender Ordensritter mit der hl. Barbara im Hintergrund, innen die Kreuzigung und eine ausführlichere Wiederholung der Marienvereh- rung, auf der Rückseite außen der Schmerzensmann, eine künstlerisch sehr hoch- stehende Arbeit (Abb. 11).* 69 70 ,,K Ausführlicher mit Abb. in: Ritter und Priester. Acht Jahrhunderte Deutscher Orden in Nordwesteuropa. Ausstellung der kmdcommandcrij Alden Biesen und des Vlaams Commissariaat-Gcneraal voor Toe- risme in Zusammenarbeit mit der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deut- schen Ordens und dem Historisch Studiecentrum Alden Biesen (Katalog), hg. v. U. Arnold u.a., [Alden Biesen| 1992, S. 11-13; niederländische Ausgabe: Ridders en Priesters. Acht eeuwen Duitse Orde in Noord-wesl-Europa. Tentoonstclling ..., hg. v. U. Arnold u.a., | Alden Biesen) 1992, S. 11-13. 69 Vgl. Walter SEYDEL, Mittelalterliche Wandmalereien im Chor des Domes zu Königsberg Pr., Königs- berg 1930, Tafel 1 und 2 sowie S. 18. Zuletzt mit sehr guten Abb. in: Imagines Potestatis (wie Anm. 53), deutsche Ausgabe S. 329-331; polnische Ausgabe S. 443-445; die wichtigste jüngere Untersuchung von Michal WOZNIAK, Das Reli- quiendiplychon des Eibinger Hauskomturs Thilo von Lorich, in: 800 Jahre, Ergänzungen (wie Anm. 65), S. 51-62; unwesentlich erweitert DERS., Dyptyk relikwiarzowy elblqskiego komtura domowego 46 Udo Arnold
Abb. 11: Reliquiar des Eibinger Komturs Thilo von Lorich, aus: Imagines Potestatis (wie Anm. 53), S. 444 Abb. 12: Schwerterkette des Deutschmeisters, aus: Imagines Potestatis (wie Anm. 53), S. 224 Thiele von Loricha, in: Praeterita Posteritati. Studia z historii sztuki i kultury ofiarowane Maciejowi Kilarskiemu, hg. v. Mariusz Mierzwiriski, Malbork 2001, S. 481 -500. Maria als Patronin des Deutschen Ordens 47
Von der Qualität noch bedeutender ist die Schwerterkette des Deutschmeisters aus der Zeit um 1500, aufbewahrt im Schatz des Deutschen Ordens in Wien. Zwölf gegeneinandergestellte Schwerter, durch die Parierstangen miteinander verbunden, werden rechts und links durch je fünf einfache Ordensschilde getrennt; am Rücken hängt der Schild an den äußeren Schwertern etwas herab, auf der Brust trägt er in Form eines Anhängers die thronende Madonna mit Kind. Es handelt sich um „die größte und aufwendigste Insignie des Deutschen Ordens, und in ihrer Eigenartigkeit ist sie zugleich die ungewöhnlichste“ (Abb. 12).71 Das Dyptichon Thilos von Lorich lässt - im Gegensatz zur Schwerterkette - sicherlich einen Rückschluss auf eine besondere, persönliche Marienverehrung zu. Ähnliches können wir auch bei Hochmeistern feststcllen. So stiftete auf seinen Umritten anlässlich eines Messebesuches Hochmeister Konrad von Jungingen (1392-1407) Votivtafeln offenbar gerne in Kirchen und Kapellen zu Ehren der Gottesmutter; eine besondere Stellung nahm dabei die Marienkapelle von Lubc- nitz bei Neumark in der Löbau ein, die der Meister 1399/1400 erbauen ließ und die er in jener Zeit öfter besuchte.72 * * Ein weites Feld, für den Gesamtorden großenteils unbeackert, stellen die Kir- chen-, Kapellen- und Altar patrozinien mit den zugehörigen Altären dar. Hier wie in den übrigen Bereichen sollte sich die Untersuchung nicht nur auf Preußen beschränken, sondern Livland und den Ordenszweig im Reich einbe- ziehen. Für die Konvcntskapelle in Marienburg kennen wir das Marienpatrozi- nium, auch für die auf dem Schlachtfeld von Tannenberg nach 1410 errichtete Kapelle , ebenso für die Marburger Kommendcnkapelle, die heute sogenannte Elisabethkirchc.75 Gleichfalls zu nennen wäre das Marien- und Elisabethpatrozi- nium der Kommenden- und Hospitalkapellc Koblenz oder das Marienpatrozinium der Kommcndenkapelle Alden Biesen, beide Kapellen auch mit entsprechenden Marienstatucn ausgestattet;76 hier ist der Ergänzungsbedarf kunsthistorischer For- schung groß. Nur ein weniger bekanntes, wenngleich künstlerisch hochstehendes Beispiel eines Altargcmäldes sei genannt: Christi Geburt von Jost Haller um 1455 aus der Kommende Saarbrücken, gestiftet von einem Dcutschordenspricster - was ungewöhnlich war im Vergleich mit ritterlichen Stiftern -, der vielleicht aus der Raphael Beuing, in: Imagines Potestatis (wie Anm. 53), deutsche Ausgabe S. 108 f. mit Abb.; polni- sche Ausgabe S. 224 f. Vgl. Das Marienburger Tresslerbuch der Jahre 1399-1409, hg. v. [Erich] JOACHIM, Königsberg 1896, Register s.v. Lubenicz; dazu Marek Radoch, Tabliczki wotywne wiclkich mistrzöw Zakonu Krzyzackiego Konrada i Ulryka von Jungingen dla kosciolow w Prusach (w swietle ksit^gi pods- karbiego malborskiego z lat 1399-1409), in: Mieszczanie - wasale - zakonnicy, hg. v. Blazej ; < Sliwbiski (Studia z dzicjöw sredniowieeza 10), Malbork 2004, S. 163-172. Für Preußen vgl. die Arbeiten von Waldemar ROZYNKOWSKJ, besonders Omnes Sancti et Sanctae Dei. Studium tiad kaltem swi&ych vr diecezjach pruskich zakonu krzyzackiego, Malbork 2006, zu Maria S. 158-169; DLRS., Dzicdzictwo rcligijnc po zakonie krzyzackim w okresie nowozytnym - wybrane zagadnienia, in: Homo doctus in sc semper divitias habet. Ksi^ga Pamiqtkowa ofiarowana Profeso- rowi Jaauszowi Mallkowi, hg. v. Wojciech Polak, Tonin 2008, S. 251-262, zu Maria S. 256 f.; DERS., Marienkult in den Kapellen der Deutschordenshäuser in Preußen im Licht der Inventarbücher, in die- sem Band. Vgl. Johann von Posilge, Chronik des Lindes Preußen. Fortsetzung, hg. v. Ernst Strchlkc, in: Scriptores rerum Prussicarum Hi, Lipzig 1866, ND Frankfurt/M. 1965, S. 333. Vgl. Matthias Muller, Die „Hauptkirche“ des Deutschen Ordens in Marburg und ihre Ausgestaltung zu einem Ort konkurrierender i leiligenkulte, in diesem Band. 6 Vgl. Ritter und Priester (wie Anm. 68), S. 16-21. 48 Udo Arnold
elsässischen Familie Obertzheim oder Odratzheim stammte. Das eindeutige Zent- rum des Gemäldes stellt die anbetende Gottesmutter dar, auf die auch der Blick des anbetenden Stifters gerichtet ist77 und die als Zentralfigur zusätzlich betont wird, da die Szene zwar alle üblichen Attribute enthält - Joseph, Ochs und Esel, in der Höhe Gottvater sowie einen Engelschor -, sich jedoch nicht in einem Stall abspielt, sondern im hortus conclusus, einer Maria vorbehaltenen Darstellungs- form (Abb. 13).78 Um auf Preußen zurückzulenken, sei nur der Graudenzer Altar genannt, aus der Kapelle der Ordensburg Graudenz stammend, der Mariologie und Christologie in großartiger Form verbindet.79 Abb. 13: Christi Ge- burt von Jost Haller aus Kommende Saarbrücken, aus: 800 Jahre Deutscher Orden (wie Anm. 53), I.3.6 77 Auf diesen Umstand in der Maricnkrönung der Thomer Handschrift der Apokalypse (Tonin, Biblioteka Glowna UMK, rkp 44, fol. 175v-176r) weist ausdrücklich Sabine Jagodzinski in ihrem Beitrag in die- sem Band hin und interpretiert ihn als Beispiel höfischer Minne. Die Abb. in 8(X) Jahre. Ergänzungen (wie Anm. 65), S. 20 f. scheint mir diesen Blickverbund allerdings weit weniger deutlich zu zeigen als das vorliegende Altarbild. 7K Heute im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg; vgl. 8(X) Jahre (wie Anm. 53), S. 27 mit Abb. 79 Vgl. Adam S. LabüDA, Die Spiritualität des Deutschen Ordens und die Kunst. Der Graudenzer Altar als Paradigma, in: Die Spiritualität der Ritterorden im Mittelalter, hg. v. Zenon Hubert Nowak (Ordines militares VII), Toruri 1993, S. 45-73; dort einleitend auch die vorhergehende polnische kunsthistorische Forschung zur Verbindung von Kunst und Ordensspirilualität referiert. Maria als Patronin des Deutschen Ordens 49
Abb. 14: Tenkitter Altar mit Marienkrönung, aus: 800 Jahre Deutscher Orden (wie Anm. 53), II.7.66 Hinzu kamen natürlich die Schnitzaltäre, von denen auch nur ein Beispiel ge- nannt sei. Der auf 1504 datierte Tenkitter Altar mit der zentralen Darstellung einer Marienkrönung geht auf die Stiftung von Ordensrittern - Reitzenstein und Waib- lingen zur Zeit Hochmeister Friedrichs von Sachsen (1498-1510) - zurück und ist dem in Preußen sonst nur von Fresken aus nicht dem Orden inkorporierten Kir- chen bekannten Typ der trinitarischen Marienkrönungen an die Seite zu stellen (Abb. 14).80 In ihm verbinden sich, wie im Königsberger Dom, Marien- und Adal- bertverehrung miteinander, ein typisch samländisches Phänomen.81 Eine besonde- re Form der geschnitzten und bemalten „Bilder“ stellen die Schreinmadonnen dar, die ursprünglich aus dem Rheinland (Ober- oder Niederrhein?) stammen und in Preußen in der dort entwickelten Form der nach ihrer Öffnung zur Schutzmantel- madonna gewordenen Darstellung einen deutlichen Rezeptionsschwerpunkt erfah- ren haben.82 Im geschlossenen Zustand stellen sie eine Madonnenfigur dar, die geöffnet in ihrem Zentrum einen Gnadenstuhl als Trinitätsdarstellung zeigt und auf den geöffneten Flügeln figürliche Malerei (Abb. 15). K" Vgl. oben bei Anm. 64. KI Vgl. 800 Jahre (wie Anm. 53), S. 123 und zuletzt Imagines Potestatis (wie Anm. 53), deutsche Ausgabe S. 348 f. bzw. polnische Ausgabe S. 462 f. K2 Vgl. Gudrun RADIJZR, Die Schrcinmadonna „Vierge ouvrante“ von den bemhardinischcn Anfängen bis zur Frauenmystik im Deutschordensland mit beschreibendem Werkkatalog (Frankfurter Fundamente der Kunstgeschichte VI), Frankfurt/M. 1990; dazu meine Rezension in: Preußenland 41, 2003, S. 71 f. Vgl. auch 8(X) Jahre (wie Anm. 53), S. 119 f.; 800 Jahre. Ergänzungen (wie Anm. 65), S. 24-31; Imagi- nes Potestatis (wie Anm. 53), deutsche Ausgabe S. 342-344 bzw. polnische Ausgabe S. 456-458. 50 Udo Arnold
Abb. 15: Schreinmadonna aus Elbing Die Intensität der Diskussion um diese besondere Darstellungsform und ihre Verwendungen macht allerdings deutlich, wie sehr die Ergebnisse hinsichtlich der möglichen Beziehungen zum Deutschen Orden vermutungs- und interpretations- bedingt sind: Sind die auf den inneren Flügeln dargestellten Ordensbrüder viel- leicht Stifter - dann wäre die Beziehung sehr eng - oder sind sie Teile einer Hier- archie der Gläubigen - dann wäre es nur eine preußische Variante allgemein- hierarchischer Vorstellungen. Abb. 16: Siegel des Hoch- meisters, aus: 800 Jahre (wie Anm. 53), S. 372 Maria als Patronin des Deutschen Ordens 51
Ein Bereich der Kleinkunst ist noch anzusprechen, der in der Kunstgeschichte meist ausgeklammert wird, das Siegel .8^ Die Führung eines persönlichen Wappens oder Siegels war dem Deutschordensbruder untersagt. Mit dem Eintritt in den Orden gliederte er sich in eine neue Gemeinschaft ein und gab seine bishe- rige Individualität auf. Das Siegel war ein Amtssiegel, kein Kennzeichen der Per- son. Das gilt selbst für die Hochmeister bis zum Ende des 15. Jahrhunderts. So spiegelt sich im Siegel auch viel stärker das Selbstverständnis der Korporation Deutscher Orden wider als in einem persönlichen Wappen. Das Wappen erbte man, das Siegel wurde ganz bewusst durch die Korporation gewählt, es kenn- zeichnete das Amt und das Sclbstvcrständnis, das nach außen wie auch innerhalb des Ordens dokumentiert werden sollte. Darin unterschied sich der Orden deutlich von anderen Siegclführern. Geistliche Institutionen führten meist das Bild ihres Patrons, was bereits eine Form der Entpersönlichung bzw. der Neuidentifikation der Person mit dem Patron darstcllt. Der Deutsche Orden ging diesen Weg ganz konsequent. Selbst in den ganz wenigen Fällen der Frühzeit des Deutschen Or- dens, in der die Siegelumschrift den Namen des Siegelführers nennt, wird ein unpersönliches, symbolisches Siegelbild benutzt, z.B. eine Mariendarstellung im Siegel des MAGISTER H von 1225.84 Die Tatsache der weiten Verbreitung des Ordens von Spanien bis ins heutige Estland, von Griechenland bis nach Belgien und in die Niederlande, und damit die Vielzahl der Amtsträger bedingte eine sehr große Zahl unterschiedlicher Siegel, da sich die Siegelbilder möglichst nicht wie- derholen sollten. Mariendarstellungen finden wir häufig, angefangen bei der Ordensspitze, dem Hochmeister: Maria sitzt auf einem gotischen Thron und hält den Knaben auf ihrem Schoß (Abb. 16). Dieses Siegelbild dürfte von Anfang an von den Hoch- meistern benutzt worden sein und blieb - auch wenn ein neuer Stempel geschnit- ten werden musste - über 300 Jahre lang erhalten.85 Die Rangabstufung der nach- geordneten Amtsträger drückte sich auch im Siegelbild aus: Der Magister citra mare aus dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts führt eine Dreiviertel-Marien- figur ohne Jesuskind;86 der gleichzeitige Magister H, dessen Aufgaben nicht ein- deutig geklärt sind, zeigt nur ein Brustbild Marias mit Kind,87 ebenso der etwas später zuerst nachweisbare Deutschmeister.88 89 Später nahm man das nicht mehr so genau - was allerdings auch mit der ungewöhnlichen Entstehung dieses zweiten Siegels der Kommende Zusammenhängen kann -, wie etwa bei dem erstmals aus der Mitte des 14. Jahrhunderts bekannten Siegel der Kommende Ramersdorf: Maria sitzt auf einer Thronbank ohne Lehne, das Kind steht neben ihr auf der Bank.8) Selbstverständlich gab es neben der Darstellung Marias als Gottesmutter auch Szenen aus ihrem Leben. So war die Verkündigung an Maria beliebt: Der Vgl. 8(X) Jahre (wie Anin. 53), S. 368-405; Kreuz und Schwert. Der Deutsche Orden in Südwest- deutschland, in der Schweiz und im Elsaß. Ausstellungskatalog Schloß Mainau, hg. v. Udo Arnold, Mainau 1991, S. 152-162; Ritter und Priester (wie Anin. 68), S. 26-39; 8(X) Jahre. Ergänzungen (wie Anm. 65), S. 40-47. 81 Vgl. 8(X) Jahre (wie Anm. 53), S. 373 f. 8S Vgl. ebd., S. 370-372. 86 Vgl. ebd., S. 372 f. 87 Vgl. ebd., S. 373 f. 88 Vgl. ebd., S. 383 f. 89 Vgl. ebd., S. 393 f. 52 Udo Arnold
Landkomtur von Lothringen führte dieses Bild bis 1274. Es ist eine eindrucksvolle Darstellung, da sie die Szene auf die beiden monumental anzusehenden Personen reduziert.90 Dann übernahm der Komtur von Biesen dasselbe Thema auf sein Sie- gel, wobei die rahmende Architektur bereits eine deutliche Rolle spielte91, und nach 1295 finden wir das Thema beim Landkomtur der Niederlande in einer Form, bei der der Rahmen fast die Szene dominiert.92 Vergleichen wir die Zahl der Mariensiegel mit denen der anderen Patrone, wird auch hier die Abstufung deutlich, wie wir sie bereits im Festkanon sahen: Mit Georg kennen wir nur ein, vielleicht zwei Siegel in Preußen und im Reich93, für Elisabeth nur ein Siegel im Reich.94 Abb. 17: Siegel des Landmeisters von Livland mit Geburt Christi, aus: 800 Jahre (wie Anm. 53), S. 381 Mariologie und Christologie verbinden sich in einigen Szenen, wie wir bereits beim Nordportal der Annenkapelle der Marienburg in Preußen sahen. So findet sich die Geburt Christi auf dem Siegel des Landmeisters von Livland. Maria liegt auf einem erhöhten Bett unter einer eindrucksvoll drapierten Decke, am Fußende steht Joseph mit dem spitzen Judenhut. Darüber sind die Krippe mit dem Kind sowie Ochse und Esel erkennbar (Abb. 17).95 * * * Die Anbetung der Könige finden wir 90 VgL ebd., S. 388; Ritter und Priester (wie Anm. 68), S. 33. 91 Vgl. Ritter und Priester (wie Anm. 68), S. 29 f. 92 Vgl. ebd., S. 27 f. 93 Konventssiegel in Preußen von 1230/32; vgl. 8(X) Jahre (wie Anm. 53), S. 374 f. - Landkomtur von Westfalen, 2. Hälfte 13. Jahrhundert, vielleicht aufgrund des Georgspatroziniums der Landkommende Münster, jedoch ohne Nimbus auch möglicherweise ein Ordensritter; vgl. ebd., S. 390. 94 Landkomtur von Marburg, also der Grablege Elisabeths; vgl. ebd., S. 389 f. 9> Vgl. Est- und Livländische Brieflade, Teil IV: Siegel und Münzen der weltlichen und geistlichen Gebietiger über Liv-, Est- und Curland bis zum Jahre 1561 nebst Siegeln einheimischer Geschlechter, hg. v. Robert von Toll und Johannes Sachssendahl, Reval 1887, S. 22-27 und Tafel 7, Nr. 5 und F, Nr. 7-9; 8(X) Jahre (wie Anm. 53), S. 380 f. Maria als Patronin des Deutschen Ordens 53
beim Landkomtur von Biesen seit etwa 1323: Die rechts sitzende Maria hat das stehende Kind auf dem Schoß. Vor ihnen kniet der erste König, die beiden ande- ren stehen hinter ihm. An derselben Urkunde aus dem 15. Jahrhundert hängt auch das Siegel des Konvents von Maastricht. Es zeigt ebenfalls die Anbetung, wenn auch im Bild um die beiden stehenden Könige reduziert und seitenverkehrt zu Biesen: Die enge Abhängigkeit Maastrichts von Alden Biesen kommt darin zum Ausdruck.96 Auch bei den Siegeln sehen wir also die deutliche Betonung Marias als Patronin des Ordens, wobei die Zahl der Maricndarstellungen die Zahl der Christusdarstellungen noch übersteigt. Allerdings ist das Problem der Beziehung zwischen Mariensiegcln und dem Orden auch in Preußen sehr wohl gegeben. So verweist beispielsweise Liliana Krantz-Domaslowska durchaus nachvollziehbar für das Siegel des Marienwerderer Domkapitels auf die Verbindung von Patronin des Domes und Patronin des Ordens97 - das Domkapitel war dem Orden inkorpo- riert, bestand also aus Deutschordenspriestern. Allerdings kennen wir das ein Jahrzehnt ältere Siegel des Domkapitels von Lcslau/Wloclawek mit einer ganz ähnlichen Darstellung98 - ein Bezug zum Orden ist mit Sicherheit auszuschließen. Die Problematik der Interpretation eindeutiger Fakten wird hier sehr deutlich, nicht jeder Marienbezug in Preußen ist auch ein Ordensbezug. Im Übrigen findet sich die Darstellung Mariens nicht nur auf Siegeln, sondern auch auf einem ähnlichen Kleinkunstwerk, der Münze. Während ein preußischer Brakteat des 13. Jahrhunderts nur in Form des Beizeichens Lilie indirekt auf Ma- ria verweist, zeigen zwei Goldguldcn des Statthalters und Hochmeisters Heinrich von Plauen (1410-1413) auf dem Revers Maria mit dem Kind.99 Erst Hochmeister Friedrich von Sachsen (1498-1510) griff das Marienmotiv auf einem Breitgro- schen wieder auf, was allerdings auch gleichzeitig in Pommern geschah.100 Im livländischen Ordenszweig zeigt der seit 1510 in Riga geprägte Ferding (1/4 Mark) des Ordens auf dem Avers Maria mit Kind und Szepter, darunter das Per- sonalwappcn des Landmeisters Plettenberg, auf dem Revers das Stadtwappen von Riga.101 Abschließend sei auf einen besonderen Punkt hingewiesen, der für den Or- densritter durchaus wichtig war. Er hatte Keuschheit gelobt, und das Ordensleben kannte keine Frauen im Konvent. Sexuelle Handlungen waren unter Strafe ge- stellt. Die Frau musste aber keineswegs nur Gegenstand sexueller Begierde sein. Wir kennen aus dem späten Mittelalter sehr wohl die minne mit der Mehrfachbe- dcutung von der geschlechtlichen Liebe des Beischlafs bis hin zu freundlichem Vgl. Ritter und Priester (wie Anm. 68), S. 28 f. Vgl. Liliana Krantz-Domaslowska, Der „Maricncharakter“ des Doms zu Marienwerder - ein vereinzeltes Beispiel?, in diesem Band. Abb. des Siegels nach Umzeichnung in: Beitrage zur Geschich- te Westpreußens 19, 2004, S. 8. * Vgl. Mario G1.AUERT, Das Domkapitel von Pomesanien (1284-1527) (Prussia Sacra 1), Torun 2003, S. 236 f. Vgl. Jürgen SARNOWSKY, Ritterorden als Landesherren: Münzen und Siegel als Selbstzeugnisse, in: Selbstbild und Selbstversländnis der geistlichen Ritterorden, hg. v. Roman Czaja und Jürgen Sarnows- ky (Ordines militares XIII), Tonin 2(X)5, S. 181-197, hier S. 186 mit Abb. 11, S. 189 mit Abb. 20. 100 Vgl. Emil WASCHINSKI, Die Münz- und Währungspolitik des Deutschen Ordens in Preußen, ihre historischen Probleme und seltenen Gepräge (Der Göttinger Arbeitskreis: Veröffentlichung 60), Göt- tingen 1952, S. 159 f. und Tafel 2, Abb. 3. 101 Vgl. Erich Neumann, Die Münzen des Deutschen Ordens in Preußen, Livland und Mergentheim ..., [Köln]21995, Nr. 230 (inzwischen ’2(X)3). 54 Udo Arnold
Gedenken und Erinnerung, Freundschaft, Zuneigung und Wohlwollen oder gar zu religiöser Liebe, die in der minne zur geistlichen Bittformel in der Bedeutung „um Gottes Willen“ werden ließ.102 Eine solchermaßen sublimierte Liebesbeziehung war dem Bruder natürlich erlaubt, und der Orden bot gleich zwei Patroninnen an, die möglicherweise in Frage kamen: Elisabeth von Thüringen und Maria, die Gottesmutter. Elisabeth war sicherlich eine Heilige, der nachzueifern eine gute Tat darstellte, doch richtete sich solches in erster Linie auf den Hospitalitätsgedanken und die praktische Arbeit in den Ordensspitälern. Bedeutender in der Hierarchie, eben oberste Ordenspatronin, war die Gottesmutter. Daher ist mit Georg Hofmann zu formulieren: „Dem Ritter der freiwilligen Armut, des Gehorsams gegenüber einem Ordensoberen, der Keuschheit des Leibes und des Herzens musste der Ge- danke an eine irdische Herrin fremd sein. Aber darum sollte in seinem Leben jene zarte Verehrung, wie sie nur eine edle Frau im Manne wecken kann, nicht fehlen. In sinniger Umbiegung des Gedankens vom Frauendicnste ins Übernatürliche, ja Mystische, beugt der Gottesstreiter sein Knie vor dem Urbild aller edlen Frauen, vor der schönsten Blume des Gottesgartens, vor Maria, die ihm nicht nur die ,liebe Mutter, die reine Magd, die süsse Königin des Himmels4, sondern im besonderen noch die vrowe sin, seine himmlische Herrin ist!“103 Dieses fast schon selber ins Mystische weisende Zitat kennzeichnet gut die Form der Sublimierung von Min- ne, die wir beim Deutschordensbruder immer wieder antreffen können. Allein die von Dusburg zum Teil ausführlich geschilderten Marienwunder - fast immer am Individuum geschehen - zeigen, welche Form der Minne nach Ablegung des Keuschheitsgelübdes dem Ordensbruder verblieb und offenbar eine nicht unwe- sentliche Rolle in seinem Leben spielte.104 Als ich vor 30 Jahren begann, mich mit den Patronen des Ordens zu beschäfti- gen, geschah dies unter der Fragestellung, ob der Ordenszweig in Preußen seine Patrone dem Lande mitgegeben oder ob er sic für sich selber behalten habe. Dabei klammerte ich Maria bewusst aus, weil sie für eine solche Fragestellung noch ungeeigneter ist, als das bei Elisabeth schon der Fall sein kann. Während Elisabeth bereits kurz nach ihrer Kanonisation zur gesamteuropäischen Heiligen aufstieg und nicht mehr grundsätzlich für eine Verbindung mit dem Deutschen Orden stand, gilt dies für die Gottesmutter in noch viel höherem Maße. Eine Bezugnah- me auf sie bedeutete keineswegs direkten oder indirekten Einfluss des Deutschen Ordens, und so haben wir auch bei unserer Tagungsthematik stets das Problem vor uns, ob Marienverehrung im mittelalterlichen Preußen - ebenso wie in Livland als Marienland - im Konnex mit dem Orden zu sehen ist, seinen Anspruch und sein Selbst Verständnis belegt, oder unabhängig von ihm sich entwickelte, geradezu konkurrierend - nicht jeder Beleg für Maria in Preußen ist mit dem Orden verbun- den, und sogar viele auf Maria bezogenen Belege bleiben spekulativ, so dass ein Bezug zum Orden erst recht nicht hergcstellt werden darf.105 Wir werden uns diese 102 Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, 16 Bde., Leipzig 1854-1960, ND Leipzig 1962, ND München 1999, hier Bd. 12, 1885, Sp. 2238-2241 s.v. Minne. Georg Hoi'MANN, Studien über das religiöse Leben der Deutschordensritter auf Grund ihrer Dichtung, Diss. masch. Frankfurt/M. 1925, S. 80; vgl. auch Udo ARNOLD, Die Frau im Deutschen Orden, in: Sta- tionen einer Hochschullaufbahn. Festschrift für Annette Kuhn zum 65. Geburtstag, hg. v. Udo Arnold, Peter Meyers und Uta C. Schmidt, Dortmund 1999, S. 261-276. 11,1 Vgl. dazu Anm. 46. ",s Vgl. das Problem der Schreinmadonnen, oben bei Anm. 82. Maria als Patronin des Deutschen Ordens 55
Fragen immer wieder stellen müssen, wenn wir die Rolle Marias für das Land, aber auch als Patronin des Deutschen Ordens richtig einschätzen wollen. Dabei stellen allerdings die von mir aufgezeigten Belege für Marienverehrung innerhalb des Ordens mitnichten die Gesamtheit dar, sondern sollen in allen Bereichen nur Beispiele bieten, die sich bereits aufgrund heute vorhandener Kenntnis, erst recht jedoch bei systematischer Suche jederzeit vermehren lassen. 6 Udo Arnold
Der Marienkult in den Kapellen der Deutschordenshäuser in Preußen im Lichte der Inventarbücher Waldemar Rozynkowski Die Gestalt der allerseligsten Jungfrau Maria hat sich tief in die Geschichte des Deutschen Ordens eingeprägt. Ihr Name erscheint bereits im Namen der Gemein- schaft, der in seiner vollständigen Form lautet: „Ordo domus Sanctae Mariae Theutonicorum lerosolimitanorum“. Die Namensgebung bedeutet in diesem Fall beinahe eine Namensverleihung, und gerade das spielte im Christentum eine sym- bolische Rolle: Wie in der Sprache der Bibel beinhaltete der Name gewissermaßen das Lebensprogramm.1 2 3 Der Name der Muttergottes im Namen des Ordens wies darauf hin, dass Maria für die Ordensgemeinschaft von immenser Bedeutung war. Der Bezug auf Maria war ein wichtiges, wenn nicht sogar das wichtigste Element der Identität der Ordensbrüder. Schwerpunkt des vorliegenden Beitrags ist die intensive Suche nach der An- wesenheit Mariens in den Kapellen der Deutschordenshäuser in Preußen. Es ist dabei zu beachten, dass die Kapellen diejenigen Stätten waren, an denen sich das liturgische Leben der Ordensgemeinschaft konzentrierte. Hier wurden mehrmals, sowohl bei Tag als auch in der Nacht, die liturgischen Horen gebetet, für die le- benden und verstorbenen Ordensmitglieder sowie für zahlreiche Wohltäter Für- bittgebete verrichtet, aber vor allem wurde die Hl. Eucharistie gefeiert. Wie auch bei anderen Sakralbauten erhebt sich die Frage, in welcher Weise die Heiligen dort repräsentiert werden, vor allem die in besonderer Weise verehrten Heiligen, unter denen beim Deutschen Orden die allerseligste Jungfrau Maria hervorragte.“ Quelle für den vorliegenden Beitrag sind die Inventarbücher der ordensritterli- chen Häuser vor allem aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, wie das Große Ämterbuch des Deutschen Ordens, das Marienburger Ämterbuch und das Große Zinsbuch des Deutschen Ordens* In einigen Fällen wurden neuere Inventarbücher 1 Siehe: Stefan SZYMIK, Imi?, in: Encyklopedia katolicka 7 (1997), Sp. 57-58; Bronislaw Mokrzyckl Droga chrzescijahskiego wtajemniczenia, Warszawa 1983, S. 225-227; Boguslaw Nadolski, Liturgika, Bd. 3, Poznan 1992, S. 37. 2 Über die Funktionen der Deutschordensburgen, und hier vor allein Ordensfunktionen, siehe: Marian ARSZYNSKI, Die Deutschordensburg als Klosterbau, in: Spiritualität der Ritterorden im Mittelalter (Ordines militares. Colloquia Torunensia Historica, Bd. 7), hg. v. Zenon Hubert Nowak, Torun 1993, S. 147-164; DERS., Budownictwo warowne zakonu krzyzackiego w Prusach (1230-1454), Torun 1995, S. 182-183; Bernhart JÄHNlG, Funktionsbereiche der Deutsch- ordensburg, in: Sztuka w kr^gu zakonu krzyzackiego w Prusach i Inflantach, Torun 1995, S. 123- 136; Waldemar ROZYNKOWSKI, Zamek krzyzacki w Papowie Biskupim - klasztor, warownia, osrodek administracyjny i gospodarczy, in; Zamki i przestrzeh spoleczna w Europie Srodkowcj i Wschodniej, hrsg. v. Marceli Antoniewicz, Warszawa 2002, S. 339-352. 3 Das große Ämterbuch des Deutschen Ordens (im nachfolgenden GAB), hg. v. Walther Zisemer, Danzig 1916; Das Marienburger Ämterbuch (im nachfolgenden MA), hg. v. Walter Zisemer, Dan- zig 1916; Das große Zinsbuch des Deutschen Ritterordens (im nachfolgenden GZB), hg. v. Peter G. Thielen, Marburg 1958. Der Marienkult in den Kapellen der Deutschordenshäuser 57
aus dem 17. Jahrhundert ausgewertet, die, was hervorzuheben ist, nicht mehr vom Deutschen Orden selbst verfasst wurden. Aufmerksamkeit verdient zunächst der Charakter der hier analysierten Quel- len. Aufgabe eines jeden Inventars ist vor allem die Zusammenstellung sämtlicher vorhandenen Gegenstände. Wichtig war hierbei aber die Anzahl der Gegenstände, nicht deren detaillierte Beschreibung. Daher wäre es nicht angebracht, von diesen Quellen ausführlichen Angaben zu den Gegenständen und ihren Funktionen zu erwarten. Immerhin enthalten sie einige wichtige Informationen zu verschiedenen Aspekten des Ordenslebens, von denen einer das religiöse Leben ist, darunter wertvolle Angaben zum Maricnkult. Die Marienbezüge lassen sich in unterschied- liche Bereiche gliedern. I. Abbildungen Die Inventarbücher nennen eine recht große Anzahl von in den Deutschor- denskapcllen vorhandenen Bildnissen Mariens. Diese waren an folgenden Orten zu finden: Batga (Balga) In der Kapelle gab es ein Marienbild, dem sich ausdrücklich eine besondere Verehrung zuteil wurde. Die Inventarbücher nennen nämlich eine Krone, die es zieren sollte (1437): 7 silbern crone czum bilde unser lieben frauwen.4 Bratian (Brattian) In der Kapelle befand sich ein auf auf Holz gemaltes Marienbild (1439): 7 raf- fel von holcze, darin ist gemolt eyn creucze und 1 Maria5 Hier wird hier also wohl Bezug auf eine Kreuzigungsszene genommen. Brodn ica (Strasbu rg) Im Inventarbuch vom 1428 wird berichtet, dass es in der Kapelle ein kleines Bild der Mutter Gottes gab: eyn kleyn unser frauwen bilde.6 Wahrscheinlich eben- falls beim Hauptaltar befand sich ein Marienbild, das mit einer Krone geschmückt war. Das Inventarbuch vom 1447 nennt: 2 silberynne cronen die hangen czu dein hogen altare.1 Eine dieser Kronen zierte vielleicht das Bild des Jesuskindes. Gdansk (Danzig) Unter den Ausstattungsgegenständen des Hauptaltars wurde im Inventarbuch vom 1420 folgendes erwähnt: unser lieben frauwen bilde* Das Inventarbuch vom 4 GAB, S. 167; GZB, S. 47. 5 GAB, S. 372. 6 Ebd., S. 388. 7 Ebd., S. 395. 8 Ebd., S. 698. 58 Waldemar Rozynkowski
1428 nennt: eyn sulbern bilde unser frauwen? Vielleicht handelt es sich hier um dasselbe Bildnis. Elblqg (Elbing) Eine besondere Verehrung brachte man hier dem Bild der Muttergottes mit Je- suskind entgegen. Dies bezeugen Informationen über Kronen: 1 silberyn kröne uff unser frauwen bilde, item 1 silberyn croneleyn dem kinde Jhesu.}(} Auf einen do- minierenden Marienkult an diesem Ort verweist das bis heute erhaltene und der Muttergottes gewidmete Reliquiar, das 1388 vom Eibinger Komtur Thilo von Lorich gestiftet wurde.9 10 11 Grudziqdz (Graudenz) Besonders verehrt wurden hier nicht näher bekannte Marienbilder in der Ka- pelle. Es gibt Berichte über zwei davon: 7 bilde unser lieben frauwen von helfen- beyn (z.B. vom 1434)12 und 7 holczen toffel darynne ist unsir lieben frauwen bilde van bornsteyn (z.B. vom 1447).13 Vielleicht waren beide mit Schmuck versehen. In den Inventarbüchern sind nämlich folgende Erwähnungen zu finden: z. B. 3 mantel unser frauwen, item 4 krönen (1413)14; 2 mentel unser lieben frawen (1437).15 Kowalewo (Schönsee) Das Inventarbuch vom 1411 informiert darüber, dass es in der Kapelle zwei Abbildungen der allerseligsten Jungfrau Maria gab: 2 bildechin unszer frawen, eyns steynen, das andir beynen}6 Krölewiec (Königsberg) Unter einer Reihe von Heiligenbildern (der hl. Katharina, der hl. Barbara, der hl. Anna) trifft man auch die Darstellung der Muttergottes.17 18 19 Ihr Bild dürfte sich einer besonderen Verehrung erfreut haben. Das bezeugt unter anderem die Erwäh- nung im Inventarbuch vom 1431, derzufolgc sich in der Sakristei befunden haben: 4 silberen cronen unser frauwen.1* Dasselbe Inventarbuch nannte weiterhin: / silberin ceptrum unser frauwen}9 Dies bedeutet, dass das Marienbild mit Kronen (cs waren mehrere, sicherlich zu verschiedenen liturgischen Anlässen verwendet) und mit Zepter ausgezeichnet wurde. 9 Ebd., S. 704. 10 Ebd., S. 92-94. 11 Michal Wozniak, Dyptyk relikwiarzowy elbl^skiego komtura domowego Thiele von Loricha, in: Praeterita Posteritati, Studia z historii sztuki i kultury ofiarowane Maciejowi Kilarskiemu, hg. v. Mariusz Mierzwiriski, Malbork 2001, S. 481-500. 12 GAB, S. 602. 13 Ebd., S. 609. 14 Ebd., S. 599. 15 Ebd., S. 605. 16 Ebd., S. 414. 17 Geheimes Staatsarchiv Preussischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem, Ordensfolianten 136, k. 9-10. 18 GAB, S. 29. 19 Ebd., S. 29. Der Marienkult in den Kapellen der Deutschordenshäuser 59
Labiawa (Labiau) In den Inventarbüchern aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts trifft man folgende Informationen über: 3 silberyn cronen20 Die Kronen dienten sicherlich als Schmuck des Marienbildes. Ausdrücklich bestätigt dies das Inventarbuch vom 1513: 7 silbern kronchen zcum bilde Marie21 Die Inventarbücher nennen auch Vorhänge (Schleier), die bei dem Bildnis der Muttergottes im Gebrauch waren, denn es wird verzeichnet: 5 slayger czu unser frauwen bilde22 Laski (Laske) Zu Beginn des 17. Jahrhunderts gab cs am Altar der damaligen Kapelle ein Bild der Muttergottes.23 Es ist kaum zu entscheiden, ob sich das Bild bereits im Mittelalter an dieser Stelle befand, da Erwähnungen davon in den zeitgenössi- schen Inventarbüchern fehlen. Malbork (Marienburg) Die Kapelle der Muttergottes war die Hauptkirche des Hochschlosses. Es über- rascht nicht, dass man dort das Bild der allerseligsten Jungfrau Maria mit dem Jesuskind antraf. Das Inventarbuch vom 1394 nennt: 2 cronen von fyenem golde czu unser liben vrauwen bilde, item 2 silbirynne cronen ouch czu unsir liben vrauwen bilde24 Das Inventarbuch von 1437 macht eine Bemerkung auch hinsich- tlich der Kronen, welche die Figur des Jesuskindes zierten: und das kindeleyn hot ir ouch czwene die eyne guldyn die andere silberyn25 An anderer Stelle nennt das Inventarbuch aus demselben Jahr noch ein silbernes Zepter in Bezug auf das Je- suskind: eyn silbereyn czepter26 27. Bemerkenswert ist auch, dass es hier die Rede von zwei kompletten Kronensets ist: einem goldenen und einem silbernen. Viel- leicht waren sie für zwei verschiedene Bilder bestimmt, denn im Inventarbuch vom 1439 werden genannt: das bilde unser lieben frowen das grosse und 1 kleyn silbern unserfrowen bilde21 Es ist auch nicht auszuschließen, dass sie bei den Gottesdiensten abwechselnd aus Anlass verschiedener Feste verwendet wurden. 20 Ebd., S. 272, 274, 278, 282. 21 Ebd., S. 297. 22 Ebd., S. 272, 274, 278, 282. 23 Wojciech Hejnosz, Zrödla do dziejöw ekonomii malborskiej, Bd. 1. Torun 1959, S. 122; Agnieszka BLAZEWICZ, Wyposazenie kaplic krzyzackich zamköw wöjtowskich w Grabinach- Zameczku, Laskach i Sztumie, in: Komturzy, rajcy, zupani (Studia z Dziejöw Sredniowiecza, Nr. 11), hg. v. Blazcj Sliwinski, Malbork 2005, S. 24 24 MA, S. 123, 125, 126. 25 Ebd., S. 130. 26 Ebd., S. 127. 27 Ebd., S. 131. Siehe auch: Michal WOZNIAK, Przestrzeh liturgiczna i wyposazenie kosciola Najswi^iszej Marii Panny na zamku w Malborku - nowe u.stalenia, in: Zamek Wysoki w Malborku. Interdyscyplinarne badania skrzydla pölnoenego, hg. v. Maria Poksihska, Malbork/ Torun 2006, S. 83. 60 Waldemar Rozynkowski
Ragneta (Ragnit) In der Kapelle befand sich nicht eine näher bekannte, mit Kronen ausgezeich- nete Darstellung der Muttergottes mit dem Jesuskind. Im Inventarbuch vom 1425 ist diesbezüglich zu lesen: 2 silberyn cronen, die eyne unser frawen, die ander er em kynde2^ Starogröd (Althausen) Das Inventarbuch vom 1441 nennt drei rote Tücher (Vorhänge, Schleier): 3 ro- te tue her28 29, von denen eines vor unser lieben frawenbilde30 gehangen haben soll. Szczytno (Ortelsburg) In der Kapelle gab es ein Muttergottesbild, das im Inventarbuch vom 1440 er- wähnt wird: unsir frauwen bilde silbern.31 Sztum (Stuhm) Der Kontrollbericht vom 1615 gibt an, dass sich zu dieser Zeit in einem der Scitenaltäre der Kapelle ein Bild der Muttergottes und des Jesuskinds befunden habe32. Es ist möglich, dass es hier seit dem Mittelalter gehangen hat. Torun (Thorn) In der Kapelle stößt man auf ein Marienbild. Das Inventarbuch vom 1414 nennt: 2 silberyn cronen und eyn ceptrum unser liben frauwen 33 Wie hieraus zu entnehmen ist, war die Mariendarstellung mit Kronen und Zepter versehen. Im Inventarbuch vom 1418 wird noch hinzugefügt, dass das Zepter an Hochfesten verwendet wurde, denn es wird erwähnt: 1 silberyn cepter totum duplex34 Aus dieser Zusammenstellung lässt sich das Fazit ziehen, dass cs Marienbilder in allen betrachteten 16 Häusern des Deutschen Ordens gab. Dies ist eine recht hohe Anzahl, wobei zu berücksichtigen ist, dass es auf dem ganzen Dcutschor- densgebiet insgesamt etwa 60 wichtige Häuser gab.35 Eine detaillierte Analyse dieser Bildnisse gebührt zwar Kunsthistorikern, an- zunehmen ist jedoch, dass es sich zum großen Teil um Maricnstatuen handelte, diese wohl durchweg mit Jesuskind. Hervorzuheben ist, dass diese Bildnisse oft mit Kronen, Gewändern, Zeptern und Tüchern (Schleiern) geschmückt waren. 28 GAB, S. 280, 284, 294. 29 Ebd.,S. 511. 30 Ebd.. 31 Ebd., S. 100. 32 Lustracja wojewodztw Prus Krölewskich 1624, hrsg. v. Stanislaw HOSZOWSKI, Gdansk. 1967, S. 281; A. BLAZEWICZ, Wyposazenie kaplic, S. 27. 33 GAB, S. 434, 435, 437; GZB, S. 94. 34 GAB, S. 435. 35 Von Verwaltungstcilungen siehe auch: Janusz Tandecki, Podzialy administracyjne pahstwa zakonnego w Prusach, in: Panstwo zakonu krzyzackiego w Prusach. Podzialy administracyjne i kosciclne od XIII do XVI wieku, hrsg. v. Zenon Hubert Nowak, in Zusammenarbeit mit Roman Czaja, Torun 2000, S. 17-28 sowie in Anlehnung an die dort zusammcngcstellte Literatur. Der Marienkult in den Kapellen der Deutschordenshäuser 61
Dies bedeutet aber auch, dass sie sich im Focus einer besonderen Verehrung befanden. Die verzeichneten Bildnisse waren gewiss zum Teil mit Altären zur Ehre der Muttergottes verbunden. II. Altäre In jeder Schlosskapelle musste es selbstverständlich wenigstens einen Altar geben. Er war unentbehrlich, um die Hl. Messe feiern zu können, die im Mittel- punkt des gemeinschaftlichen Lebens der Deutschordensritter stand. In meisten Fällen gab es in den Kapellen des Ordens wohl nur einen Altar. In größeren Or- denshäusern aber befanden sich neben dem Hauptaltar noch zwei oder drei Seiten- altäre. Leider liefern die Inventarbücher keine detaillierte Charakteristik der Altä- re, und sie beschränken sich lediglich auf das Nennen von deren Anzahl. In eini- gen Fällen wird jedoch eigens angegeben, dass es sich um Marienaltäre handelte. B rodn ica (Strasbu rg) Am 9. Mai 1339 soll der Kulmer Bischof Otto den Hauptaltar zu Ehren des Leibes Christi und der allerseligsten Jungfrau Maria geweiht haben.36 37 38 39 Da jedoch diese Angabe einem neuzeitlichen Visitationbericht entnommen ist, erscheint es fraglich, ob der eucharistische Kult bereits so früh im Altarpatrozinium zum Aus- druck gebracht wurde. Wahrscheinlich ist vielmehr, dass das ursprüngliche Patro- zinium allein auf Maria bezogen war und es erst später erweitert wurde, indem man den Leib Christi hinzufügte. Das Inventarbuch vom 1428 gibt an, dass sich in der Kapelle in Strasburg ein Hauptaltar und drei weitere befunden haben. Einer davon war der Muttergottes geweiht, denn im Inventarbuch nennt man ihn direkt: unser frauwen altir31 Es ist nicht zu entscheiden, ob es sich in diesem Fall um den Hauptaltar handelte. Czluchow (Schlochau) Das Inventarbuch vom 1437 erwähnt ausdrücklich den Altar zu Ehren der Muttergottes. Es berichtet nämlich: zcu unser frawen altar 1 gancz ornad roth; unser frawen altar eyn syden antipendium mit czwen pallen3* Elblqg (Elbing) In der Kapelle befand sich mit Sicherheit ein Altar zur Ehre der allerseligsten Jungfrau Maria. Im Inventarbuch der Kapelle vom 1440 ist zu lesen, dass sich dort befunden haben: 4 cleydung czu unserfrauwen altare.3) 36 Visilationes Episcopatus Culmensis Andrea Olszowski culmensi et pomesaniae episcopo A. 1667- 1672 lactae curavit Bruno Czapla, Torun 1902-1904 (Fontes Towarzystwa Naukowego w Toruniu, Bd. 6-10), S. 523. 37 GAB, S. 388. 38 GZB, S. 110; GAB, S. 666-667. 39 GAB, S. 94. 62 Waldema r Rozyn kowsk i
Malbork (Marienburg) Die Kapelle der Muttergottes40 war die Hauptkirche des Hochschlosses. In der Kapelle befand sich auf jeden Fall, wie etwa aus dem Inventarbuch von 1394 hervorgeht, ein Hauptaltar sowie drei weitere Altäre.41 Einer von ihnen war gewiss der Muttergottes geweiht. Dies bestätigt die Quelle vom 1394, die folgendes nennt: 7 silberyn antipendium vor unser vrauwen alter.42 Welcher der Altäre aber war der der allerseligsten Jungfrau Maria? Es ist nicht auszuschließen, dass damit der Hauptaltar gemeint war, doch bleibt dies Vermutung aufgrund der Gewohn- heit, dass die Hauptaltäre den Patronen der Sakralbauten geweiht waren. Wahr- scheinlicher ist indes, dass es ein Seitenaltar war, an dem man die Frühmessen feierte. Dort befand sich nämlich das Marienbild. Das Inventarbuch vom 1437 nennt: das bilde unsir libin frauwen uff dein frumessenaltar43. Wenn nun im In- ventarbuch die Altarausstattung angesprochen wird, so wird zunächst der Hauptal- tar genannt, erst dann als weiterer der Marienaltar.44 Damit ist ausdrücklich die Rede von dem Marienaltar als einem vom Hauptaltar zu unterscheidenden. Es ist daher wenig wahrscheinlich, dass es in der Kapelle zwei Marienaltäre gab, wie man es in der Literatur lesen kann.45 Oströda (Osterrade) In der Kapelle befand sich ein Altar zur Ehre der Muttergottes. Darauf weisen folgende Aufzeichnungen im Inventarbuch (1411) hin: 7 sanunath Vorhang vor unser frouwen altare; 7 alt goldynnes antependiuni vor unser frauwen altare46 Ryn (Rhein) In der Kapelle gab es eindeutig einen der Muttergottes gewidmeten Altar. Das Inventarbuch vom Anfang des 16. Jahrhundert nennt nämlich: 7 weisse kasel uf unser lieben frauwen altar (1507)47. Mit den genannten sechs Orten, in deren Inventarbüchern die Anwesenheit von Altären zur Ehren der Muttergottes festgestellt wird, ist mit Sicherheit nicht die ganze mittelalterliche Wirklichkeit angesprochen. Wenn man allein die weit höhe- re Anzahl der in Quellen verzeichneten Marienbilder in Erwägung zieht, lässt sich vermuten, dass die Altäre der Jungfrau Maria wesentlich zahlreicher waren. 40 Die Weihe der Kapelle dürfte 1344 vollzogen worden sein; Bemhart SCHMID, Die Inschriften des Deutschen Ordenslandes Preußen bis zum Jahre 1466, Halle 1935, S. 77. Es fehlt in mittel- alterlichen Quellen zwar die eindeutige Feststellung, dass die Hauptkapelle dieses Patrozinium hatte, doch dürfte dies aus dem Patronat Mariens über die gesamte Anlage zu folgern sein. 41 MA, S. 123. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 127. Mehr zu den Altären in der Kapelle siehe: Janusz TRUPINDA, Skrzydlo pohiocne Zamku Wysokiego - dzieje, kszlalt architektoniczny i wyposazenie w swietle zrddel pisanych, in: Zamek Wysoki w Malborku. Interdyscypliname badania skrzydla pdlnocnego, hg. v. Maria Poksihska, Malbork-Toruh 2006, S. 41; M. WOZNIAK, Przestrzeh liturgiczna, S. 78-79, 89. 44 MA, S. 128. Siehe auch: Inventarbuch vom 1439: hem czum hogen altare |...|, item czum altare unser lieben frawem, MA, S. 132. 45 M. Wo/.NIAK, Przestrzeh liturgiczna, S. 78, 83, 89. 46 GAB, S. 328. 47 Ebd., S. 199, 200. Der Marienkult in den Kapellen der Deutschordenshäuser 63
Ein anderes Problem bleibt die Festlegung, ob die Marienaltäre als ausreichen- der Hinweis darauf zu werten sind, dass sich das Muttergottes-Patrozinium auf die gesamte Kapelle bezog. Zum Teil dürfte dies so gewesen sein. Unbestritten trifft auf man das Marienpatrozinium der Kapellen in den Ordenshäusern zu Malbork (Marienburg) und Brodnica (Strasburg). In anderen Fällen fehlt es an eindeutigen Hinweisen, dass cs tatsächlich so war. Man kann jedoch angenehmen, dass die hohe Stellung und der Rang der Muttergottes im Orden ein Grund für ihr Patronat in allen Ordenshäusern war, darunter auch in den Kapellen der Ordensgemein- schaft. III. Messgewänder Nicht weniger interessant ist es, die Marienverchrung in den Kapellen der Häuser des Deutschen Ordens auch anhand der liturgischen Gewänder zu betrach- ten. Besondere Aufmerksamkeit gilt hierbei den Messgewändern. Es stellt sich nämlich heraus, dass deren Beschreibungen an vielen Orten so detailliert erfolgte, dass sie als unmittelbare Spuren einer Liturgie zu Ehre der allerseligsten Jungfrau Maria anzusehen sind. Zur Bezeichnung dieser liturgischen Gewänder wurde in den Inventarbüchern nicht nur das Wort ornat, sondern auch das Wort kasel (caseln)™ verwandt. In der Charakteristik beider Begriffe trifft man folgende Unterscheidung: Ornat bezeich- nete die vollständige Gewandgarnitur für die Eucharistiefeier, während kasel sich ausschließlich auf das einzelne liturgische Gewand bezog, genauer gesagt nur auf das Obergewand, also auf den Ornat im heutigen Sinne.48 49 Man gewinnt den Ein- druck, dass das analysierte Quellmatcrial bereits diese Unterscheidung trifft, doch erscheint es in diesem Fall ratsam, besonders vorsichtig bei der Übersetzung der getroffenen Termini vorzugehen. Vieles hing eben davon ab, wer und mit wel- chem Bewusstsein das Inventarbuch verfasste. Informationen zu Marienmcssgewändcrn (meist Einzelexemplare) stehen zur Verfügung für Kapellen in folgenden Burgen: Balga (Balga) (1437, 1441)50; Czluchöw (Schlochau) (1420, 1437)51; Elblqg (Elbing) (1440)52; Gdansk (Danzig) (1416, 1418, 1420)53; Gniew (Mewe) (1416, 1422)54; Grudziqdz (Graudenz) (1413, 1414, I437)55; Krolewiec (Königsberg) (1431, 1434, 1436, 1437, 1438)56; Malbork (Marienburg) - Marienkapelle (1398, 1437, 1439)57 58; Ostroda (Ostcrrode) (1437, 1449)5K; Pokarmin (Brandenburg) (1437)59; Radzyh (Rheden) (1434, 1438, 48 Siehe Index: GAB, S. 891. 49 Siehe: Joseph Braun, Die priesterlichen Gewänder des Abendlandes nach ihrer geschichtlichen Entwicklung, Freiburg 1897, S. 128-130; DERS., Die liturgischen Paramente in Gegenwart und Vergangenheit. Ein Handbuch der Paramenlik, Freiburg 1924, S. 100-119; M. WOZNIAK, Przestrzen liturgiczna, S. 82-83. 50 GZB, S. 47; GAB, S. 167, 172. 51 GAB, S. 654, 666; GZB, S. 110. 52 GAB, S. 93. 53 Ebd., S. 693, 695, 698. 54 Ebd., S. 743, 745. 55 Ebd., S. 599, 601,605. 56 Ebd., S. 28, 31,34, 38, 40; GZB, S. 62. 57 MA, S. 125, 128, 132. 58 GZB, S. 78; GAB, S. 331,337. 64 Waldemar Rozynkowski
1449)59 60; Ragneta (Ragnit) (1416, 1419, 1425, 1432, 1441, 1444, 1447)61 62; Ryn (Rhein) (1507, 1508)“; Starogröd (Althausen) (1412)63 und Swiecie (Schweiz) (1427, 1434, 1438, 1440)64. Die oft nicht sehr ausführlichen Inventarbücher verzeichnen bei Ornaten nicht immer, für welche Patrozinien sie bestimmt waren. Man muss betonen, dass gene- rell Erwähnungen von Ornaten sehr oft vorkommen, denn sie gehörten zu den Grundparamenten für die Liturgie. Die Inventarbücher beschränken sich aber meistens auf die Angabe der Anzahl der Ornate.65 Vermutlich waren unter diesen allgemeinen Zusammenstellungen auch Ornate für Liturgiefeiern zur Ehre der Muttergottes. Wann wurden Marienornate verwendet? Ganz bestimmt an liturgischen Ma- rienfesten. Im liturgischen Jahr feierte man im Deutschen Orden im Mittelalter alle wichtigen Marienfeste, d.h.: Purificatio - am 2. Februar, Annuntiantio - am 25. März, Visitatio - am 2. Juli, Assumptio - am 15. August, Nativitas - am 8. September und Conceptio Immaculata - am 8. Dezember.66 Bemerkenswert ist es auch die Tatsache, dass einige der Festen sogar kennzeichnend für diese Ordens- gemeinschaft waren. So findet sich etwa das Fest der Visitatio (Mariä Heimsu- chung) am 2. Juli in den Kalendern des Ordens bereits im 14. Jahrhundert. Der Orden gehörte damit zu den Milieus, die als allererste dieses Fest begangen und ihm den höchsten liturgischen Rang - totum duplex - verliehen haben. Hierbei ist nicht zu vergessen, dass dieses Fest in der Kirche von Papst Urban VI. 1389 ein- geführt wurde. Sein Nachfolger, Papst Bonifatius IX., bestätigte es, indem er cs noch mit Vigil und Oktav versah, was jedoch nicht bedeutet, dass es von einem Tag auf den anderen allgemein in die liturgischen Kalender aller Diözesen und Ordensgemeinschaften einging. Erst zur Zeit der Reformen des Konzils von Trient ging dieses Fest als allgemeinverbindlich in den Kalender in der Gesamtkirche ein.67 68 Alle oben erwähnten Marienfeste wurden im 15. Jahrhundert bei den Deutsch- ordensrittern mit einer Oktav begangen. In den größeren Zentren hatte man sogar separate Gewänder, die nur in der Oktav dieser Feierlichkeiten zu verwenden waren. Dies bestätigt als Quelle ein Inventarbuch der Burg in Ragneta (Ragnit) vom 1419, wo u. a. zu lesen ist: 1 wyse sydin casil mit goldin crucze mit goltlow- bern ingetragen und 2 gesaezte rage, die man pfleget czu noczen infra octavas beate virginis.™ 59 GAB, s. 232; GZB, S. 55, 56. 60 GAB, S. 572, 574, 578, 581. 61 Ebd., S. 273, 275, 279, 284, 288, 291,293. 62 Ebd., S. 199, 200. 63 Ebd., S. 502. 64 Ebd., S. 623, 624, 627, 629, 631. 65 Siehe Stichwörter Ornat und Kasel im Index GAB, S. 891,929. 66 Henryk PlWONSKI, Kult swi^tych w zabytkach liturgicznych Krzyzakow w Polsce, Archiwa, Biblioteki i Muzea Kosciehie 47 (1983), S. 340, 342, 345, 346, 348, 349, 353; Waldemar ROZYNKOWSKI, Omncs Sancti et Sanctae Dei. Studium nad kultem swi^tych w diecezjach pruskich panstwa zakonu krzyzackiego w Prusach, Malbork 2006, S. 50-63. 67 Siehe: Wincenty ZAI.ESKI, Rok Koscielny, Bd. 1, Warszawa 1989, S. 353; Boguslaw Nadoi.SKI, Liturgika, Bd. 2. Liturgia i czas, Poznan 1991, S. 136; Michael KüNZLER, Liturgia Kosciola, Poznan 1999, S. 705. 68 GAB, S. 275. Der Marienkult in den Kapellen der Deutschordenshäuser 65
Die Beschreibung der Mariengewänder ist bisweilen so präzise, dass man auch auf Ornate für Votivmessen zur Ehren der Jungfrau Maria stößt, die an Samstagen gefeiert waren. In der Kapelle der Burg in Ragneta (Ragnit) aus der Zeit vor dern Jahr 1419 wurde unter anderem verzeichnet: 1 ornat unser frauwen mit 2 rogken weys sydin golt und fogil ingetragen am sonabende czu notczen.69 Das Inventar- buch der Kapelle in Gdansk (Danzig) vom 1428 nennt auch: eyn ornat von unsit frauwen des sonnabendes.70 Es soll an dieser Stelle daran erinnert werden, dass die Verbindung der Mut- tergottes mit dem Samstag in der abendländischen Kirche auf das 10. Jahrhundert zurückgeht. Im hohen Mittelalter feierte man an den Samstagen allgemein Votiv- messen zur Ehre der Jungfrau Maria.71 Alle hier erwähnten Nennungen von liturgischen Mariengewändern zeigen uns, dass die Liturgie zur Ehre der Muttergottes in den Kapellen der Häuser des Deutschen Ordens sehr häufig gefeiert wurde. Im 15. Jahrhundert dürften es in- sgesamt etwa 100 Tage gewesen sein, an denen die Person der Mutter Christi in der Liturgie angerufen wurde. Zu dieser Anzahl trugen fast alle Samstage bei, die Marienfeste samt den ihnen vorgeschalteten Vigilien und nachfolgenden Oktaven. Bisweilen trifft man bei den Nennungen der liturgischen Gewänder auch auf Angaben zu deren Farben. Im Fall der Messgewänder für die Marienliturgie kommt vor allem Weiß zum Einsatz. Es soll hier daran erinnert werden, dass all- gemein die liturgischen Obergewänder im Mittelalter farbig waren. Die Farbe des Gewandes wies zum einen auf Stand und Vermögen des Geistlichen bzw. der Gemeinschaft hin, zum anderen aber, was von größerer Bedeutung ist, auf den Charakter des Festes. Der erste Kanon der liturgischen Farben wurde zu Beginn des 13. Jahrhunderts vom Papst Innozenz III. festgelegt. Er nannte vier kirchliche Grundfarben: Weiß, Rot, Schwarz und Grün. Diese Zusammenstellung hatte je- doch noch nicht den Charakter einer offiziellen Vorgabe für den Farbengebrauch für die ganze Kirche. Noch bis zum Konzil von Trient gab es in dieser Hinsicht vielmehr eine große Beliebigkeit, obwohl die oben erwähnten Farben ganz gewiss dominierten. Im erneuerten Messbuch vom 1570 wurden folgende Farben vorge- schrieben: Weiß - für Feste des Herrn und der Heiligen, jedoch nicht der Märty- rer, Rot - für Pfingsten, das Kreuzfest, die Feste der Apostel und Märtyrer, Violett - für Advent, Fastenzeit, Quartal- und Bußtage, Grün - für den gewöhnlichen Alltag, Schwarz - für Karfreitag und die Trauerliturgic für die Verstorbenen.72 Wie schon in Bezug auf Mariengewänder angedeutet war, trifft man am meist auf die Farbe Weiß. Dies können einige Quellenzitate illustrieren: 1. das Inventarbuch der Eibinger Burg vom 1440: 1 casel grün und weis de beata virgine13, 2. das Inventarbuch der Kapelle in Swiecie (Schwctz) vom 1434: eyn weis ornatus unserfrawen mit czwen rocken ouch weis14, 69 Ebd., S. 275. 70 Ebd., S. 704. 71 Siche: M. KüNZLER, Liturgia, S. 630; B. NaöOLSKI, Liturgika, S. 24. 72 Siehe: J. Braun, Die liturgischen Paramente, S. 42-45; Dorothea FORSTNER, Swiat symboliki chrzescijahskiej, Warszawa 1990, S. 114-115; M. KUNZLER, Liturgia, S. 223. 73 (JAB, S. 94. 74 Ebd., S. 624. 66 Waldemeir Rozynkowski
3. das Inventarbuch der Sakristei in Oströda (Osterrode) vom 1449: 7 weis ornath mit 2 rocken und 1 cappen van unsirn lieben frawen15 * * *, 4. das Inventarbuch der Kapelle in Starogröd (Althausen) vom 1412: 7 wy>$’ samat oniatus von unserfrouwen1(\ 5. Das Inventarbuch der Kapelle in Radzyh Chelmiriski (Rheden) vom 1449: 7 weis ornath de beata virgine und 1 weis ornath de beata virgine mit 2 racken ouch weis.11 Nicht immer findet sich bei der Erwähnung der weißen Farbe der Anlass, also bei welcher Kategorie der liturgischen Feste die Gewänder verwendet wurden. So verzeichnet um Beispiel das Inventarbuch des Vorwerks zu Grabiny (Herrengrc- bin) vom 1414 unter anderem: 3 ornat, item eyne brune und eyne wyse kasel.™ Dass bevorzugt die weiße Farbe für Marienfeste verwendet wurde, ist aus den angeführten Nennungen zu folgern sowie aus vielen weiteren, die in den Invcntar- quellen anzutreffen sind. Hinzuzufügen wäre es noch, dass in den Quellen nur selten andere Farben der Marienliturgic zugeschrieben werden. Als Beispiel kann das Inventarbuch der Sakristei in Pokarmin (Brandenburg) vom 1437 angeführt werden, wo genannt wird: 7 gruen kasil de beata virgine19 * Die Behandlung der angesprochenen Frage des Marienkults in den Kapellen der Häuser des Deutschen Ordens trägt dazu bei, den Deutschen Ordens zu charakteri- sieren. Von der Notwendigkeit derartiger Forschungen braucht man daher nie- manden zu überzeugen. Auch wenn die oben angeführten Beispiele die Problema- tik nicht erschöpfend klären, so belegen sic doch aus der Sicht des liturgischen Lebens die große Bedeutung des Marienkults für den Orden. 75 Ebd., S. 337. 76 Ebd., S. 502. 77 Ebd., S. 581. 78 MA, S. 30. 79 GZB, S. 56. Der Marienkult in den Kapellen der Deutschordenshäuser 67
Marienburg castrum et civitas unter Mariens Schutzmantel Kazimierz Pospieszny Die Karriere der Marienburg, der Legende nach in der Folge einer wundersa- men Erscheinung Mariens auf heidnischem Gebiet gegründet und später vom Deutschen Orden in den Rang eines „preußischen Marburg“ erhoben1, der Auf- stieg der Burg und Stadt unter dem Schutz Mariens, genoss bei den Geschichts- schreibern des Ordens wenig Aufmerksamkeit. Es bewegt daher die Forscher seit langem die bedeutende Frage2, warum sich der Hochmeister im Jahre 1309 „auf dieser bis dahin sich durch nichts auszeichnenden Komturburg ... niederließ“3, doch bleibt diese Frage weiterhin offen. Dabei ist die Aussage der Quellen - auch unter Berücksichtigung von Vorbehal- ten gegenüber den schriftlichen Überlieferungen4 - im Sinne der architektonisch- baulichen Forschungen eindeutig. Die Marienburg unterschied sich bereits vor 1309 mit ihrer außergewöhnlichen Ausstattung und auch mit ihrer architektonischen Gestaltung, welche die semantische Sphäre des Bauwerks bestimmen5, deutlich von anderen Konventsburgen in Preußen. Dies betrifft vor allem die Marienkirche der Burg.6 Lässt man Einzelheiten betreffende Kontroversen außen vor und kommen- tiert auch nicht Versuche, die Datierung einiger Ausstattungselemente, darunter auch die des Kirchenportals (Goldene Pforte), über die Schwelle des Jahres 1309 1 Auf die „ideellen Inspirationen“ der Marburger Elisabethkirche für die Marienburger Gruftkapelle St. Anna hat B. Jakubowska hingewiesen, vgl. B. JAKUBOWSKA, Malborska Summa theologica [Die Marienburger Summa theologica], in: Studia z historii Sztuki Gdanska i Pomorza, Wroclaw 1992, S. 242. Zur Analyse der beiden kirchlichen Programme, siehe K. POSPIESZNY, Die Marien- burg in Preußen und ihre hessische „Mutter“ Marburg, in: Burgen der kirchlichen Bauherren, For- schungen zu Burgen und Schlössern 6, München 2001, S. 99-106. 2 B. JÄHNIG, Organisation und Sachkultur der Deutschordensresidenz Marienburg, in: Residenzen- forschung 1, VFR, Sigmaringen 1990, S. 45-77. 3 Zitat nach der neuesten Monografie zur Geschichte des Ordensstaates in Preußen, S. JÖZWIAK, Ccntralnc organy wladzy, in: Panstwo zakonu krzyzackiego w Prusach. Wladza i spoleczenstwo |Der Ordensstaat in Preußen. Macht und Gesellschaft], Warszawa 2008, S. 124. Vgl. Kap. 2.3.3. Marienburg - ein Konventshaus unter vielen, in: T. TORBUS, Die Konventsburgen im Deutschor- densland Preußen, München 1998, S. 99-111. 4 Bei allem Vorbehalt der Historiker gegenüber der Glaubwürdigkeit Simon Grunaus und der Mög- lichkeit, in dem Chronisten selbst den Urheber der Gründungslegende der Marienburg in der Preussischen Chronik von 1521 (erste Redaktion) zu sehen, fällt doch dessen Interesse an pruzzi- scher Geschichte und Kultur auf. Grün au hat wohl eine mündliche Überlieferung der preußischen Ureinwohner aufgezeichnct, vgl. S. ZONENBERG, Kronika Szymona Grunaua [Die Chronik von Simon Granau], Bydgoszcz 2009, S. 75-107. 5 B. SCHMID, Die Marienburg, Würzburg 1955; S. SKIBINSKI, Kaplica na Zamku Wysokim w Mal- borku [Die Kapelle auf dem Hochschloss zu Marienburg], Poznan 1982. 6 Im Sammclband der Forschungsergebnisse des interdisziplinären Projekts zum Nordflügel des Konventshauses wurde nicht bezweifelt, dass die „Westempore“ der Marienkirche aus der Zeit vor 1309 stammt: M. POKSINSKA (Hg.), Zamek Wysoki w Malborku. Intcrdyscypliname badania skrzydla pölnoenego |The High Castle of Malbork. Interdiciplinary Research on the Northern Wing], Malbork-Toruh 2006, passim. Rez. J. JARZEWICZ, Biuletyn Historii Sztuki, 1-2/2008, S. 225. Marienburg - castrum et civitas 71
hinaus zu verschieben7, so war das Marienburger haus von Anfang an als leligio- ses Zentrum des Ordens in Preußen vorgesehen (Abb. 1). In der Kette der längs der Weichsel und des Frischen Haffs errichteten Burgen war die Marienburg das wich- tigste Glied, dessen Gründung dazu diente, die in diesem Gebiet erlangte und aus- geübte Macht zu legitimieren.8 Abb. 1: Burg und Stadt Marienburg von der Ostseite auf dem Bild der „Belagerung der Marien- burg", um 1480, aus dem Danziger Artushof (obere Bildhälfte) Abb. 2: Ausschnitt Konventshaus der Marienburg mit Madonnenfigur, siehe Farbtafel 3 Die Idee der Gottesmutter Maria als Patronin des Ordens und zugleich dessen Protektorin in Preußen fand im Bau des castrum Mariae ihren hervorragenden Ausdruck. Das Bild der Marienburger Madonna, das, wie anzunehmen ist, schon zu Beginn der Bauarbeiten um 1280 den Mauern eingefügt wurde, erreichte infol- ge des Ausbaus der Kirche in den Jahren 1331-1344 sowie auch in der architekto- nischen Ausgestaltung des tabemaculum im Chorbereich ein imponierendes 7 S. JÖZWIAK, Uwagi nad datacj^ Zlotej Bramy kaplicy zamkowej w Malborku. Komunikaty Mazursko-Warminskie Nr. 3 (233) 2001, S. 415-418; J. TrüPINDA 2006, Podsumowanie badah historycznych i architcktonicznych, in: Poksinska (Hg.), wie oben, Anm. 6), S. 190. 8 S. Kwiatkowski, Powstanie i rozwöj krzyzackiej koncepcji przywodztwa religijnego w Prusach, in: Z. H. Nowak (Hg.), Zakon krzyzacki a spoleczehstwo pahstwa w Prusach, Torun 1995, S. 137- 147. 72 Kazimierz Pospieszny
Ausmaß. Um 1380 präsentierte sich Maria in der Hauptstadt des Ordensstaates im Glanz des auf die Figur aufgelegten Mosaiks und mit den Insignien der regina coelorum ausgestattet (Abb. 2). Dieser und der folgende Schritt weisen darauf hin, dass die Realisierung der Idee, deren Ausarbeitung unter der Herrschaft eines Hochmeisters aus fürstlichem Geschlecht, Luthers von Braunschweig (f 1335), erfolgte, lange Zeit beanspruchte und ihre Form, abhängig von der Situation, poli- tischen jedenfalls, im 14. und 15. Jahrhundert zahlreichen Änderungen unterlag. Abb. 3: Marienburg, Hauptschluss- stein aus dem Chor der Schlosskir- che, um 1340 Darauf, dass Maria auf der Marienburg als Königin herausgestellt wurde, ver- weist als Beispiel der Hauptschlussstein der Schlosskirche mit den Bildnis der thronenden Madonna aus der Zeit um 1340 (Abb. 3), dessen Einfügung zusam- menfiel mit der verstärkten Propagierung der Staatsidee in Preußen in der Zeit kurz vor der Mitte des 14. Jahrhunderts.9 Definiert wurde die theologische Grund- lage der Macht in Preußen durch die eigentümliche Präpositur Mariens, die der Ordensleitung zustand. Hieraus folgte in der Ordenspropaganda die ständig erhöh- te Sakralisierung der Konventshäuser, die immer mehr ihres wirklichen Verteidi- gungswertes zu Gunsten der Erweiterung der symbolischen Sphäre entledigt wur- den.10 Die Symbolik der Burgenarchitektur, deren Beschreibung in der Literatur 9 H. HOUBEN, Eine Quelle zum Selbstversiändnis des Deutschen Ordens im 14. Jahrhundert: der Codex Vat. Ottobon. lat. 528, in: Ordines Militares - Colloquia Toruncnsia Historica XIII, Torun 2005, S. 139-153. 10 M. DYGO, O kulcie maryjnym w Prusach Krzyzackich w XIV-XV wieku, Zapiski Historyczne Bd. 52, H. 2, Torun 1987, S. 5-37; K. POSPIESZNY, Die Architektur des Deutschordenshauses in Preu- Marienburg - castrum et civitas 73
und im Gelegenheitsschrifttum des Ordens zu finden ist, stammt von gebildeten Ordensbrüdern und wurde auch von diesen selbst gestalterisch umgesetzt.11 Wie die jüngsten Forschungen erweisen, erreichten diese Bemühungen in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zu Zeiten des Hochmeisters Luther und dessen Nach- folgers Dietrich von Altenburg ihren Höhepunkt.12 Die auf die Schaffung einer eigenen Identität gerichtete Bewegung war, allgemein betrachtet, ein Reflex auf die Krise, die durch den Verlust des Heiligen Landes nach 1291 verursacht wor- den war.13 Marian Kutzner verweist auf den Quellenwcrt der „Apokalypse“ der Ordenskaplans Heinrich von Hesler als eines Schlüssels für die Idee der Architek- tur regelmäßiger Konventburgen in Preußen.14 Aus dem Text der „Apokalypse“ geht klar hervor, dass das Ziel der Veränderungen eine Sakralisierung der Archi- tektur nach einem in seiner geometrischen Struktur vollkommenen Muster war, erfüllt vom Licht des Himmlischen Jerusalem. Ergebnis war das „klassische“ Modell der Burg. Bei Hesler sollte, worauf Kutzner hinwies, das Ordenshaus (unser hus) die Widerspiegelung des neuen, apokalyptischen Jerusalem sein, samt dessen vorgegebenen Proportionen (Und maz die stat geziert in vier gleich ge- wiert; Wen ir hoe was glich der lange; Und ir wite was glich der enge ...).15 Die irdischen Repliken dieser transzendenten Architektur (ein hoen grozen berg irbu- wen ...)16, sollten monumental und schön sein (mure groz und reich habende ...), zudem effektiv der Verteidigung gegen die Höllenmächte dienen (Do Lucyfer vorstozen wart, und an das verboten ris ...).17 Diese Symbolik bezog sich auf den semantischen Bereich, dessen Beeinflussung durch die Kunst Kutzner mit dem Begriff „Machtpropaganda“ bezeichnete.18 Grundlage für die eingeführten Verän- derungen war eine ausgeklügelte Staatsidee, die in ihrer baulichen Form spirituelle Ziele mit den Anforderungen der realen Welt verband, wie das Beispiel der Ma- rienburg verdeutlicht. Das Wesen der vom Himmel stammenden theokratischen Macht in Preußen wurde gegen Ende des 14. Jahrhunderts zudem auf den Wänden des Kapitelsaals verbildlicht. Über dem Eingang im Schildfeld des Gewölbes war die thronende ßen als Ausdrucks- und Herstellungsmittel der Ordensmission und Herrscherpolitik, in: R. Czaja/J. SARNOWSKY (Hg.), Ordines militarcs - Colloquia Torunensia Historica XIII, Torun 2005, S. 227-241. 1 1 Zur Rolle mindestens eines Ordenspriesters (in der Art eines homo theologus) bei der Gestaltung des Programms der Marienburger Marienkirche siche JAKUBOWSKA, Malborska Summa (wie Anm. 1), S. 242-243. 12 M. Dygo, Ideologia panowania zakonu nicmieckiego w Prusach, in: Panstwo zakonu (wie Anm. 3), S. 357-369. 13 U. ARNOLD, Marienburg - Königsberg - Mergentheim: Residenzen der Hochmeister, in: Imagi- nes Potestatis (Ausstellungskatalog), Malbork 2007, S. 39-40. 14 M. KUTZNER, Propaganda wladzy w sztuce Zakonu Nicmieckiego w Prusach, in: M. WOZNIAK (Hg.), Sztuka w kr^gu zakonu krzyzackiego w Prusach i Inflantach, Studia borussico-baltica toru- niensia hisloriae arlium, II, Torun 1995, S. 17-67; DERS., Die Herrschaftspropaganda in der Kunst des Deutschen Ordens in Preußen, in: G. ElMER/E. GlERLICH, Fichte Wehrhaftigkeit oder martiali- sche Wirkung. Kunsthistorische Arbeiten der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen Bd. 3, Köln 2000, S. 253-302. 15 K. HELM, Die Apokalypse Heinrichs von Hesler aus der Danziger Handschrift, Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. VIII, Berlin 1907 [weiter zitiert Apokalypse HH], Verse 21069-21073. 16 Apokalypse HH, Verse 20800-20804. 17 Apokalypse HH, Verse 20812-20813. 18 Vgl. Anm. 14. 74 Kazimierz Posp ieszr iv
Maria dargestellt, deren heutiges Gemälde indes nur thematisch mit der damaligen Zeit verbunden ist.19 Als weiterer Teil der Komposition war eine Galerie der Hochmeister auf beiden Seiten der Wand angeordnet (Abb. 4).20 In der ganzen Ausmalung und Einrichtung des Saals kommt so die einzigartige Verbindung von Maria als Königin mit der Herrschaft des Ordens auf Erden zum Ausdruck.21 In Marienburger Fall sehen wir die Galerie der Hochmeister - die Personen sind zwar auf der Erde gestorben, leben jedoch weiter im Himmel zu Füßen der regina in coelis und beteiligen sich an Kapitel Versammlungen, die unter ihrem Ehrenvor- sitz stattfinden. Sehr wichtig in der gegliederten Darstellung war jeweils eine unansehnliche, nicht besetzte Stelle unter dem vorbereiteten Baldachin für den nächsten verstorbenen Hochmeister. Sie wartete auf den „Übergang“ des aktuell verwaltenden irdischen Stellvertreters Marias zu ihr ins himmlische Gefolge. Die ganze Komposition erhielt die Gestalt einer mystischer Vision, einer von vielen, die in den spätmittelalterlichen Chroniken und in den Beschreibungen des Lebens der Heiligen anzutreffen ist.22 Abb. 4: Marienburg, Kapitelsaal des Konventhauses, Wandmalerei mit der Darstellung der thro- nenden Königin Maria in Begleitung der Hochmeister, Rekonstruktion 1896 nach Originalspuren vom Ende des 14. Jhs., siehe Farbtafel 4 19 Das Maricn-Thema der 1896 entdeckten Gemäldereste bezeugt Walther Zicsemer, der Königsber- ger Archivar und Mitarbeiter der Schlossbauverwaltung der Marienburg. Siehe: W. ZlESEMER, Conrad Steinbrecht, in: Neues Marienburger Heimatbuch, Herford 1967, S. 267. 20 Die Figuren wurden ebenfalls Ende des 19. Jhs. übermalt, doch ihre Überreste waren besser erhal- ten als die Malspuren des Madonnenbildes, vgl. B. SCHMID, Wiederherstellung der Marienburg, Königsberg Pr. 1934, S. 43-44. 21 Marian DYGO, O kulcie maryjnym w Prusach Krzyzackich w X1V-XV wieku [Über den Marienkult im Deutschordensland Preußen im 14.-15. Jh.|, Zapiski Historyczne Bd. 52, H. 2, Torun 1987, S. 5-37. 22 Als Beispiel kann die Traumvision Maria eines Ordensbruders auf die Burg Rehden 1234 dienen, beschrieben in der Chronik Peter von Dusburg um 1326, zitiert durch H. BooCKMANN, Der Deutsche Orden. Zwölf Kapitel aus seiner Geschichte, München 1989', S. 103-104. Marienburg - castrum et civitas 75
Die Darstellung des Modells der preußischen Theokratie im Marienburger Ka- pitelsaal bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die Konstituierung des Saales als Ort der Machtausübung, gelegen wie auch sonst üblich in der Nähe der Kirche der Konventsburg. Als herausragende Nutzung des Saales erscheint das im Haupt- haus des Ordens einberufene Generalkapitel. Doch war dies für die Funktion des Raumes im Alltag nicht entscheidend. Hier ging es nicht nur um die Durchführung von Kapitelsversammlungen, sondern auch um deren Vorbereitung und Abrech- nung sowie um die Beziehungen mit der Außenwelt. Mit Sicherheit diente der Saal - trotz Lücken in den Quellen zu diesem Bereich, etwa dessen mögliche Funktion als mit dem Archiv verbundene Schreiberei betreffend23 - auch der Ausarbeitung und der darauf folgenden Aufbewahrung ausgefertigter Urkunden, worauf die Aus- stattung mit Schränken verweist.24 Die im Laufe der Zeit bzw. mit der Entwicklung des Ordens lawinenartig auswachsenden Verwaltungsaufgaben hatten zur Folge, dass in das Programm der Konventshäuser als Versammlungsorte der Kapitel Säle eingeführt wurden, die zugleich besonders repräsentativ ausgestaltet waren. Diese Säle benannte man als remter.25 Bei richtungweisenden Konventhäusern der Mitte des 13. Jahrhunderts, etwa Thorn, wurde in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, also nach langen Jahren des Bestehens, das Programm des Hauses durch eine zweischiffige Halle ergänzt26, die diese Funktion erfüllen konnte (Sterngewölbe auf Pfeilern, erhaltener Rest des Wandschranks). Auf der Marienburg nutzte man bei der Architektur des zweiten Kapitelsaals, wie Untersuchungen erwiesen haben, das Vorbild der Briefkapelle zu Lübeck. Der Saal hält jedem Vergleich mit den besten Zisterzienser-Bauten (Maulbronn, Bebenhausen) stand.27 Die Ausgestaltung bezog sich sowohl auf den hauptstädtischen Status der Marienburg als auch auf den Charakter der im Namen Mariens ausgeübten Macht in Preußen. Auf der Marienburg gewann das Bild der Maria als Mater Misericordiae nach 1410 noch an Deutlichkeit. Bei der Belagerung durch das in der Schlacht bei Tan- nenberg siegende Heer Jagiellos wurde der Marienstatus der Anlage einer harten Probe unterzogen, aus der sie indes siegreich hervorging. Im Zusammenhang mit der Belagerung wurden der Madonnen-Ikone in der Fensternische der Kirche apotropäische Eigenschaften zugesprochen.28 Die in den Jahren 1414-1420 und 1447-1448 errichtete Fortifikationslinie um die Burg, Plauen-Bollwerk genannt, 23 J. Trupinda, Kancelarie krzyzackie. Stan badari i perspektywy badawczc. Malbork 2002. 24 Für solche Aufgaben sprechen zahlreiche Wandschränke, sichtbar auf der ältesten königlich- polnischen Revision der Marienburg von 1565, damals noch mit verriegelbaren Türen. 25 Indirekt wird der Kapitelsaal in der Ordensregel angesprochen. Seine Existenz im Programm des Konventhauses bezweifelte jüngst J. TRUPINDA, 2008. 26 J. FRYCZ, Zainek krzyzacki w Toruniu, RMT 1963, H. 3, S. 79. Ders., Architektura zamköw krzyzackich, in: Sztuka pobrzeza Bahyku, Warszawa 1978, S. 28-48. 27 Die am Ende des 19. Jh. wiederhergcstellte Architektur des Marienburger Kapilelsaals wurde aufgrund der Welle des Enthusiasmus für die Meisterschaft des Restaurators Conrad Steinbrecht durch K.-H. Clasen in die deutsche Kunstgeschichte der Spätgotik cingeführt, seitdem immer wie- der präsentiert, vgl. H. KLOTZ, Geschichte der deutschen Kunst, Bd. 1, Mittelalter 600-1400, Mün- chen 1998, S.326-327. 28 Die Geschichte vom Schuss und der Erblindung des polnischen Kanoniers im Jahre 1410 wurde 1419 überliefert durch Johannes von Posilge, Chronik, Fortsetzung, Scriptorcs rerum Prussicarum, hg. v. Theodor Hirsch/Max Töppen/Ernst Strehlke, Bd. 3, Leipzig 1866, S. 321 f.: „Der konig hatte eynen buchsinschutszin, de wolde schissin czu dem huse kegin Unser Libin Frouwin bilde hinder dem köre; der wart blint allin zu angesichts dy do worin.“ Vgl. R. ZACHARIAS, Wallfahrtsort Ma- rienburg, in: Westpreußen-Jahrbuch 38, 1988, S. 67-92. 76 Kazimierz Pospieszny
war für die Abwehr von Feuerwaffen berechnet und berücksichtigte zweifelsohne den Status der wundertätigen Figur, was von der Ordensdiplomatie breit propa- giert wurde. Zur Erreichung des angestrebten Ziels blieb nämlich das Vorfeld der Figur frei; der Schutzwall war an dieser Stelle spektakulär unterbrochen (Abb. 5). Abb. 5: Burg und Stadt Marienburg um 1450, Rekonstruktionszeichnung von K. Hauke 1955 (Herder-Institut Marburg) Abb. 6 a: Marienburg, Chor der Schloss- kirche mit Wehrmauer (Zeichnung des Verfassers): Rekonstruktionsversuch der Farbfassung des architektonischen Baldachins Mariens, siehe Farbtafel 5 Abb. 6 b: Marienburg, Chor der Schlosskirche mit Wehrmauer (Zeichnung des Verfassers): graphische Darstellung der Verteidigungsfunktionen Position der Madonnenfigur im 14. Jh. Die Fortifikationslinie stellte seither keine dichte Sperrkette dar, sondern wur- de von Osten - die Nachbarschaft der Vorstadt mit dem Hl.-Geist-Hospital beach- tend - unerwartet „abgeschnitten“. Und damit entstand gegenüber dem nach vorn gezogenen Chor der Burgkirche eine beträchtliche Lücke in den Mauern, ein freies Feld, wobei die Marienfigur zum Sturm gerade an der Stelle provozierte, an der er unmöglich erschien. Im architektonischen Raum der Burg wurde so die Idee des Marienburg - castrum et civitas 77
beschirmenden Mantels der Maria verwirklicht, der jedem, der sich in ihrer Nähe befand, Schutz gewährte (Abb. 6 a, b).“ Zu Zeiten des Niedergangs der Macht des Ordens an der Wende des vom 1. zum 2. Viertel des 15. Jahrhunderts wurde die Beschützerin Maria in die Wchranlagen somit in der Weise einbezogen, dass zum ersten Mal die Fortifikationslinie unterb- rochen bleiben konnte. Die Kühnheit dieser Lösung überrascht und verwundert, nicht nur unter dem Aspekt der Heereskunst, sondern auch in theologischer Sicht. Auf der symbolischen Ebene stand bisher die geschlossene Mauer für die Missi- onsidec des Ordens, denn sie leistete den apokalyptischen Angriffen der Kräfte des Bösen Widerstand, dem verboten ris, das Lucyfer verkörperte.29 30 Nun erfolgte im Bild der Burg eine Veränderung, die Maria den Vorrang gab, die bis dahin als regina in coelis im Hintergrund geblieben war als Patronin der gesamten Ordens- gemeinschaft. In der neuen Auffassung barg Maria die Burg unter ihrem Schutz- mantel und gewährleistete so der gesamten Besatzung Sicherheit. Angesichts der unbegrenzten Kräfte Mariens erwies sich eine Mauer als unnötig. Dieses beispielslo- se Phänomen in der Geschichte der europäischen Fortifikationen wurde viele Jahre später durch die pragmatischen Schweden, die Baumeister der neuzeitlichen Fortifi- kation der Kriegszeit im 17. Jahrhundert, beendet, die insbesondere diese Lücke in der Linie des Bollwerks im Vorfeld der Hochburg schlossen (Abb. 7). Abb. 7: Schwedischer Plan des Fortifikationsbaus an die Ostseite des Marienburger Konventhauses von 1656 (Kriegsarchiv Stockholm) 29 K. POSPIE.SZNY, Plauen-Bollwerk: Die frühe Pulverwaffenfortifikation der Marienburg in Preußen, in: Castella Maris Baltiei VIII, Riga 2007, S. 141-150. 30 Vgl. Anm. 17. 78 Kazini ierz Pospieszjly
Im übertragenen Sinne bezog sich die Symbolik des Schutzmantels der Maria auf ganz Ordenspreußen, wo die Sicherheit der Untertanen und auch die der Kreuz- zuggäste in den Händen der Himmelskönigin, der Königin Preußens, ruhte.31 Unab- hängig von der Marienburg wurde diese Symbolik durch Kunstwerke in kleinerem Format verbreitet, die heute in Europa verstreut und unter der Bezeichnung „Preußi- sche Schreinmadonnen“ bekannt sind.32 Die Idee des Schutzmantels Mariens wurde damit besonders deutlich gemacht, und zwar zu Zeiten der verstärkten Kreuzzugsak- tivität des Ordens gegen Litauen im 4. Viertel des 14. Jahrhunderts, an der sich zahlreiche Ritter aus der Westeuropa beteiligten. Abb. 8 a: Marienkapelle vor dem Südtor (Marientor) der Stadt Marienburg in der Reihe der Stadt- bauten (links), hinter Mauer und Bürgerhäusern (Ausschnitt aus Abb. 1) Sich dem Schutz der Gottesmutter anzuvertrauen, wie dies bisher die Burg mit deren Exposition an den Mauern zum Ausdruck brachte, unternahm in der 1. Hälf- te des 15. Jahrhunderts auch die civitas Mariae.33 Die recht exaltierte Atmosphäre dieser Zeit hat dabei in besonderer Weise den geistlichen Bezug der Stadt an deren Haupteinfahrt von der Feldseite repräsentiert, dort, wo gewöhnlich „die Figur eines oder einer Heiligen am Tor die Identität von Stadtgemeinde und Kirchengemeinde sichtbar machte und auf diese Weise der oder die Heilige als eigentlicher Stadtherr erschien“.34 Analog zur Position an der Burg wurde die Schutzpatronin Maria an der Stadtmauer mit der 1447 dem Fährtor angefügten Torkapelle (abgebrochen durch 31 Das Kreuzzugsheer in Preußen war nach Bannern gegliedert, wobei die Fremden außerhalb des eigenen Landbanners zum Georgsbanncr und zum „dem Deutschen Orden als Marienorden beson- ders nahestehende(n) Marienbanner“ gehörten, W. Paravicini, Die Preußenreisen der europä- ischen Adels, Teil 2, Sigmaringen 1995, S. 139-152. 32 M. Jakübek-Raczkowska, Madonna Szafkowa z kosciola parafialnego w Klonowce, pow. starogardzki, in: Imagines potestatis (wie Anm. 13), S. 457-458; G. Radler, Die Schrcinmadonna „vierge ouvrante“. Von den bernhardinischen Anfängen bis zur Frauenmystik im Deutschordens- land, Frankfurt a. M. 1990, S. 96-115. 33 K. Pospieszny, Marienburg in Preußen - eine Stadt im Schatten der Burg, in: Castella Maris Baltici VII, Greifswald 2006, S. 127-134. 34 H. Boockmann, Die Stadt im späten Mittelalter, München 1994, S. 35. Marienburg - castrum et civitas 79
die Schweden 1659) herausgestellt. Die erhaltenen bildlichen Quellen zeigen an dieser Stelle, über der längs angeordneten Toreinfahrt, eine Kapelle mit Blende und zwei Flankierungstürmchen am Frontgiebel sowie großflächigen, spitzbogigen Fens- tern an der Seite des Baukörpers (Abb. 8 a, b). Das im christlichen Europa einzigar- tige verglaste Kapellentor, dem militärischen Sinn scheinbar entgegenstehend, spie- gelte nicht nur die religiöse Tradition der Stelle wider. Es wurde hier vielmehr er- neut die Idee des Schutzmantels Mariens an der Stadtmauer verkörpert.35 Abb. 8 b: Marienkapelle vor dem Südtor (Marientor) der Stadt Marienburg unten auf der schwedischen Zeichnung von 1629 (Kriegsarchiv Stockholm) Die Entwicklung des Marienkults zu Ordenszeiten und der damit verbundene Wandel der Religiosität, machen weitere interdisziplinäre Studien und Analysen des reichen Quellenmaterials erforderlich. Doch kann beim gegenwärtigen Stand der Forschungen ohne Zögern die These aufgestellt werden36, dass die Erhebung des Kults der Marienburger Madonna zum Rang eines Aushängeschildes der Staatspolitik in Preußen es dem Orden 1309 erlaubte, die keinen Widerstand her- vorrulende Entscheidung zu treffen, den Sitz des Hochmeisters von Venedig nach Marienburg zu verlegen. 35 Die Ikone in der Ostnische der Schlosskirche und das in der Stadttorkapellc ausgestellte Gemälde der Marienburger Madonna haben selbst die Pilger angezogen. Mindestens seit dieser Zeit wurden die beiden Teile der Marienburger Anlage als ein einziger Wallfahrtsort betrachtet. R. ZACHARIAS, Marienburg. Wallfahrtsort zwischen Spiritualität und Herrschaft, SBTHA II, Torun 1995, S. 80- 84. 36 K. POSPIESZNY, Die Organisation des liturgischen Raumes des Deutschordens-Konvenlhauses in Preußen unter besonderer Berücksichtigung der Marienburg, in: G. ElMER/E. GlERLICH (Hg.), Die sakrale Backsteinarchitektur des südlichen Ostseeraums - der theologische Aspekt, Berlin 2000, S.101-116. 80 Kazimierz Pospieszny
Die Marienburger Schlosskirche als Jerusalem-Imagination Zur Ikonographie der Annen-Kapelle und der Mosaikmadonna Albert Boesten-Stengel Das Bildwerk veranlasst, seinen Gegenstand dort zu sehen, wo es selbst ist, und in der Gestalt zu sehen, die es ihm verleiht. Es veranlasst, in ihm etwas zu sehen, was erklärtermaßen nicht dort ist. Die Bilderscheinung ist an die Wirklich- keit des Bildwerks gebunden, negiert sie aber zugleich. Zu erinnern ist an die persuasive Macht der Bildes, an einen anderen Ort zu versetzen und, mehr noch, den vorliegenden Ort in einen anderen zu verwandeln. Das Bild am Bauwerk lässt das Bauwerk als Bild sehen. Der in den Jahren 1331 bis 1344 zusammen mit der Annenkapelle errichtete Chor verschaffte der Schlosskirche eine neue Sichtbarkeit nach außen. Nach dem Wortlaut der Aufwendungen und Vorkehrungen für die öffentliche Wallfahrt um 1400 führte die Prozession mit den Reliquien zu einem Altar im Freien. Rainer Zacharias folgerte, dass sich das Schauspiel „vor den Augen der Mosaikmadonna“ vollzogen habe. Seine Vermutung - „Vielleicht sind die Massen zur Wallfahrt auch grundsätzlich nicht in die Burg eingelassen worden, sondern nur bevorrechtete und illustre Personen.“1 2 - ist zu pointieren: Nach allem gibt es kein Zeugnis, dass über- haupt Laien im Klausurbereich des Hochschlosses zugelassen gewesen wären.“ Ob die Anlage schon mit Blick auf die öffentliche Wallfahrt geplant wurde, oder umgekehrt der Kull erst die neuen Gegebenheiten für sich entdeckte und nutzte, ist hier nicht zu entscheiden. So mag die ungewöhnliche Lokalisierung des Bildwerks mit der besonderen räumlichen Disposition (es gibt eigentlich keine Kirchcnpor- talfassade) und Funktion (Klausur) der Schlosskirche Zusammenhängen. Zu erin- nern ist daran, dass bei den für das Beispiel des Prager Veitsdoms in Anspruch genommenen italienischen Vorbildern das Außenmosaik dem Portal Vorbehalten war und - wie in Prag durch die Darstellung der Landesheiligen - über die Wid- mung der Kirche Auskunft gab.3 1 R. Zacharias, Marienburg. Wallfahrtsort zwischen Spiritualität und Herrschaft, in: Michal WOZNIAK (Hg.), Szluka w kr^gu Zakonu Krzyzackiego w Prusach i Inflanliach, Torun 1995, S. 67-91, hier S.75f. 2 Zu diesem Ergebnis kommen auch S. JÖZWIAK und J. TrüPINDA, Organizaeja zycia na zamku krzyzackim w Malborku w czasach wielkich mistrzöw (1309-1457), Malbork 2007, S. 462 ff. und 506; ebenso M. WOZNIAK, Przcslrzcri lilurgiczna i wyposazenie kosciola Najswi^tszej Marii Pan- ny na zamku w Malborku - nowe ustalenia, in: Maria POKSINKI (Red.), The High Castle of Mal- bork, Interdisciplinary Research on the Northern Wing - Zamck wysoki w Malborku, Interdyscy- plinarne badania skrzydla pölnoenego, Malbork/Toruh 2007, S. 77-93, hier S. 90-93 (siche auch die englischsprachige Version, ebd., S. 219 f.). 3 Dies gilt auch für Fassadenmosaik am Dom in Marienwerder. Vgl. Liliana KRANTZ- DOMASLOWSKA, Das Mosaik am Dom in Marienwerder, in: Umeni 46 (1998), S. 61-64. Die Marienburger Schlosskirche als Jerusalem-Imagination 81
In Marienburg zeigte die Mosaikmadonna an, welcher Titelheiligen dieses Sanktuarium geweiht ist, das doch gewöhnlichen Gläubigen verschlossen blieb. Zur Botschaft gehörte, dass hier kein Portal zum Betreten der Kirche einlud. Die Mosaikmadonna4 war auch optisch auf Distanz eingestellt. Die relativ kurzen Unterarme sind auf Fernansicht kalkuliert, die Längung der Figur könnte eine gewisse Untersicht fordern.5 Überhaupt wird man, bei dem kaum halbrund ausge- bildeten Relief der Figur und der sehr tiefen Nische, ein Betrachterpunkt frontal gegenüber dem Chorhaupt und in einiger Entfernung aufsuchen - wie ihn die erhaltenen Photographien voraussetzen. Andererseits war auf dem äusseren Wall, der im 14. Jahrhundert angelegt wurde, genau in Verlängerung der Achse des Chors ein Wehrturm plaziert, so dass von einer einst ungestörten offenen Sichtbar- keit der Madonna für die von Osten her sich dem Schloss Nähernden nicht die Rede sein kann. Der Turm definiert die mögliche und zugleich angemessene Position, Architektur und Madonna gleichermaßen wahrzunchmen. In diesem Bild empfinden wir die Madonna nicht zwingend als riesenhaft. Sie selbst übernimmt vielmehr die Rolle des Maßstabs. Durch ihre Präsenz wird die umgebende Architektur scheinbar verkleinert. Wir kennen den umgekehrten Ef- fekt bei Bildwerken vom entgegengesetzten Ende der Skala, nämlich bei Schrei- nen und Reliquiaren, an denen das kirchenbaugleiche Dekor, selbst zum bloßen Architekturmodell reduziert, doch bewirkt, die Figuren relativ groß erscheinen zu lassen: wie hier an dem Beispiel eines Turmreliquiars6 mit der Darstellung der Gottesmutter (Abb. 1). Es enthält im Sockel die Schädelkalotte des hl. Savinus und wurde im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts für den Dom von Orvieto geschaffen. Namentlich italienische Goldschmiede dieser Epoche entwickelten überaus reich die architektonischen Zierrate der Reliquiare, wie umgekehrt die bunt musaizierten und inkrustierten Fassaden italienischer Kirchen, etwa der Ka- thedrale eben in Orvieto, als Altarschreine oder Reliquiare in vergrößerter Form anmuten. In Marienburg löste die Übergröße das Bildwerk aus der Distanzemp- lindung des Betrachters und siedelte es in einem bildhaften Eigenraum an, wie es auch in der Betrachtung von Miniaturskulpturcn - oder Gemälden geschieht. 4 Forschungsgeschichte und weilerführende Literaturhinweise zu der im Zweiten Weltkrieg durch Beschuss zertrümmerten, in Fragmenten erhaltenen monumentalen Mosaikfigur in: A. GRSZYB- KOWSKI, Geneza kolosa malborskiego, in: M. Kilarski, Mozaikowa figura malborskiej Madonny, fakty, legendy, intcrprelacje, Malbork 1993; sowie A. GRSZYBKOWSKI, Geneza kolosa malborski- ego, in: A. Grzybkowski, Mi^dzy fonnu a znaczeniem. Studia z ikonografii, archilektury i rzezby, Warszawa 1997, S. 168-184. 5 Vgl. Zacharias (wie Anm. 1), S. 76. 6 Orvieto, Schatz der Kathedrale, geschaffen von den Goldschmieden Ugolino di Vieri und Viva di Orlando; vgl. John WHITE, Art and Architecture in Italy. 1250 to 1400, New Haven/London 1993, S. 300 f., und die Abb. S. 142. 82 A Ibert Boesten-Stengel
Abb. 1: Turmreliquiar, Orvieto, Schatz der Kathedrale, White (wie Anm. 6), Abb. S. 142 Abb. 2: Wandgrabmal für den Admiral Vittore Pisani, Venedig, SS. Giovanni e Paolo, Venezia (wie Anm. 7), Nr. 136 Haben wir uns erst auf diese bildhafte Modifikation der Größenvcrhällnissc eingelassen, ist vielleicht auch die nächste ästhetische Transformation nachzuvoll- ziehen: dass nämlich das Chorpolygon mit seinem Pyramidendach als die Projek- tion eines Zentralbaus erscheint. Ich möchte meine Wahrnehmung durch ein wei- teres Beispiel des transformationsbegeisterten italienischen 14. Jahrhunderts be- kräftigen. Das originäre Aussehen des Wandgrabmals für den Admiral Vittore Pisani (gest. 1381) in SS. Giovanni e Paolo in Venedig ist nur durch diese Zeich- nung des 18. Jahrhunderts bekannt7, die aber eine sehr genaue Vorstellung vermit- telt (Abb. 2). Die Porlrätfigur erschien demnach in einem Tabernakel, ein an die Wand gelehntes Dreisechstelpolygon mit steilem Pyramidendach und offener Dreierarkade, das mit zwei schlanken Säulen auf dem Sarkophagrand stand. Diese vielleicht singuläre Lösung eines Wandgrabmals orientiert sich offenbar 7 Venezia, Museo Civico Correr, Cod. Gradenigo-Dolfin 65, Varie Venele Curiositä sacre e profane opus Jo. Grcvenbroch (dicatum 1764), Bd. 1, fol. XL1V, Nr. 136. Vgl. auch K. Bauch, Das mittelalterliche Grabbild. Figürliche Grabmäler des 11. bis 15. Jahrhunderts in Europa, Berlin 1976, S.177. Die Marienburger Schlosskirche als Jerusalem-Imagination 83
an den freistehenden Mausoleen der Scaliger in Verona. Es handelt sich um eine im Formbestand reduzierte, „halbierte“ Wiederholung des Monuments (1374-76) für Cansignorio della Scala bei S. Maria Antica.8 Im Innerraum von SS. Giovanni e Paolo in Venedig sollte das Pisani-Grabmal wohl das Decorum eines Freigrab- mals evozieren, ohne ein Freigrabmal zu sein. Zurück auf der Marienburg, stellt sich die Frage, wo wir, im Verhältnis zur Architektur, die Gottesmutter mit dem Kind optisch lokalisieren. Steht sie in einer Wandnische, gleichsam im Fenster, oder sehen wir sie bildhaft im Inneren eines Tabernakels mit zentralisiertem Grundriss? Als farbig gefasstes Relief ist die Mosaikmadonna zwischen Skulptur und Malerei angesiedelt.9 Hier gilt es, das Zusammen- und Widerspiel plastischer und malerischer Mittel zu erfassen. Die tief zurückweichenden Fensternischen veranschaulichen die Mauerdicke und ver- leihen den Mauerstücken zwischen den Fenstern, noch akzentuiert durch Strebe- pfeiler, das Aussehen kräftiger Stützen. Somit ergäbe sich das Bild eines Balda- chins oder Tabernakels. Subtil aber wurde die Madonnennische anders als die Fenster gestaltet. Sic ist im Scheitel höher als diese.10 Ihre Wände sind nicht profi- liert wie bei den Fenstern, vielmehr flach und mit Mosaik überzogen. Mosaik ist seiner Natur nach eine Flächenkunst. Nicht nur wegen seiner Farbigkeit wird es allgemein der Malerei zugerechnet. Es transformiert optisch die Baukörper, auf denen es angebracht ist. Hier entmaterialisiert es die massiven Wände der Nische, verwandelt sie in einen Sternenhimmel. Der Goldgrund trägt mehr noch dazu bei, die Figur nicht als vor der Wand stehend oder mit der Wand verwachsen wahrzu- nehmen. Sie scheint vielmehr mit dem Glanz, der an den schrägen Wänden der Nische entlang trichterförmig ausstrahlt, aus dem Innern des Gebäudes hervorzu- treten und hierbei sogar die Nische in die Höhe zu weiten. Die Architektur insge- samt, wie über dem massiven, geduckten Sockel der Annenkapelle die vertikalen Glieder des Chors aufstreben, unterstreicht dieses ganz mimetische Hervortreten und Auffahren der Madonna. Diese Szene findet ihre thematische Auslegung in einem zunächst möglicherweise nur als Verzierung wahrgenommenen Motiv: in den goldenen Vögeln auf dem Mantel der Gottesmutter (Abb. 4). Es handelt sich nach allem nach nicht um eine Erfindung der Restauratoren. 8 Es wundert daher nicht, das Grabmal und die Figur des Vittorc Pisani in SS. Giovanni e Paolo gleichfalls dein Bildhauer Bonino da Campione (nachweisbar ab 1357 - gestorben 1392/93) zuge- schrieben zu linden. Vgl. W. WOLTERS, La scultura vencziana gotica, Bd. 1, Venezia 1976, S. 204, Kat. 118. 9 Nach Beschreibungen und den allerdings voneinander in der Farbwiedergabe abweichenden frühen Farbphotographien ergibt sich folgende Farbbeschreibung: Maria trägt einen blauen, mit goldenen Vögeln besetzten Mantel mit rotem Futter über einem goldenen Kleid, hat goldene und braune Haare, trägt einen weißen Schleier. Die Seilenwände der Nische sind blau mit goldenen Sternen, der Hintergrund golden. Christus trägt ein rotes Gewand, das mit goldenen Blumen be- setzt ist. Grzybkowski sieht umgekehrt einen roten Mantel mit blauem Fuller, vgl. A. GRSZYB- KOWSKI (wie Anm. 4), S. 169. 10 Vgl. Grzybkowski (wie Anm. 4), S. 168. 84 A Ihert Boesten-Stengel
Abb. 3: Maria der Verkündigung (um 1300/vor 1322), Eifeltuff, farbig gefasst, Köln, Dom St. Peter und Maria, von Simson (wie Anm. 13), Abb. XX Abb. 4: Mosaikmadonna (Ausschnitt), einst Marienburg, Hochschloss, von Simson (wie Anm. 13), Abb. 305a Das Ornament erinnert zunächst an Rapporte orientalischer, dann in Italien und namentlich in Pisa und Lucca hergestellter Seidenbrokale, bei denen vergoldete Garne verwendet wurden.11 Sie waren ein begehrter Exportartikel. Als Gewänder und Paramente, und in dieser Funktion in der Malerei nachgeahmt, verbinden sie orientalisierenden Luxus mit Tier- und Planzenmotiven, die in jeweiligen ikono- graphischen Kontexten auch als mittelbare Repäsentationen thematischer Bedeu- tungen dienten.12 (Abb. 4) Es finden sich auch Beispiele in der Skulptur. So zeigt etwa das Gewand der 1840 nach originalen Spuren wiederhergestellten polychro- 11 Z. B. das Vogelmotiv im Rapport eines Tuchs italienischer Produktion im Schatz der Kathedrale in Uppsala, das dort bereits durch ein Vermächtnis des Jahres 1320 nachgewiesen ist. Vgl. Agnes GEIJER, Textile Trcasures of Uppsala Cathedra!, Stockholm 1964, S. 31, Nr. 11. 12 Vgl. Brigitte KLESSE, Seidenstoffe in der italienischen Malerei des 14. Jahrhunderts, Bern 1967, hier besonders die Vogelmotive S. 342f. u. 352f. Die Marienburger Schlosskirche als Jerusalem-Imagination 85
men Fassung der Maria der Verkündigung (um 1300) im Kölner Dom13 seriell in Kreise gerahmte Löwen und Adler, Symboltiere, die im Zusammenhang christli- cher Ikonographie häufig auf die Auferstehung und Himmelfahrt Christi verwei- sen.14 (Abb. 3) Auch der Adler im Rapport des Bettüberwurfs in dem Marientod des Triptychons eines böhmischen Meisters um 1390 aus der Kapelle der ehema- ligen Dcutschordenskomturci in Grudzi^dz (Graudcnz)15 dürfte sich auf denselben Vorstellungskreis beziehen. Die Literatur zu der Marienburger Mosaikmadonna schweigt zu diesem Punkt. Ich erkenne auf dem Mantel der Gottesmutter eine im Rapport gleichförmig wie- derholte Taube mit halb geöffneten Schwingen. In der Diskussion im Anschluss an meinen Vortrag verwies Tadcusz Jurkowlaniec auf die Unsicherheit, hier wie in anderen Fällen ähnlich stilisierter Tierdarstellungcn des 14. Jahrhunderts über- haupt eine bestimmte Tierart zu identifizieren. Mein Vorschlag stützt sich zum einen auf die traditionellen Sinnbilder und Beiworte Mariens, wodurch sich die Zahl relevanter Vogelarten bereits sehr reduziert, zum anderen auf die Tierdarstel- lungen in den erhaltenen Gewölbeschlusssteincn aus der Annenkapelle. Unter den vier Schlusssteinen mit den Evangclistensymbolen gibt es die Darstellung des Adlers (mit Spruchband)16, die Schwingen etwa so erhoben und den Kopf so zu- rückgcwandt wie der Vogel auf dem Mantel der Mosaikmadonna. Ferner gibt es vier Schlusssteine mit Pelikan, Sirene (Mischwesen), Drache und einem Vogel, frontal aufgerichtet und mit gespreizten Flügeln, den Jurkowlaniec (1989) als ,,Adler“17, Bogna Jakubowska (1992) hingegen als „Taube“18 bestimmten. Der nach seinem Kontext eindeutige Adler der Serie der Evangelistcnsymbol-Schluss- steine weist vergleichsweise kräftigere Beine und Krallen auf. Daher neige ich dazu, in dem genannten anderen Vogel-Schlussstein nicht einen Adler dargestellt zu sehen, vielmehr die Taube. Nach dieser Opposition bestimme auch das Motiv an der Mosaikmadonna. Im mariologischen Zusammenhang spielt die Taube auf die erwählte Braut des Hohcliedes an.19 20 Die Stelle im Canticum canticorum Salomonis der Vulgata lau- tet: „Surge, amica mea, speciosa mea, et veni, columba mea, in foraminibus petra- c, in cavcrna maceriae, ostende mihi faciem tuam, [...].”2° In meiner Übersetzung: 13 Sleinskulptur, farbig gefasst; vgl. Otto VON SlMSON, in: DERS., Das Mittelalter II - Das Hohe Mittelalter, Berlin 1984 (Propyläen Kunstgeschichte, 6), S. 253, Nr. XX. 14 Vgl. Gertrud SCHILLER, Ikonographie der christlichen Kunst, Bd. 3: Die Auferstehung und Erhö- hung Christi, Gütersloh 1971, S. 120-135; auch L. WehrhahN-StaüCH, Adler, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, hg. v. Engelhari KlRSCIIBAUM (u.a.), Bd. 1, Freiburg i. Br. 1968, Sp. 70-76. 15 Warschau, Nationalmuseum; vgl. Adam S. Labuda, Malarslwo tablicowe na Pomorzu wschodnim, in: Adam S. Labuda (Hg.), Malarslwo golyckie w Polscc. Synicza, Warszawa 2004, S. 333-362, hier S. 336. 16 Siehe Bogna JAKUBOWSKA, Marlborska Summa Theologica, in: Sludia z historii szluki Gdahske i Pomorze, hg. von Teresa GUC-JEDNASZEWSKA, Wroclaw 1992, S. 157-247, hier S. 231, Abb. 73. 17 Tadcusz Jurkowlaniec, Gotycka rzezba architekloniczna w Prusach, Wroclaw 1989, S. 179, Nr. 91. 11,7-12. 18 Jakubowska (wie Anm. 16), S. 230, Abb. 67. 19 Siehe das Stichwort „Taube“ in A. SALZER, Die Sinnbilder und Beiworle Mariens in der deutschen Literatur und lateinischen Hymnenpoesie des Mittelalters (Linz 1893), Darmstadt 1967, S. 134- 140, besonders die Belege aus der lateinischen Literatur, S. 138 f. 20 Canticum canticorum Salomonis 2,13-14; zitiert nach: BIBLIA sacra vulgatae edilionis Sxti V Pontificis Maximi et Clemcnlis VII1 auclorilale edila, Milano 2003, S. 639. 86 AIhert Boesten-Stengel
„Erhebe Dich, meine Freundin, meine Schöne, und komme, meine Taube, in die Öffnungen des Felsens, in die Höhlung der Mauer, zeige mir Dein Antlitz.“ Die Geliebte, verborgen wie die Taube in ihrem Nest im Felsen, soll hervor- kommen. Die Verhüllte soll ihren Schleier lüften, ihr Antlitz zeigen. Dem ent- spricht an der Marienburger Mosaikmadonna der Gestus des Kindes, an den Schleier der Gottesmutter zu fassen. Dem entspricht in Marienburg die ganz mimetische Veranschaulichung der Epiphanie der Gottesmutter, wenn wir den Chor der Schlosskirche als den Felsen oder die Mauer des Hoheliedes wahrnehmen, in deren Öffnung die Taube sich zeigen soll. Wir könnten es dabei bewenden lassen, die malerische-dramatische Wirkung und ikonographische Bedeutung des monumentalen Mosaikbildes zu erkennen. Doch findet sich in der Marienburg-Literatur, namentlich bei Skibinski, die Ver- mutung, dass alleine schon die Wahl der Technik signifikant gewesen sei, dass sich mit dem in diesen Breiten doch seltenen Mosaik die Konnotation des Byzan- tinischen verbunden habe und sie hier wie in Prag den Kreuzzugsgedanken aktua- lisiere, nämlich den Kampf des Kaisers von Byzanz gegen die Türken. Auch habe das Mosaikbild in Marienburg die ganz byzantinische Rolle einer Nikopoia über- nommen, die Festung ideell gegen die Feinde zu verteidigen.21 Der böhmische Chronist Benes Krabice beschreibt zum Jahr 1370 die Mosaik- Darstellung des Jüngsten Gerichts über dem Südportal des Prager Veitsdoms als „de opere vitreo morc greco“22, also eine Glasarbeit in griechischer Art. Dies hin- dert nicht daran, die Herkunft der Mosaikkünstler in Italien zu vermuten, woher überhaupt die Anregung zu einem Fassadenmosaik stammen dürfte. Fassadenmo- saiken an Kirchen konnten Kaiser Karl IV. und seine Berater in Italien, zum Bci- piel in Rom, Lucca oder eben Venedig kennengelcrnt haben. Ich erkenne in Prag Berührungen mit dem Stil der Mosaiken, die um die Jahrhundertmitte unter dem Dogen Andrea Dandolo (1343-1354) in San Marco entstanden. Sie vereinen Züge der in Venedig präsenten lokalen Tradition, der aktuellen Kunst des östlichen Mittelraumes mit Formen der internationalen Gotik. Eine spezifische Anlehnung an das politische Byzanz, dessen Erbe angetreten zu haben, seit 1204 bereits Ve- nedig für sich reklamierte und unter dem genannten Andrea Dandolo erneuerte, ist für mich jedoch weder in Prag noch in Marienburg zu erkennen. Mit der Mosaiktechnik verbindet sich seit Kreuzfahrerzciten vielmehr eine an- dere Vorstellung. Der Dominikaner Tommaso Fazello berichtet in seiner 1558 veröffentlichten Geschichte Siziliens, dass die Normannen Robert Guiscard und Roger I. nach der Einnahme Palermos 1072 an der höchsten Stelle der Stadt, wo bis dahin eine nun zerstörte Festung der Sarazenen gestanden hatte, das obere Kastell, den späteren Königspalast, errichteten. Aus dieser Zeit stamme dort auch ein zu seiner Zeit in Teilen noch erhaltenes heiliges Gebäude, das wegen seiner 21 S. Skibinski, Kaplica na Zamku Wysokini w Malborku, Poznan 1982, S. 130f. 22 A. LEGNER (Hg.), Die Parier und der Sehöne Stil, 1350 - 1400. Europäische Kuns! unter den Luxemburgern. Bd. 2, Köln 1978, S. 613 u. 720. Eine Vermutung geht dahin, dass an dem Entwurf des Mosaiks Nicoletto Semitecolo, ein zwischen 1355 und 1370 nachgewiesener Maler mit grie- chisch-venezianischem Familiennamen und Mitarbeiter der Werkstatt des Guarienlo in Venedig und Padua, beteiligt gewesen sein könnte. Die Marienburger Schlosskirche als Jerusalem-Imagination 87
Mosaiken und polychromen Inkrustationen („musivo ac vermiculato opere“) den Beinamen „ab Hierusalem“, also „von Jerusalem“, getragen habe/ Prachtvoll inkrustiert und musaiziert waren die konstantinische Grabeskirche und ihre Annexe aus der Kreuzfahrerzeit23 24, aber auch die um 1035 unter den Fati- miden erneuerte und erweiterte Al Aksa Moschee, die, in Nachahmung des be- nachbarten Felsendoms, musaiziert und mit einer Kuppel versehen worden war. In dem weitläufigen Komplex richteten die Kreuzfahrer nach der Eroberung Jerusa- lems ihren Palast ein. Die Jerusalem-Assoziation könnte hier, wie so oft, mehrfach determiniert sein und über den Schmuck des Gebäudes hinaus seine besondere Lage in der Topographie Palermos und vielleicht sogar die Parallele Jerusalems und Palermos als den Sarazenen abgerungener Orte betreffen.25 Sollte auch die Marienburg eine Topographie Jerusalems repräsentieren? Das Mosaikbild schmückte das Haupthaus eines geistlichen Ritterordens, der tatsäch- lich um 1198 in Akkon ins Leben gerufen, jedoch als seinen ideellen Ursprung Jerusalem bekundete. Der Orden nannte sich nach einem Marien-Hospital der Deutschen, das vor seiner Zeit in Jerusalem bestanden hätte.26 Nach allem überließ erst Kaiser Friedrich II. im Jahr 1229 dem neuen Orden ein Haus in Jerusalem, das vor dem Verlust des heiligen Landes (gemeint ist wohl Saladins Eroberung von 1187), den Deutschen gehört habe: „damus et conccdimus“ - heißt es dort - „do- mum, quam olim theutonici ante amissionem terre sacre in civitate Jerosolimitane tenebant“.27 Die moderne Historiographie lokalisierte dieses erste Deutsche Haus 23 Tommaso F'AZELLO, De rebus siculis decadcs duae, Palermo 1558, lib. VII, cap. I: „Urbem Rober- tas et Rogerius firmis moenibus ac praesidiis, duplici arce, altera ad mare, a quo adhuc nomen ha- bet, altera ad occidcnlem, aedeque sacra musivo ac vermiculato opere ab Hierusalem cognominata, erectis murifice exornarunt.“ 24 In der lateinischen Kalvarienbergkapelle haben sich Reste des Mosaiks einer Himmelfahrt Christi erhallen, das, nach dem themengleichen Mosaik in der Hauptkuppel von S. Marco in Venedig zu urteilen, dem spätkomnenischen Stil (2. Hälfte 12. Jh.) angehört. Vgl. Jürgen KRÜGER, Die Gra- beskirche zu Jerusalem. Geschichte - Gestalt - Bedeutung, Regensburg 2000, S. 124-133; Gustav Kühnel, Das restaurierte Christusmosaik der Calvarienberg-Kapelle und das Bildprogramm der Kreuzfahrer, in: Römische Quartalschrift 92 (1997), S. 45-71. 25 Fazellos Ausdruck „in Jerusalem“ könnte so gesehen nicht nur einen ideelen Bezugspunkt der sizili.schen Normannen, sondern zugleich die Lage des Palastes und seiner Kapelle im Stadtbild Palermos betreffen. Der betreffende Satz in Fazellos Bericht lautet in meiner Übersetzung: „Ro- bert [Guiscardl und Roger schmückten die Stadt [Palermol, nachdem sie Mauern und Türme er- richtet hatten, prachlvoll/sehr ansehnlich mit zwei Kastellen, dem einen am Meer, woher es bis heute den Beinamen hat, dem anderen im Westen mit dem heiligen Gebäude, das wegen seiner Mosaik- und Steineinlegearbeiten den Beinamen ‘in Hierusalem’ erhielt.“ (An anderer Stelle be- richtet er, dass das Gebäude zu seiner Zeit noch existierte, aber umgebaut und zweckentfremdet worden sei. Die Beinamen, „am Meer“ und „in Jerusalem“ spiegeln die Position der beiden Kastel- le. Das „untere“ lag unmittelbar am Meer und beschirmte den Hafen, das „obere“ nahm und nimmt die höchste Erhebung im vom Meer her ansteigenden Geländerelief ein, die deswegen in der mo- dernen Literatur gelegentlich als „Akropolis“ bezeichnet wird. 26 Vgl. Marie-Luise Favreaü, Studien zur Frühgeschichte des Deutschen Ordens, Stuttgart S. 14; vgl. auch Udo ARNOLD, Entstehung und Frühzeit des Deutschen Ordens. Zu Gründung und inne- rer Struktur des Deutschen Hospitals von Akkon und des Ritterordens in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, in: Josef FLECKENSTEIN/Manfred Hellmann (Hg.), Die Geistlichen Ritterorden Eu- ropas, Sigmaringen 1980, S. 81-107. 27 „damus et conccdimus (...) domum, quam olim theutonici ante amissionem terre sacre in civitate Jerosolimitane tenebant cum omnibus pertinenciis suis, ul ea omnia ab omni servicio libera semper teneant et exempta.“ Vgl. J.L.A. Huillard-Breholles, Historia diplomalica Friderici Secundi. 6 Teile in 12 Bänden, Paris 1852 -1861 (Nachdruck 1963), Bd. 3, S. 126 (= BF 1748). Favreau 88 Albert Boesten-Stengel
im südöstlichen Teil der Stadt und nahe am Tempelbezirk und identifizierte es mit einer Einrichtung, die 1143 den Johannitern unterstellt worden war.28 Der um 1576 schreibende Hofgerichtsrat Lucas David zu Königsberg gibt fol- gende Version der Herkunft des Ordensnamens, die ich hier nahe am Wortlaut paraphrasiere: Weil dann auch in den Briefen des Herren Königs und [des] Pat- riarchen von Jerusalem der Bericht gefunden wurde, dass Helena, die Mutter Konstantins, eine Kirche am Berg Sion zu Ehren der hochgelobten Jungfrau Ma- ria, der Gebärerin Gottes, erbaut haben, dass Christus dort sein Letztes Abendmahl mit den 12 Aposteln gehalten, das heilige und werte Sakrament seines wahren Leibes und Blutes den Jüngern zu essen und zu trinken gereicht und so seiner Gemeinde zum ewigen Gedächtnis seines Leidens und Blutvergießens eingesetzt, die Apostel dort auch den Heiligen Geist öffentlich und in sichtbarer Gestalt feuri- ger, zerteilter Zungen empfangen und letztlich die hochgesegnete Jungfrau dort viele Jahre gewohnt und ihr Ende selig beschlossen haben sollten: deshalb, ob- schon das Hospital der Johanniter nicht weit davon gelegen war, wurde angeord- net, dass dieser Ort, an dem die Kirche gestanden hatte, das Bethaus der Deutsch- ordensbrüder sein sollte, dass sie daran auch ihre Wohnungen und das Hospital anschließen und den alten Namen ,Unserer Lieben Frau4 behalten sollten.29 Mit der durch Helena gegründeten Marienkirche, dem Schauplatz des Letzten Abendmahls, des Pfingstwunders und des Marientodes ist der nach dem Komplex der Grabeskirche wohl bedeutendste Ort der Pilgertopographie Jerusalems umris- sen, der auf eine lange Kulttradition zurückblickte. Im sechsten Jahrhundert ver- zeichnet die Mosaik-Landkarte von Madaba ihn als „Basilica magna ad sancte Sion44, eine Kultstätte, die den sogenannten Abendmahlsaal einschloss und in dessen Nähe man das Haus des Caiphas, die Geiselsäule und den Palast Davids lokalisierte. In der Kirche selbst waren die Stellen angegeben, wo die Steinigung des Stephanus und die dormitio Mariae, also der Marientod, stattgefunden haben sollten. Bei ihrer Ankunft 1099 fanden die Kreuzfahrer die byzantinische Kirche zerstört, den zweigeschossigen Abendmahlsaal, das sogenannte coenaculum, aber intakt. Es war unter muslimischer Herrschaft wohl in Ehren gehalten worden we- gen der Davidischen Fama, die dem Ort anhaftete. Die Kreuzfahrer stellten im Untergeschoss ein Kenotaph auf, das bald den Ruhm annahm, das wirkliche Grab Davids zu sein. Die Augustiner Chorherren errichteten die neue Marienkirche in schließt aus dein Wortlaut „damus et concedimus“, dass es sich um eine Neuverleihung und nicht um die Bestätigung oder Rückerstattung eines Besitzes handelte. 28 Favreaü, wie Anin. 26, S. 14 und S. 89. 29 Vgl. Lucas David, Preussische Chronik, Bd. 2, Königsberg 1812, S. 145: „Weil dann auch in des Herren Königes und Patriarchen von Jerusalem brieffen dieser bericht funden wart, das etwa Hele- na, die mutter Constantini eine kirche an den bcrgk Sion solle erbauet haben in die Ehre der hoch- gelopten Jungfrauen Marien der gebererin Gottes, darumb das Christus allda sein letztes abendmal mit den 12 Aposteln gehalten, das heilige und werde Sacrament seines waren leibes und blutes den Jüngern zu essen und zu trincken gereicht und also fhemer seiner gemein zum Ewigen gedechtnus seines leidens und blut vorgiessens eingesetzt, die Aposteln und auch den heiligen Geist allda öf- fentlichen und in sichtbarlicher Gestalt feuriger und zurtheilter Zungen empfangen, und das letz- lich die hochgesegnete Jungfrau allda viel Jahr gewonet und Ir endt saeliklichen beschlossen. Dar- umb ob wol das Hospital der Joanniter nicht weit davon gelegen, dort wart geordnet, das dieser Orth da die Kirche gestanden, sollte des Deutschen Ordens Brueder beihaus sein, doran sie fhemer Ihre Wohnungen und Hospital auch bauen sollten, und den alten nahmen unser lieben Frauen be- halten [..].“ Die Marienburger Schlosskirche als Jerusalem-Imagination 89
Form einer Basilika, in deren südliches Seitenschiff sie das heilige Abendmahls- gebäude integrierten. 1187, bei der Eroberung Jerusalems durch Saladin, wurde die Kirche verlas- sen, sie verfiel oder wurde (um 1219) zerstört. Wiederum Überstand das Coenacu- lum. Mehr als hundert Jahre später, nach Verhandlungen mit dem Sultan, ließen sich die Franziskaner als zunächst einziger Orden aus dem lateinischen Westen nieder. Unterstützt durch den neapolitanischen König Robert von Anjou, der Titu- larkönig von Jerusalem war, ließen sie sich um 1333 in Bethlehem, an der Ma- rienkirche im Kidrontal und bei der Grabeskirche nieder, richteten ihren Hauptsitz aber beim Coenaculum ein, um dort den christlichen Pilgern, die wieder nach Jerusalem kamen, Assistenz zu leisten.30 Nachmals gehörte cs, schon aufgrund der Niederlassung der Franziskaner, zu den obligatorischen Stationen der Jerusalem- reisenden, denen neben dem Abendmahlsaal stets die Reste der einstigen Marien- kirche am Zion gezeigt und erklärt wurden. So gesehen scheint bei Lucas Davids Bericht Vorsicht geboten. Verwechselt er lediglich das Haus der Deutschen mit der früheren Gründung der Augustiner Chorherren oder der späteren der Franziskaner am selben Ort? Bei Lucas David ereignet sich die erste Ansiedlung des Deutschen Ordens in der Heiligen Stadt unter einem König Johannes von Jerusalem, den er als Balduins V. Sohn apostro- phiert. Damit dürfte Johann von Brienne gemeint sein. Er ist zwar kein Sohn des besagten Balduin (gest. 1186), war aber 1210-1212 König von Jerusalem, übte bis 1225 für seine unmündige Tochter Isabella die Regentschaft aus, suchte dann gegen Friedrichs II. Einforderung der Krone Jerusalems die Unterstützung der Kurie. Wenn cs ein Originalcreignis gegeben haben sollte, das den Deutschen Orden mit der Hagia Sion in Verbindung brachte oder ihm gar diesen Ort zuwies, kann cs eigentlich nur in der Zeit angesiedelt sein, in der auch die zuvor genannte Schenkung Friedrichs II. an den Orden datiert. In beiden Geschossen zeigt das Coenaculum je eine zweischiffige und dreijo- chigc eingewölbte Halle mit Nebenräumen an der Westseite. An der Bauskulptur, d.h. den Kapitellen, entzündete sich die Datierungsfragc. Fra Jacopo da Verona beschrieb das Coenaculum bereits im Jahre 1335 als in beiden Geschossen einge- wölbte Doppclkapellc.31 Jürgen Krüger, auf dessen Veröffentlichung 1997 zum Coenaculum ich mich hier stütze, folgerte, dass damals also die Gewölbe schon existierten; er führte sie allerdings nicht auf die Epoche vor 1187, vielmehr auf die kurze Friedensperiode von 1229 bis 1244 zurück, in der Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen selbst die Wiederherstellung des Coenaculum veranlasst haben sollte, sofern ihm eben an der davidischen Fama des Ortes - wie des nahegelege- nen legendären Davidspalastes gelegen gewesen sei.32 Das Coenaculum - mit den Worten Jürgen Krügers „klein wie eine Kapelle, aber so bedeutend wie eine Ka- thedrale“ - sollte, nach Krügers Meinung, der Zweigeschossigkeit eines so emi- 30 Vgl. KRUGER, wie Anin. 24, S. 158 f. 31 „Illud cenacukim es( domus, que habet voltas duplicas sive inferius et supcriu.s, et fuit una valde pulcra ecclesia, ut videtur ad vestigia, juxta cenacukim, sed cst tolalitcr dirupta ... Et ibi missam celebravi in hoc cenaculo.“ 32 Jürgen KRÜGER, Architettura federiciana in Terra Santa: il Coenaculum al tempo delle Crociate, in: (’ultura artislica, citta c architettura neH’ela federiciana, hg. von Alfonso GAMBARDELLA, Ro- ma 2000, p. 31-46. 90 A Ibert Boesten-Stengel
nenten Sanktuariums wie der Sainte-Chapelle in Paris zum Vorbild gedient ha- ben.33 Es gibt auch andere zweigeschossige Situationen. Matthias Müller brachte dieselbe Sainte-Chapelle mit der räumlichen Anlage der Kalvarienbcrgkapelle des Grabeskirchenkomplexes in Verbindung.34 Bleibt die Schwierigkeit, dass Anknüpfungen, die sich auf ganz schematische Aspekte beschränken, oft der Anschaulichkeit entbehren. Am Ort des Coenaculum sollten, nach Lucas David, Bethaus, Wohnung und Hospital der namengebenden Niederlassung des Deutschen Ordens in Jerusalem gewesen sein. Nehmen wir die Zweigeschossigkeit hinzu, und dass die untere Halle als Begräbnisort ausgewiesen war, dann könnten wir die Marienburger Schlosskirche als eine freilich recht ab- strakte Wiederholung der vermeintlich ersten Situation in Jerusalem begreifen. Wir wissen aber nicht, was von der bei Lucas David tradierten Version bereits im 14. Jahrhundert kursierte. Bei Simon Grunau etwa wird der Name von einer ande- ren Kirche in Jerusalem - „Sancte Marie ad casum filii“ - hergeleitet.35 Betrachten wir das ikonographische Programm der Tympana der Annenkapel- le, so wird in Marienburg nicht ein einzelner Schauplatz, sondern die wesentliche Pilgertopographie des kreuzfahrerzeitlichen Jerusalems memoriert.36 Die drei Tympana des Südportals mit den Szenen37 der Legende des hl. Kreu- zes, der Himmelfahrt Christi und des Jüngsten Gerichts beziehen sich auf den Komplex der Grabeskirche38, der Golgatha und den Ort der Auffindung des hl. Kreuzes einschloss, und auf die Himmelfahrtskapelle am Ölberg, wo im Fels die Fußabdrücke vorgewiesen wurden, die Christus bei seiner Himmelfahrt hinterlas- sen habe. Sie werden in der Marienburger Darstellung deutlich sichtbar zitiert. 33 So Krüger (wie Anm. 24), S. 240, Anm. 287. 34 Matthias MÜLLER, Paris, das neue Jerusalem? Die Sle-Chapelle als Imitation der Golgatha- Kapellen, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 59 (1996), S. 325-336. 35 Der Dominikaner Simon Grunau in seiner 1526 verfassten Preußischen Chronik lässt die Grün- dungscreignisse einsetzen; in S. GRUNAU, Preussische Chronik, hg. v. M. PERLBACH, Bd. I, Leip- zig 1876, S. 128: „Im jare 1188 als Balduinus konig szu Jerusalem war [...].“ und berichtet von ei- ner Schenkung desselben „Balduin“ an die junge Hospitalbruderschafl: ,,[...| er lys vor sich fordern Heinrich Wolbod den spittelmeister der selbigen Versammlung und gab im dy kirche Sancte Marie ad casum filii, das ist dy Stelle, do Maria sag Christum den herren stortzen linder dem creutze, in welcher kirche vil hem und rittermessige menner Deutzscher nacion kranck lagen, und Heinrich nam sy an (...|.“ Daher komme der Name des Ordens. Mit „Heinrich Wolbod“ kann nur der gleichnamige erste Meister des Ordens von 1198 gemeint sein. Wer aber ist König Balduin von Je- rusalem? Betrachtet man die nach Urkunden und Überlieferung bis heule unentschiedene Frage, ob und inwiefern der 1197 in Akkon ins Leben gerufene Orden an eine Hospitalgründung gleichen Namens in Jerusalem aus dem frühen 12. Jh. anknüpfte, wundert die Konfusion der lokalen preu- ßischen Chroniken nicht. König Balduin I. (1100-1128) dürfte an der Gründung des ersten Spitals der Deutschen in Jerusalem beteiligt gewesen sein. 1188, in welchem Jahr Simon Grunau seine Erzählung einsetzen lässt, war Jerusalem bereits durch Saladin erobert. Der letzte König von Jeru- salem namens Balduin (V.) war bereits zwei Jahre zuvor verstorben. 36 In der neueren Marienburg-Literatur fehlt es nicht an Versuchen, in Analogie zu anderen Fällen, die Konventsburg als Palast Davids oder Salomons sowie Allusion auf das himmlische Jerusalem der Apokalypse zu verstehen. Vgl. Skibinski (wie Anm. 21), S. 187ff.; Marian Kutzner, Propa- ganda wladzy w sztuce Zakonu Niemieckiego w Prusach, in: WOZNIAK (wie Anm. 1), S. 17-66, hier S. 52 ff.; Kazimicrz POSPIESZNY, Die Architektur des Deutschordenshause in Preußen als Ausdrucksmittel und Werkzeug der Ordensmission und Herrscherpolitik, in: Ordines militares - Col- loquia Torunensia historica XIII: Selbstbild und Selbstveiständnis der geistlichen Ritterorden, hg. v. R. CZAJA und J. Sarnowsky, Torun 2005, S. 227-241, hier S. 228. 37 Vgl. JAKUBOWSKA (wie Anm. 16), S. 207, 211,216, Abb. 39. 43, 49. 38 Vgl. Skibinski (wie Anm. 21), S. 151 f. Die Marienburger Schlosskirche als Jerusalem-Imagination 91
Selbst das Jüngste Gericht betrifft Jerusalem, sofern es nach einer konsistenten Tradition der Ort der zweiten Parusie und des Endgerichts sein sollte. Am Nord- portal wird man die Anbetung der Könige39 40 als Erinnerung an den Geburtsort Bethlehem, der Stadt Davids, verstehen. Skibinski, in seinem Buch Kaplica na Zamku Wysokim w Malborku (1982), vermutete einen entsprechenden Ortsbezug für die allgemein als Marientod^ gedeutete Darstellung des Nordportals. Aller- dings brachte er sie mit der kreuzfahrerzeitlichen Verehrung des Mariengrabes im Kidrontal (Tal Josaphat) in Verbindung.41 Die Marienburger Annenkapelle selbst, in ihrer Funktion als Bestattungsort der Hochmeister, sei eine architektonische Inter- pretation des Mariensanktuariums im Tal Josaphat.42 Aber bezieht sich die Tympanon-Darstellung des Marientodes wirklich auf die- sen Ort? Dem stehen zwei Befunde entgegen. Erstens: Das Sanktuarium im Tal Josaphat galt nicht als Ort des Marientodes, sondern nur der Grablegung und Him- melfahrt. Zweitens der ikonographische Befund. Skibinski und noch Jurkowlaniec (1989) katalogisierten die Darstellung als „Marientod“43 Maria unten auf dem Sterbebett und oben „die Seele Mariens in Gestalt eines kleinen Kindes durch Chris- tus im Geleit der Engel emporgetragen“.44 Damit ist nur die dormitio bezeichnet, als deren Schauplatz traditionell die Hagia Sion ausgewiesen war. Carl Heinz Clasen indessen hatte ein Problem mit der Marienburger Darstel- lung, dem er zugleich mit einer Erklärung begegnen zu können glaubte: „Ohne trennenden Streifen schwebt über dem Marientod, von Wolken und Engeln getra- gen, die Maria mit dem Christusknaben auf dem Arm. Es liegt hier offenbar eine merkwürdige Verquickung verschiedener Bildmotive vor: Maria mit dem Kinde hat Christus mit der Seele der Maria auf dem Arm ersetzt und ist dabei zum Bild- motiv der Himmelfahrt geworden.“45 In der Tat wäre eine Madonna mit dem Kin- de in der narrativen Darstellung ihrer Himmelfahrt singulär. Die Erzählung vom Sterben und der Himmelfahrt Mariens begegnet in der Le- genda Aurea des Jacobus a Voragine in ihrer am meisten entwickelten westlichen Version. Sie verteilt das Geschehen über viele Stationen: von der Ankündigung des nahen Todes durch den Erzengel Gabriel bis zur Krönung Mariens im Himmel durch Christus. Bei ihrem Tod wird die Seele Mariens unmittelbar von Christus in den Himmel aufgenommen. Diese assumptio animae wurde nach dem traditionel- len Bildmuster und dem Verständnis der östlichen dormitio oder koimesis darge- 39 Vgl. Jakubowska (wie Anm. 16), S. 159, Abb. 1. Abbildung siehe oben im Beitrag von Udo Arnold, Maria als Patronin des Deutschen Ordens im Mittelalter, Abb. 5. 40 Vgl. JAKUBOWSKA (wie Anm. 16), S. 163, Abb. 4. Abbildung siehe oben im Beitrag von Udo Arnold, Maria als Patronin des Deutschen Ordens im Mittelalter, Abb. 6. 41 Die dortige Kapelle sei der dormitio bzw. dem transitus Mariens gewidmet gewesen. Vgl. Skibinski (wie Anm. 21), S. 156. 42 Skibinski (wie Anm. 21), S. 153-158. Eine entsprechende topologische Erinnerung an das Grab Christi macht er dagegen in der Oberkirche an der Westwand aus. Dort habe sich eine Nische oder Kammer befunden, die als symbolisches Grab Christi fungierte: Skibinski (wie Anm. 21), S. 68ff. und 154. 43 J. G. G. BÜSCHING, Das Schloss der Deutschen Ritter zu Marienburg, Berlin 1923, S. 33, identifiziert einen Christus, der die Seele Mariens trägt; ebenso Skibinski (wie Anm. 21), S. 146. 44 Jurkowlaniec (wie Anm. 17), S. 178, Nr. 91. I.: „Zasni^cie PMarii; dusza Marii w postaci maiego dziecka unoszona przez Chrystusa w asyscie aniolöw.” 45 Karl Heinz CLASEN, Die mittelalterliche Bildhauerkunst im Dcutschordensland Preussen, Berlin 1939, S. 55. 92 Albert Boesten-Stengel
stellt: Christus erscheint inmitten der Apostel am Sterbelager Mariens und hält ihre puppengleich kleine Seelenfigur in den Armen. Anschließend wird Maria die noch höhere Gnade und Auszeichnung zuteil, am dritten Tag in ihren Leib zurückzukehren und mit diesem wieder vereint in den Himmel aufzufahren (assumptio corporis). Diese Erzählung ist das Ergebnis einer langen Entwicklung, in der theologische Begründungen mit liturgischen und bildli- chen Veranschaulichungen verwoben wurden. Am Anfang stand die theologische Idee der Verherrlichung der Gottesmutter, am Ende sollte diese Verherrlichung nur dann vollkommen sein, wenn sie nicht nur als Seele, sondern mit ihrem Leib in den Himmel aufgenommen worden wäre.46 Diese letzte Stufe wurde von vielen ernsthaften Theologen weiterhin als eine zwar zulässige, aber nicht unumstößliche Hypothese behandelt. In der Legende ereignet sich, um die doppelte Aufnahme in den Himmel zu akzentuieren, zwischen Marientod und Himmelfahrt des Leibes das Marienbegräbnis. Man stellte sich das Grab als den Schauplatz vor, an dem sich die Erweckung ihres Leibes ereignete.47 Der mariologische Zyklus in Duccios großem Hochaltarbild von 1308-1311 der Sieneser Kathedrale vertrat die vollständige Narration, nach Szenen und Schauplätzen getrennt: zuerst die assumptio animae, dann die Grabtragung und in einer dritten Szene die Grablegung. Die assumptio corporis, die in der Bekrönung des Altaraufbaus dargestellt war, ist verschollen, aber aus der Rezeption dieses Vorbilds in der sienesischen Malerei des 14. Jahrhunderts zu erschließen.48 Sie zeigte wahrscheinlich eine frontale Maria-orans, in einer Mandorla thronend und in die Luft erhoben über den Aposteln.49 Daneben gab es, ohne die Szenenfolge der Legenda Aurea anzutasten, Aus- wahlprogramme. In dem wahrscheinlich ebenfalls von Duccio entworfenen, 1287 bestellten großen Rundfenster der Kathedrale in Siena erkennen wir die letzten drei Stationen des Dramas in drei vertikal angeordneten Bildern (Abb. 5).50 Die Narration beginnt unten in der irdischen Sphäre mit der Grablegung, jedoch so, dass hier nicht die Apostel und Maria alleine, sondern schon Christus (erkennbar am Kreuznimbus) in Begleitung von Engeln auftritt.51 Er ist gekommen, Maria zu erwecken. In der Darstellung des mittleren Registers thront Maria, die Hände gefaltet und in Frontalansicht, in einer Mandorla, die von Engeln zum Himmel getragen wird. Oben, im Himmel, schließt die Marienkrönung die Narration ab. 46 Hendrik Willem VAN OS, Marias Demut und Verherrlichung in der sienesischen Malerei, 1300- 1450, ’s-Gravcnhage 1969, S. 150. 47 Dies verhält sich auch so in den frühesten Darstellungen der assumptio corporis, die in Frankreich zu lokalisieren und vom letzten Viertel des 12 Jhs. zu datieren sind. Konsistent ist die Darstel- lungsweise der Kathedralportale in Senlis, Chartres, Longpont und Amiens: Engel heben Maria in einem Tuch aus dem Grab. Vgl. Jean-Claude SCHMITT, Uexception corporelle: ä propos de l‘Assomption de Marie, in: Jeffrey F. Hamburger, Anne-Marie BOUCHE (Hg.), The Mind’s Eye. An and Theological Argument in the Middle Ages, Princeton 2006, S. 151-185, hier S. 168-169. 48 Siena, Museo Opera del Duomo; siehe hier die Darstellungen oben rechts in der Rekonstruktion bei VAN Os (wie Anm. 46), Abb. 1, 105, 106. Ebenso differenziert ist der Zyklus in der Apsis der Kathedrale von Orvieto (Fresko des Ugolino di Prete Ilario, 1370-84) und in der Kapelle des Pa- lazzo Pubblico in Siena (Fresko des Taddeo di Bartolo, 1406-08) dargcstellt. 49 Vgl. VAN Os (wie Anm. 46), Abb. 112-122. 50 Siena, Kathedrale; vgl. VAN Os (wie Anm. 46), S. 157-162 und Taf. 13. 51 Bei SCHMITT (wie Anm. 47), S. 175, fälschlich als Marientod identifiziert. Van Os bestimmt richtig die Grablegung, die an dem Sarkophag erkennbar ist. Die Marienburger Schlosskirche als Jerusalem-Imagination 93
Abb. 5: Rundfenster in der Kathedrale von Siena 94 Albert Boesten-Stengel
Clasen behauptet nun für das Marienburger Tympanon nicht einfach ein Aus- wahlprogramm, vielmehr eine Verschränkung der in der Narration zeitlich und räumlich getrennten Ereignisse Seelenauffahrt und leibliche Himmelfahrt Mariens. Erstens trete an die Stelle des für den Marientod ikonographisch üblichen Christus mit der Marienseele die zwar formal analoge, aber in der dargestellten Beziehung umgekehrte Gottesmutter mit dem Kinde. Zweitens sei diese Figur eben dort in das Bildschema eingefügt, wo man, von Engeln getragen, die Maria der leiblichen Himmelfahrt erwarte. Bisher hat nur Bogna Jakubowska Clasens Verständnis des Himmelfahrtsmo- tivs aufgegriffen und zum Anlass einer ausführlichen Untersuchung des ikono- graphischen Programms der Tympana genommen - in ihrer Studie Malborska Summa theologica (1992).52 Demnach wäre das Marienburger Tympanon die erste und bis weit ins 15. Jahrhundert einzige greifbare Darstellung der Spezialdoktrin von der assumptio corporis im Deutschordensland Preußen.53 Sonstige Darstel- lungen des Marientodes zeigen hier weiterhin die traditionelle Typik der dormitio, so der bereits genannte Flügelaltar aus der Kapelle der ehemaligen Deutschordens- komturei in Grudzic[dz (Graudenz)54. Christus - mit Bügelkrone - erscheint unter den Anwesenden und hält die Marienseele. Maria selbst, halb aufgerichtet, vertritt als Variante der dormitio den Typus des sogenannten Letzten Gebets Mariens (Abb. 6). Abb. 6: Flügelaltar aus der Kapelle der ehern. Deutschordenskomturei Graudenz, Warschau, Nationalmuseum Jakubowskas Darlegungen verdanke ich den Hinweis auf das französische Beispiel um 1300 einer Kurzfassung der Bilderzählung, in der auf eine Darstel- lung der Maria auf dem Sterbebett ohne Christophanie die Himmelfahrt der Ganz- 52 Jakubowska (wie Anm. 16), S. 162-196. 53 Jakubowska (wie Anm. 16), S. 174f. und S. 245. 54 Warschau, Nationalmuseum; vgl. Labuda (wie Anm. 15). Die Marienburger Schlosskirche als Jerusalem-Imagination 95
figur Mariens in einer von Engeln getragenen Mandorla und schließlich die Ma- rienkrönung folgen.55 Wenn diese Möglichkeit bestand, dann bleibt die Marien- burger Bilderfindung weiterhin eine erklärungsbedürftige Ausnahme. Jakubowska versteht sie als frühes Beispiel einer Himmelfahrtsmadonna: fliegende Engel um- geben und halten die Madonna mit dem Kind. Doch ist diese Bildformel, wie Jakubowska zeigt, erst im ausgehenden 14. Jahrhundert nachweisbar, etwa mit der Madonnenstatue, um 1390, aus St. Peter und Paul in Legnica (Lignitz) in Schle- sien, aufbewahrt im Nationalmuseum in Warschau.56 Zwei Engel stützen die Ma- donna mit dem Kind, ein weiterer fungiert als Konsole. Eine weitere, aber deutlich stehende (und nicht schwebende oder erhobene) Madonna im Engelskranz bildet die Mitte des Flügelaltars aus Szydlow (Schiedlo), um 1380, im Nationalmuseum in Poznan.57 Bezeichnend ist, dass sich diese Formel außerhalb der narrativen Darstellungen der Himmelfahrt Mariens etabliert. Es erinnert an die Himmelfahrt als Wesensmerkmal der Gottesmutter, ohne geradewegs zu behaupten, dass Maria seinerzeit mit dem Kinde aufgefahren sei. Der Typus stellt in erster Linie die ge- krönte Regina coeli dar, attributhaft-dramatisch ergänzt um Merkmale der Him- melfahrt.58 Wir können ihn nicht heranziehen, retrospektiv die Darstellung des Marienburger Tympanons einzuordnen.59 Dem steht alleine schon der Gestus der von Clasen und Jakubowska als Christuskind gedeuteten Figur entgegen. Die vor der Brust erhobenen Hände berühren einander an den Fingerspitzen: ein eindeuti- ger Gebetsgestus, der für Christus untypisch60 wäre, für die auffahrende Maria des Himmelfahrtsbildes seit Duccio jedoch die Regel ist. Bleibt nur die Irritation, dass 55 Beispielsweise die von Jakubowska angeführte Miniatur der Pariser Biblia Vulgata aus der Zeit Philipps des Schönen (1268-1314); vgl. Jakubowska (wie Anm. 13), S. 166 und S. 167, Abb. 8; vgl. auch Ph. Verdier, Lc couronnement de la Vierge. Les origines et les premiers developpements d’un theme iconographique, Montreal/Paris 1980, S. 142, Anm. 115, und fig. 73. Allerdings nennt Jaku- bowska diese Illustration lediglich dafür, dass Christus nicht notwendig in Darstellungen des Marien- todes assistiere. Meines Erachtens könnte sie die Darstellung auch als Beispiel einer Assumptio cor- poris anlühren, bei der die Episode des Begräbnisses ausgelassen wurde. 56 Vgl. Jakubowska (wie Anm. 16), S. 188, Abb. 23. 57 Vgl. Peter KNÜVENER, Brandenburg, die Niederlausitz unter Karl IV. und Schlesien - Bemer- kungen zu künstlerischen Verbindung, in: Mateusz Kapustka, Andrzej Koziel, Piotr Oszczanowski (Red.), Sl<isk i Czechy. Wspölnc drogi sztuki. Materialy konfereneji naukowej dedykowane Profesorowi Janowi Wrabecowi, Wroclaw 2007, S. 63-75, hier S. 66-68 und Abb. 32. - Zofia BlALLOWicz-KRYGIEROWA, Studia nad snycerstwem XIV wieku w Polsce, Poznan 1981, ordnete diesen Altar und das vorige Bildwerk dem Kreis des Löwenmadonncnstils zu. 58 Man darf diesen Typus mit den italienischen, Maestä genannten Bildwerken des 13. Jhs. verglei- chen, welche die Gottesmutter mit dem Kind auf einem Thron zeigen, der von Engeln gehalten und getragen wird. 59 Als einzigen früheren Beleg einer Darstellung der Madonna mit dem Kind und zugleich Merk- malen der Himmelfahrt nennt Jakubowska (wie Anm. 16), S. 187, die Agraffe eines Pluviales im Schatz der Kollegiatskirche in Tongern (Belgien), die sie nach dem Fundkonlcxt in den Anfang des 13. Jahrhunderts zu datieren vorschlägt. Sie stützt sich dabei auf die Abbildung bei Joseph Braun, Die liturgische Gewandung in Occident und Orient nach Ursprung und Entwicklung, Verwendung und Symbolik, Freiburg i. Br. 1907, S. 325 und Abb. 150. Die Madonna wird von knienden Engeln an den Beinen und von zwei Biegenden am Oberkörper gehalten. Braun datiert in das 15. Jahrhundert. Ich würde sie nach Stilmerkmalen noch in das späte 14. Jahrhundert geben und so wie die Madonna aus Legnica (Lignitz) verstehen. 60 Er begegnet an Christus nur in der Taufe Christi (nach Lk 3, 21), und erst in Mittelitalicn um 1450, oder in Christus am Olberg (Gethsemane). 96 A Ibert Boesten-Stengel
der Christus, der hier die Marienseele auf dem Arm hält, anders als alle anderen Christusfiguren des Zyklus61 bartlos dargestellt zu sein scheint.62 Die stehende Madonna mit dem Kind widersteht der von Clasen vermuteten Übertragung in bilderzählerische Zusammenhänge.63 Sie bleibt „ihr autonomes Bild“64 schlechthin, als das der Typus in der ikonographischen Literatur apostro- phiert wird. Dem östlichen Anfang in vorikonoklastischer Zeit entspricht die Il- lustration des im Jahr 586 datierten syrischen Rabbula-Evangeliars.65 Sie zeigt die stehende Madonna ganz für sich, umrahmt und überfangen vom kosmischen Wür- dezeichen des Baldachins (Abb. 7). Das Bild veranschaulicht keine einzelne Epi- sode, nicht einmal einen Zeitraum (Kindheit Jesu), sondern das dauerhafte Wesen der Gottesmutter, ablesbar an ihrer Form und ihren Attributen. So ist es auch bei der Marienburger Mosaikmadonna. Sie verkörpert alles in einem, was doch in den Tympana narrativ-chronologisch aufgefächert ist. Abb. 7: Rabbula-Evangliar, Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, siehe Farbtafel 6 61 Vgl. die Figuren Christi in den Tympana der Himmelfahrt, des Jüngsten Gerichts und der Marien- krönung. Letzteres bei Jakubowska (wie Anm. 16), S. 197, Abb. 29. 62 Möglicherweise war die Präzisierung dieses Details ursprünglich der färbigen Fassung des Kunst- steinreliefs überlassen, die hier nicht erhalten ist. 63 Clasens Deutung impliziert die Überführung der Maria mit dem Kinde in die narrative Darstellung der Himmelfahrt. 64 Gerard A. WELLEN, Das Marienbild der frühchr. Kunst, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, hg. v. Engelhart KIRSCHBAUM, Bd. 3, Freiburg i. Br. 1971, Sp. 156-161, hier Sp. 160. 65 Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, cod. Plut. I, 56, fol. 1b. Die Marienburger Schlosskirche als Jerusalem-Imagination 97
Alle sechs Tympana der beiden Portale der Annenkapelle beziehen sich auf Tod, Auferstehung und Gericht und damit den Vorstellungskreis des christlichen Begräbnisses, wie er der Funktion der Krypta entspricht.66 Tatsächlich wurden in ihr beginnend mit Dietrich von Altenburg (gestorben 1341) elf Hochmeister be- stattet. Umso bemerkenswerter ist, dass die Bilderzählung der Annenkapelle das Begräbnis Mariens (und damit den von Skibinski erwarteten Bezug auf das Grab im Tal Josaphat) auslässt. Dieser Bezug war, wie ich meine, auf andere Weise und an einem anderen Ort visualisiert. In der zitierten Darstellung des Sieneser Glasfensters ist Christus schon bei der Beisetzung Mariens zugegen, sic zu erwecken. Die in allem minutiös narrative Le- genda Aurea trennt auch diese beiden Vorgänge deutlich. Das Begräbnis wird abge- schlossen. Erst dann kommt Christus zum zweiten Mal. Michael bringt vom Him- mel die Seele Mariens. Christus vereint sic wieder mit dem Leib. Dies geschieht in der Legende, indem er die Worte des Hoheliedes spricht: „Surge proxima mea, columba mea |...]“.67 Die Verborgenheit der Taube im Fels wird zur Metapher von Tod und Begräbnis. Sie soll nun hervorkommen, sich erheben wie zum Fluge der Himmelfahrt. Das „Surge, mea columba, et veni in foraminibus petrac“ entspricht dann dem „Lazare, veni foras“68, mit dem Christus die Auferstehung des Lazarus aus dem Grabe bewirkte.69 Das Taubenmotiv am Gewand der Gottesmutter möchte man sich demnach nicht als lediglich nachträglichen Mosaikschmuck der Figur, sondern als wesentlichen Teil des originären Bildprogramms denken. Der Chor der Schlosskirche in seiner bildhaften Außenansicht und das Mosaikbild an ihm schei- nen nichts anderes als das „Surge, mea columba“ gleichsam als zeitlosen Vorgang aufzuführen. Der unter den Hochmeistern Luther von Braunschweig und Dietrich von Al- tenburg betriebene Ausbau der Marienburg veranschaulicht nur mehr die Bestre- bungen des Ordens, eine Landesherrschaft in Preußen nach dem Muster der Staa- tcnbildung in Ostmitteleuropa zu etablieren.70 Eben das Mausoleum der Hoch- meister im Haupthaus des Ordens verkörpert diesen Anspruch. Der aus dem Ge- 66 J. Trupinda, Skrzydio polnocne zainku wysokiego - dzjieje, ksztaiarchiicktoniczny i wyposaze- nie w swietlc zrödel pisanich, in: POKSINKl (wie Anm. 2), S. 13-45, hier S. 32 f., betont in An- schluss an Skibihki den der Grablegc gemäß „eschatologischen“ Gehalt des Bildprogramms der Annenkapelle. Ebenso in Jözwiak/Trupinda (wie Anm. 2), S. 131 f. 67 Th. GräESSE (Hg.), Jacobi a Voragine Legcnda Aurea Vulgo Hi.sloria lombardica dicta, 3. Aull. 1890 (Reprint 1969), S. 509. Natürlich werden hier noch weitere Beinamen Mariens in Anlehnung an das Hohelied zitiert: „Surge proxima mea, columba mea, tabcrnaculum gloriae, vasculum vitae, templum coeleste 68 Biblia Vulgata, Io 11,43. 69 Patriarch Cyrill von Jerusalem (315-386) bezieht in einer seiner Katechesen die Höhlung des 1 ;clsens aus dem Psalm Surge proxima mea auf das Grab und die Auferstehung Christi. Vgl. Dona- tus BALD1. Enchiridion locorum sanclorum, 2. Aull. Jerusalem 1982, S. 626, Abs. 8. 70 Der Orden versuchte seinen Anspruch im Slaalengefügc Oslmitteleuropas auch auf dem Weg der Diplomatie abzusichern. Hierfür stehen das „Dreikönigstreffen“ in Visegräd an der Donau, wo im Jahr 1335 Johann von Luxemburg, König von Böhmen, und dessen Nachfolger Karl von Mähren sowie König Kasimir III. von Polen, die Herzöge Rudolph I. von Sachsen und Boleslaw von Schlesien und Vertreter des Deutschen Ordens mit Ludwig von Anjou, König von Ungarn, zu- sammentrafen, und der 1341 in Thorn unter Vermittlung der Könige von Ungarn und Böhmen verhandelte, 1343 abgeschlossene Friede des Ordensstaates mit Polen. In eben diese Periode der politischen Transformation des Ordenslandes fällt der Ausbau der Schlosskapellc in Marienburg und sind die weiteren Gründe ihres Bildprogramms zu vermuten. 98 Albert Boesten-Stengel
viert des Hochschlosses vortretende neue Chor der Schlosskirche ist die Schau Sei- te dieses Mausoleums. Die monumentale Mosaikfigur zeigt die über das Grab (die Annenkapelle) erhobene Gottesmutter als Triumphalbild, verwandelt den Chor optisch in einen zentralbauartigen Baldachin, versetzt imaginativ Jerusalem nach Preußen oder die Marienburg in das Heilige Land. Die Marienburger Schlosskirche als Jerusalem-Imagination 99
Der „Mariencharakter“ des Doms zu Marienwerder Ein vereinzeltes Beispiel? Liliana Krantz-Domastowska Die im Titel dieses Beitrags auftretende Bezeichnung „Mariencharakter“ signali- siert im Zusammenhang mit dem Dom zu Marienwerder/Kwidzyn und der ganzen Stadt den Versuch, alle lesbaren Bezüge zur Gestalt Mariens zu erfassen. Ihre Zu- sammenstellung will auf die Frage aufmerksam machen, ob und in welchem Aus- maß die Präsenz der in weitem Sinne verstandenen „marienhaften“ Elemente mit der Zugehörigkeit des Bischofs von Pomesanien und des pomesanischen Kapitels zum Deutschen Orden zu erklären und demzufolge als Ausdruck der besonderen Rolle der Jungfrau Maria im Leben der Ordensangehörigen zu werten ist. Vielleicht gehört diese Frage aber auch in den viel breiteren und allgemeineren Kontext der andauernden Popularität des Marienkults im Mittelalter (Abb. 1 und 2). Diese Probleme wurden bereits in älteren Untersuchungen erörtert. Zum Bei- spiel betonte B.-M. Rosenberg 1967 die entscheidende Rolle des Ordens für die Pflege des Marienkults in Preußen und schrieb diesem die Funktion eines Integra- tionsfaktors in Bezug auf die dort lebende Bevölkerung und die Herrschaftskreise zu.1 K. Görski betonte 1980, dass der der Muttergottes geweihte Orden naturge- mäß zur Pflege ihres Kultes verpflichtet war und dass die Ordensritter sich hierin von anderen Ordensgemeinschaften, z.B. von den Zisterziensern, gar nicht unter- schieden.2 Eine sehr interessante These formulierte 1987 M. Dygo, der den rechts- politischen Aspekt des Marienkultes im Ordensstaat untersuchte.3 Maria tritt - seiner Auffassung nach - in der Rolle des Souveräns auf und Preußen ist gleich- sam ein Lehen, welches sie den Ordensrittern gegeben hat. Deshalb herrscht sie über das ganze Territorium, ungeachtet seiner verwaltungsmäßigen Gliederungen, und ihre Herrschaft erfasst - im persönlichen, wie auch im institutionellen Sinne - alle „Großen und Kleinen“. Dieses apriorische, bedingungslose und politisch bedeutsame Marienbild er- fährt aber individuelle Korrekturen. Das prägnanteste Beispiel ist die Diözese Ermland, bei der weder die Bischöfe noch das Kapitel in den Deutschen Orden inkorporiert wurden und die eine relative territoriale und politische Unabhängig- keit besaß. Das stark exponierte Marienmotiv, das u.a. im Namen des dortigen Bischofssitzes Frauenburg, dem Marienpatrozinium des Domes und möglicher- 1 B.-M. Rosenberg, Marienloh im Deutschordenslande Preussen. Beiträge zur Geschichte der Marienuerchrung im Deutschen Orden bis zum Jahre 1525, in: Acht Jahrhunderte Deutscher Or- den im Einzeldarstellungen, hg. von K. Wieser OT (Quellen und Studien zur Geschichte des Deut- schen Ordens, Bd. 1), Bad Godesberg 1967, S. 321-337. 2 Karol GÖRSKI, Zakon Krzyzacki a powstanie pahstwa pruskiego, Wroclaw-Warszawa- Krakow- Gdansk 1977, S.88. 3 Marian DYGO, O kulcie Maryjnym w Prusach Krzyzackich w XIV- XV wieku, Zapiski Hislo- ryczne, 52, H. 2, 1987, S. 5-37, bcs. S. 10-13. Der „Mariencharakter“ des Doms zu Marienwerder 101
weise der monumentalen Darstellung der Maria an der Westfassade der Kirche zum Vorschein kommt, zeugt von einem raffinierten Spiel der Bedeutungen. Das Marienprogramm des Frauenburg Doms ist - so die These von M. Dygo - Aus- druck der Loyalität gegenüber dem Deutschen Orden und Maria als dem Souverän Preußens auf der einen und Beweis der Unabhängigkeit des Bistums Ermland auf der anderen Seite.4 Abb. 1: Marienwerder, Rekonstruktion der Kapitelburg und der Domkirche um 1360, J. Heise, S. 60, Anm. 26 Abb. 2: Marienwer- der, Situationsplan um 1500, E. Wer- nicke, Marienwer- der. Geschichte der ältesten Stadt, Marienwerder 1933, S. 64 4 Die Ambivalenz der Bedeutungen der Marienprogrammc in der Kunst der Diözese Ermland erwähnte bereits M. Dygo (wie Anm. 3), S. I9-21. 102 Liliana Krantz-Domaslowska
Wie präsentiert sich vor diesem Hintergrund die Haltung der die Gottesmutter verehrenden Bischöfe und des pomesanischen Kapitels zu Marienwerder, welches gleich zu Anfang (1284/1285) dem Deutschen Orden einverleibt wurde? Ent- scheidende Bedeutung hatte wohl die Wahl des Ortsnamens, der mit der Person von Maria verbunden war, denn diese Wahl zog weitere Entscheidungen nach sich. Ein Vergleich mit anderen Zentren, denen von den Ordensrittern mit Maria verbundene Namen gegeben wurden, lässt Marienwerder in einen chronologischen und in einen Bedeutungszusammenhang bringen. Die Formulierung Insul a Sancte Mariae (deutsch St. Marienwerder) taucht nach der Chronik des Peter von Dusburg (14. Jahrhundert) im Zusammenhang mit den ersten Burganlagen auf, die von den 1233 in Pomesanicn eingedrungenen Truppen des Landmeisters Hermann von Balk errichtet wurden. Dieser Name war mobil, denn er wurde übertragen auf die zweite von den Ordensrittern befestigte Burg, die an Stelle einer alten preußischen Wehranlage (Quidino) erbaut wurde, und auf die benachbarte Stadt (civitas Insule Sancte Mariae), welche man 1234 nach Kulmer Recht gründete.5 Ein anderes Beispiel ist Marienburg (Castrum Sancte Mariae). Diesen Namen assoziiert man auch mit der ältesten Burganlage von ca. 1279, also lange vor ihrer Wahl (1309) zum Hauptsitz des Deutschen Ordens.6 In beiden Fällen ist die ma- rienbezogene Namensgebung mit der Eroberung und Befestigung eines Land- stücks verbunden. Sie ist Vollendung bzw. Anfang einer Militärhandlung und vor allem Zeichen der neuen verwaltungsmäßigen und religiösen Ordnung, die man mit dem Deutschen Orden verband.7 Seither waren die beiden Zentren irgendwie verpflichtet, ihre eigene marienhafte Ikonosphäre aufzubauen. Die Gründung der Diözese Pomesanien (1243), die Heraussonderung des bischöflichen Kondomi- niums (1254), die Stiftung des Kapitels, dessen Mitglieder Ordenspriestcr waren (1285), stellten einzelne Etappen der Entwicklung kirchlicher Verwaltungsstruktu- ren dar. Dieser Prozess spiegelte sich in Rechtsakten wider, man verfasste Urkun- den, in denen sich der neue Name als offizieller, amtlicher Name etablierte. 5 Jan Pawierski, Sredniowiccze, in: Kwidzyn. Z dzicjöw niiasla i okolic, Olsziyn 1982, S. 49-82, insbesondere 511'.; Andrzej Radzimihski, Kwidzyn w sredniowicczu, in: Kwidzyn. Dzieje niiasla, Bd. I, Red. Krzysztof Mikulski/Justyna Liguz, Kwidzyn 2004, S. 55-90, bes. S. 55, 56, 63. Die Gründungsurkunde wurde am 2. April 1336 von Bisehof Berthold erneuen. 6 Jan PowiERSKl, Chronologia pocz^tkow Malborka, in: Zapiski Hisloryczne, Bd. 44, H. 2, 1979, S. 7-31. Janusz TRUP1NDA, Skrzydlo pöhiocne Zamku - dzieje, ksztalt architekloniczny i wyposa- zenie w swietle zrödcl pisanych, in: Zamek Wysoki w Malborku. Interdyscyplinarne badania skrzydla polnocnego. Red. Maria Poksihska, Malbork 2006, S. 13-46, Bernard JES1ONOWSKI, Opis archiiektury i dzieje budowlane kosciola Najswi^tszej Marii Panny w zespole zamkowym w Malborku, in: Zamek Wysoki, ibidem, S. 59-76. Der Autor formulierte die These, dass das im letz- ten Viertel des 13. Jhs. gebaute Konventschloss Marienburg von vornherein, wegen seiner Größe und des ikonographischen Programms, für die Rolle eines Herrschersilz.es vorgesehen war. Vgl. dazu S. 71. 7 Auf dem Gebiet der Diözese Pomesanien wurden von dem Mariennamen auch Namen von kleine- ren Orten abgeleitet, wie Maricnvelt seu Mergenvelt (Marienwelde - heute Glaznoty), Mergenov (Marienau - heute Marynowy). Vgl. Waldemar ROZYNKOWSK1, Omnes Sancti et Sanctae Dei. Studium nad kullern swi^tych w diecezjach pruskich pahstwa zakonu krzyzackiego, Malbork 2006, S. 235. Dem Namen Marienburg begegnen wir auch in Litauen, in den Namen der Burgen, welche als Stützpunkte für Militärhandlungen der Deutschen Ordensritter dienten und im Livland, wo 1342 zwei Burgen: Frauenburg und Marienburg „contra scismalicos“ gebaut wurden. Vgl. M. Dygo (Anm. 3), S. 9 Der „Mariencharakter" des Doms zn Marienwerder 103
Der sakrale Charakter aber kam in der Wahl des Kirchenpatrons wohl am voll- kommensten zur Geltung. In Marienwerder tritt in dieser Rolle neben Maria der Evangelist Johannes auf. Von dem doppelten Patronat erfahren wir aus einer Ur- kunde von Bischof Berthold aus dem Jahre 1342.8 Ob es mit dem Bau einer neuen Domkirche verbunden war oder eher die Fortsetzung des Patroziniums einer älte- ren Kirche bezeugte, die 1285 von Bischof Albert zum Rang des Domes erhoben wurde, ist unbekannt.9 Deshalb wissen wir auch nicht, wer über die Wahl des Patrons entschied: die Ordensritter, die kurz nach der Stadtgründung die erste Pfarrkirche stifteten, der Bischof, der in Marienwerder seinen eigenen Sitz und den des Domkapitels errichtete (1254) bzw. das Kapitel, welches 1286 das Patro- natsrecht über der Pfarrei Marienwerder erhielt.10 Unabhängig davon, wer der wirkliche Entscheidungsträger war, alle, die an der Wahl des Kirchenpatrons mit- beteiligt waren, repräsentierten eine sowohl für den Deutschen Orden als auch für Bettelorden charakteristische, an Maria orientierte Geistigkeit. Wohlgemerkt, die beiden ersten Bischöfe von Pomesanien waren der Dominikaner Ernst (1249- 1257) und der Franziskaner Albert (1258/59-1286). Das Marienwerder Patrozi- nium können wir auch in einem weiteren Zusammenhang sehen, indem wir es mit dem für die Zisterzienserkirchen charakteristischen doppelten Marien- und Heili- genpatrozinium vergleichen, in dem neben der Muttergottes oft der Evangelist Johannes in der des Patrons auftrat.11 Wahrscheinlich, wenn auch quellenmäßig nicht belegt, ist die Hypothese, dass das ursprüngliche Marienpatrozinium durch den Landesherrn, den Deutschen Orden, gewählt wurde, und dass man dieses Patrozinium logisch von dem Orts- namen Marienwerder ableitete. Den zweiten Patron erhielt die Kirche mit der Erhebung in den Rang der Kathedralkirche. Diese Wahl, wie auch die Unterstel- lung der ganzen Diözese unter den Schutz des Evangelisten Johannes, dürfte von Bischof Albert vollbracht worden sein. In den anderen preußischen Bistümern wurde die Kirche in Braunsberg (Braniewo), welches ursprünglich zum Domsitz gewählt wurde, dem Apostel Andreas geweiht (1264) und der Patron des Doms in Königsberg wurde bereits bei dessen Stiftung der hl. Adalbert (1302).12 Alle drei Patrone verbindet eine weite Evangelisations- und Missionstätigkeit, die zweifel- sohne für Preußen von Bedeutung war. Die initiierende Rolle spielten jedoch gewiss einzelne Bischöfe, die dadurch ihre individuellen Vorlieben zum Ausdruck bringen konnten. Markante Beispiele hierzu sind der genannte Dreifaltigkeitsdom in Kulmsee (1251) und Bischof Heidenreich.13 Im Falle von Marienwerder ist das 8 Pr. üb. Bd. 3, Nr. 497. 9 Bischof Albert erließ am 27.9.1285 die Urkunde, die die Gründung des Kapitels in ecclesia nostra kathedrali bestätigte, was man als die Verleihung der Würde der Kathedrale an die vorhandene Pfarrkirche interpretiert. Vgl. Pr. Ub. Bd. 1, Nr. 473 = CDP, Bd. 2, Nr. 9. 10 1254 - Regest Pr. Ub. Bd. 1/1, Nr. 301; 9.01.1286 - Pr. Ub. Bd. 2, Nr. 87, Mario GLAUERT, Das Domkapitel von Pomesanien (1284-1527), Prussia Sacra 1, Torun 2003. 11 W. Rozynkowski (Anm. 8), S. 132f.. 12 Bischof Anselm wählte als Domsitz Braunsberg in der Diözese Ermland. Die älteste Quellenanga- be zum Andreas-Dom stammt von 1264. Vgl. CDW, Bd.l, Nr. 48, Regest Nr. 100. In der Stif- tungsurkunde des Domes zu Königsberg (11.01.1302) erscheint als dessen Patron hl. Adalbert. Vgl. CDW, UBS, Nr. 200, Bd. 1, Nr. 122, W. Rozynkowski (wie Anm. 7), S. 87-89. 13 Die Dreifalligkeitsdomkirche in Kulmsee ist durch Urkunden schon 1251 bestätigt. Vgl. UBC, Nr. 29. Bischof Heidenrich ist Autor eines theologischen Traktates über die Heilige Dreifaltigkeit. Vgl. W. Rozynkowski (wie Anm. 7), S. 831'.. 104 Liliana Krantz-Doinaslowska
Patrozinium der Gottesmutter als das hierarchisch erste und grundsätzliche, das Patrozinium von dem Evangelisten Johannes dagegen als das ein zusätzliches zu betrachten. Dieser Umstand soll maßgeblich die Ausgestaltung des Kultes beider Patrone beeinflusst haben. Zu den Erscheinungsformen dieses Kultes gehören Wappen- und Siegelbilder. Das Stadtsiegel von Marienwerder, welches ein Zeichen der ganzen Gemeinschaft war, knüpfte an den Landesherren, also den Bischof an, indem es seine Herr- schaftssymbole: die Inful und den Bischofsstab präsentierte. Gerade dieses Zei- chen überdauerte in unveränderter Form mehrere Jahrhunderte und vermittelte die politisch wichtige Gegebenheit, dass die Stadt der kirchlichen Herrschaft unter- geordnet war. Die Veränderung um die Mitte des 14. Jahrhunderts, die wahr- scheinlich mit der wiederholten Stadtgründung von 1336 verbunden ist, war klein, aber vielsagend: Die vorhandene Darstellung wurde mit dem Motiv des Ordens- kreuzes ergänzt (Abb. 3 a und b).14 Abb. 3: Marienwerder, Siegel der Stadt: a) um 1285, E. Wernicke...; b) aus 14., 15. Jh., Stadt und Kreis Marienwerder/Westpreußen - Ein Bildband mit Motiven bis zum Jahre 1945, hg. W. Krüger, Braunschweig 1993, S. 12 Abb. 4: a) Siegel des ersten Bischof von Pomesanien, Bischof Ernst (1250-1259), Stadt und Kreis, S. 32; b) Siegel von Bischof Heinrich (1286-1302), Stadt und Kreis, S. 31 14 Beata MOZEJKO/Btazej SL1W1NSKI, Heraldyka kwidzyriska, in: Kwidzyn. Dzieje iniasta, Bd. I, Red. Krzysztof Mikulski/Justyna Liguz, Kwidzyn 2004, S. 13-31. Diese Veränderung wird als Reaktion der Ordensritter auf die im 14. Jh. auftauchenden Stadtwappen in der Absicht gedeutet, in ihnen die Ordensheraldik zur Geltung zu bringen. Der „Mariencharakter“ des Doms zu Marienwerder 105
Abb. 5: a) Siegel des Domkapitels von Pomesanien um 1316, Berlin, GSA, Sygn. P.K. XXII, 4; b) Siegel des Domkapitels von Pomesanien um 1326, Berlin, GSA, Sygn. P.K. XXII, 7; A. Radziminski, Biskupstwa pahstwa krzyzackiego w Prusach XIII-XV w., Torun 1999, II. 5, 6 Darstellungen auf den Siegeln der nachfolgenden Bischöfe präsentierten - trotz ihrer Modifizierungen - häufig Marienmotive (z.B. einen knienden Bischof, der Maria mit Kind verehrt, oder die Krönung Mariens in Anwesenheit zweier Heiliger) (Abb. 4 a und b).15 Auch das pomesanische Domkapitel verfügte über ein thematisch ähnliches Siegel (Maria mit Kind in einem architektonischen Rah- men und unten sechs kniende Kanoniker, 1316, 1321) (Abb. 5 a und b). Ein ver- gleichbares Siegel hatte auch der Propst des Domkapitels (Maria mit Kind und ein sie verehrender Priester, 1313).16 Diese Beispiele der Verwendung einer marien- haften Ikonographie beweisen die enge Verbundenheit mit der Schutzpatronin von Dom und Stadt. Maria identifiziert sich gleichsam mit der Institution, die sie durch das Siegel, also durch ein Amtszeichen, repräsentiert. Bezeichnend ist die Vorlie- be für das Motiv der Verehrung, welches auf den Siegelbildern sonst eher selten vorkam. Dieser Darstellung begegnen wir noch auf einem späten Siegel des Props- tes des samländischen Domkapitels (1395, 1421) und auf einem Siegel des Kapi- tels Leslau (WIochiwek) aus dem 13. Jahrhundert.17 Eine monumentale Version der Verehrungsszene präsentiert auch ein Mosaik im pomesanischen Dom (um 1380). Ist dies der Ausdruck einer Besonderheit von Marienwerder oder, im Gegen- teil, eine Form der Identifizierung mit den Bildern von Maria und knienden Or- densrittern, wie sie in der Kunst des Deutschen Ordens populär war? Ohne die Sache hier interpretatorisch zu entscheiden, ist hier anzumerken, dass die Priorität der pomesanischen Überlieferungen in ihrer frühen Datierung begründet ist. In den übrigen Diözesen sind die Darstellungen auf den überlieferten Siegeln stärker differenziert, wenn auch nicht ganz ohne Marienmotive. Doch am häufigsten sind 15 Jan Wisniewski, Dzicje diecezji pomezanskiej (do 1360), Elblqg 1993, S. 3()f. Andrzej Radziminski, Kosei61 w panslwic zakonu krzyzackiego w Prusach 1243-1525, Malbork 2006, S. 35 16 Andrzej RADZIMINSKI, Biskupstwa pahstwa krzyzackiego w Prusach XIII- XV, Torun 1999, S. 51. Mario GLAUERT (wie Anm. 10), S. 354-367. 17 Rainer Kaunitz, Die mittelalterlichen Siegel der Domkapitel im Deutschordensland Preußen, Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde Ermlands, Bd. 47, 1994, S. 13-52, hier S. 47. 106 Liliana Krantz-Domask)wska
diese Motive auf den ermländischen Siegeln (des Bischofs, des Domkapitels und der Stadt) präsent, was die These von der übergeordneten Rolle des Ortsnamens und des Kirchenpatrons bestätigt.18 Die Identifizierung der Marienwerder Stadtbewohner mit diesem Patrozinium war dadurch möglich, dass sich um den Kult der Jungfrau Maria und des Evange- listen Johannes verschiedene Komponenten der Stadt konzentrierten. Eine der Formen solcher „Beheimatung“ war die im Mittelalter populäre Benennung von Straßen nach dem Patron der ächstgelegenen Kirche. Mangel an Quelleninforma- tionen schließt jedoch nicht aus, dass es im Dombereich von Marienwerder einen solchen sakralisierten Raum gab. Doch die überzeugendsten Exempel für den Kult beider Patrone sind mit der Kirche selbst verbunden. Auf die Frage, ob in ihrer architektonischen Form das Marienprogramm kodiert wurde, muss man eine nega- tive Antwort geben: direkt ist das nicht geschehen. Auf der Suche nach der Genese des zweigeschossigen Chores im Dom zu Marienwerder (Abb. 6) können wir auf die Rolle der Marienkapellen in Domkirchen verweisen.19 Wir können auch, in- dem wir ideologische Prämissen der Hervorhebung von Wehrelementen suchen, sie als symbolische Darstellungen einer Burg Mariens betrachten. Doch nicht diese Elemente sprachen die Gläubigen unmittelbar an. Abb. 6: Marienwerder, Chor der Domkirche von Süd-Ost, Foto: W. Kowalinski, 1979 18 A. Radziminski (wie Anm. 15), S. 40, 74, Boguslawa CHOROST1AN, Maryjne iniasto Frombork, Folia Fromborcensia, R. 2 1999, Nr. 2, S. 125-148, S. 128f. Das runde Siegel des Domkapitels Ermland stellte die thronende Maria dar. Das Siegel der Bischöfe von Ermland zeigte vom 12. bis zum 14. Jh. die Gestalt des Bischofs und über ihr Maria mit dem Kind. Auf dem ältesten Stadtsie- gel aus dem 14. Jh. gibt es ein Tor zwischen zwei Türmen und oben die thronende Maria mit dem Kind. 19 Renate WAGNER-RlEGER, Gotische Kapellen in Niederösterrcich, Festschrift Karl Maria Swoboda zum 28. Januar 1959, Wien-Wiesbaden 1956, S. 274, 275. Das Obergeschoss in den französischen Schlosskapellen wird wegen der Planung und des architektonischen Systems mit der Entwicklung der kalhedralen Marienkapellen in Verbindung gebracht. Auf den deutschsprachigen Gebieten stellen sie den Ausgangspunkt zur Herausbildung des hohen Chores dar. Der „Mariencharakter“ des Doms zu Marienwerder 107
Die Form des Domes zu Marienwerder wurde von einer Reihe von Faktoren mitbestimmt (Abb. 7 und 8). Zu den wichtigsten gehörte die Kumulation ver- schiedener Funktionen: als Dom, als Pfarrkirche, als Kapelle für Kanoniker und als Grablege. Mit der Vielfalt der Aufgaben korrespondierte der liturgische Faktor, dessen wichtiger Bestandteil das Patrozinium war. Die Struktur der Patrozinien liturgischer Zentren und ikonographische Motive der Ausmalung der Kirche brachten den Rang des Patronats von Maria und Johannes am vollkommensten zum Ausdruck. Der Johannes-Altar wurde erstmals 1342 in der bereits erwähnten Urkunde Bischof Bertholds erwähnt.20 (Ka'.cdra i zamek, rzut pozinmy. ’.vj; Ileisego) Abb. 7: Marienwerder, Domkirche und Kapitelburg, Grundriss, J. Heise, S. 60, Anm. 26 Abb. 8: Marienwerder, Domkirche, Innenraum in Richtung Osten, Kwidzyn. Diecezja elblqska A.D. 1999, Bydgoszcz 1999 20 Pr. Ub. Bd.3, Nr. 497. bi der Urkunde von Bischof Berthold vom 12.12.1342 ist die Rede von der Schenkung des Dorfes Wallersdorf (Wlodowo) an die Fabrik der Kathedrale, deren Zustand sehr schlecht war. Diese Schenkung wurde durch die Niederlegung eines Erdbrockens auf dem Altar des hl. Johannes des Evangelisten bekräftigt. 108 Liliana Krantz-Domaslowska
Je nach der angenommenen Chronologie der Bauarbeiten am gotischen Dom kann sich dieser Altar entweder im damals noch eingeschossigen Chor der heute existierenden Kirche befunden haben, oder in einer etwa gleich großen Pfarrkirche (die nach 1264 als ein Ziegelbau errichtet wurde).21 Es ist kaum vorstellbar, dass das genannte Altarwerk das einzige liturgische Zentrum im damaligen Innenraum gewesen ist. Aber Informationen über Marienaltäre stammen erst aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, aus der Zeit also, in der der Dom seine endgültige Gestalt erhielt und demzufolge verschiedene liturgische Funktionen ausüben konnte. Funktionen, die mit dem größten Prestige verbunden waren, konzentrier- ten sich auf die beiden Geschosse des östlichen Chores. Das Obergeschoss, das in den Urkunden chorus superior, chorus beate virginis Mariae, chorus ecclesiae Pomesaniensis heißt, fungierte als Kapelle für die Mitglieder des Domkapitels. Das Untergeschoss - bezeichnet als Krypta bzw. Gruftkirche - bildete den sepul- kralen Raum, der hauptsächlich für Bischöfe bestimmt war (Abb. 9 und 10).22 Zur Zeit des Bischofs Nikolaus (1360-1376) gab es dort zwei Marienaltäre, die die symbolische Achse beider Innenräume bildeten.23 Es ist kaum zu entscheiden, ob die in dem elitären Bereich des Domes gehaltene Marienliturgie wesentlich den Kult des zweiten Patrons dominierte. Stiftungen von Bischof Johannes Mönch (1377-1409), der im Obergeschoss des Chores einen Altai* zu Ehren der Trinität, der Jungfrau Maria und des Evangelisten Johannes errichten ließ, an dem zwei Priester täglich eine Messe zu Ehren des Patrons des Doms und der Diözese sin- gen sollten, stellen das Streben nach Gleichgewicht unter Beweis. Zur Aufrecht- erhaltung dieses Gleichgewichts vergrößerte er auch die Zahl der Priester, die Dienst am benachbarten Marienaltar taten.24 25 Auf das Jahr 1396 geht die Bestäti- gung zurück, dass sich in der bischöflichen Gruft ein Allerheiligen-Altar befand? 21 Liliana Krantz-Domaslowska, Katedra w Kwidzynie, Torun 1999, S. 32-44. Auf Grund der Analyse der architektonischen Struktur können wir im Bau des gotischen Domes einige Phasen aussondern. Eine der ersten war die Errichtung eines langen polygonalen Chores, der eine Zeit lang als selbständiger Innenraum funktionierte. In der nächsten Phase wurde das Langhaus gebaut und die Gliederung des Ostteils in zwei Geschosse vollzogen. Das Jahr 1342 gilt als Anfang der Bauarbeiter! bzw. Beginn einer neuen Phase. Die alte Pfarrkirche, der 1285 die Würde der Kathe- drale verliehen wurde, hat man vermutlich nach 1264, nach der Zerstörung von Marienwerder durch die Pruzzen (1260-1273), erbaut. 22 L. Krantz- Domaslowska (wie Anm. 21), S. 55. 23 Bischof Johannes Mönch bestätigte am 23.12.1389 die Schenkung seines Vorgängers Bischof Nikolaus, der im unteren Geschoss einen Marienaltar errichten ließ, an dem täglich Totenmessen gelesen werden sollten. Mit der Zustimmung des Domkapitels versetzte er zwei Priester an den Marienaltar im oberen Chor, wo sie Messen lesen sollten. Vgl. CDP, Bd. 4, Nr. 67, M. GlaüERT (wie Anm. 10), S. 92. 24 CDP, Bd. 4, Nr. 67, M. GLAÜERT (wie Anm. 10), S. 92f. 25 Das Domkapitel stiftete 1396 zwei Vikarstellen für die Priester, die am Allerheiligen-Altar in der bischöflichen Gruft jeden Tag die Hl. Messe lesen sollten. Vgl. M. GlaüERT (wie Anm. 10), S. 94. Der „Mariencharakter1' des Doms zu Marienwerder 109
Abb. 9: Marienwerder, Domkirche, Krypta, Foto: R. Rau 1984 Abb. 10: Marienwerder, Domkirche, Hochchor, Foto: B. Cynalewski 1960 l l() Liliana Krantz-Domaslowska
Die oben angeführten Informationen dienen nicht nur dazu, historische Tatsa- chen ordnend zu sichten. In der Konfiguration der Altäre und ihrer Patrozinien spiegelt sich ein tieferer Sinn der Ecclesia wider, die man als eine sich hierar- chisch konstituierende Gemeinschaft von Personen verstand: Christus als Erlöser, die Jungfrau Maria, die Apostel, Heiligen, Engel sowie lebende und verstorbene Gläubige. Dieser Altar, der nacheinander der Trinität (gleichsam als einer „Stell- vertretung“ des Erlösers), der Jungfrau Maria und dem Evangelisten Johannes geweiht wurde, veranschaulicht die im Chor des Doms zu Marienwerder aufge- bautc Hierarchie der Patrozinien. Die architektonische Gliederung in zwei Ge- schosse vermochte diese ordnende Struktur zu akzentuieren, indem sie einen Raum für die Lebendigen und einen Raum für die Toten schuf. Maricnaltäre in den beiden Innenräumen des Chores zeugen davon, dass man auch in beiden Ge- schossen eine hierarchische „Patrozinien-Kette“ mit dem Marienpatrozinium als festem Bezugspunkt konstruierte. Eine inhaltsreiche Ergänzung der Patrozinien im oberen Chor bildete sicherlich dessen malerische Dekoration. Da der Zyklus der ursprünglichen Darstellungen nicht überliefert ist, kann man hierzu nur Hypothe- sen formulieren. Wir dürfen aber annehmen, dass sich im Mittelpunkt der den polygonalen Chor abschließenden Wand Darstellungen Mariens und des Evange- listen Johannes befanden. Vielleicht waren es monumentale Darstellungen, die ein Ostfenster voneinander trennte und die auch aus der Perspektive des Mittelschiffs sichtbar waren. Vielleicht war es eine eingerahmtc Szene der Maria mit Kind, an die das jetzt vorhandene spätmittelalterliche Gemälde symbolisch anknüpft. Die übrigen Chorwände unterhalb des Fensterbereichs schmückte ein Darstcllungszy- klus in Friesform von nicht näher bekannter Thematik. Forschungen der Konser- vatoren liefern Belege, dass es dort auch Marienmotive (z.B. Szenen aus der Kindheit Jesu) gab.26 Initiatoren und Adressaten des Marienprogramms im Chor waren de facto Mitglieder des Deutschen Ordens. Im Langhaus, also im Aul- enthaltsraum für alle Gläubigen, in dem religiöse Feiern der ganzen Diözese abge- halten wurden und die Seelsorge der Pfarrei stattfand, wären besonders starke Bezüge auf die Dompatrone zu erwarten. Hat es sic aber wirklich gegeben? Die architektonische Struktur des Langhauses ermöglichte oder erzwang sogar Wandmalerei als wichtigste Form der Innendekoration (Abb. 11-14). Ein breiter Fries, der aus rhythmisch angeordneten Feldern unterhalb des Fensterbereichs besteht, stellt monumentale Heiligenfiguren und narrativ ausgebaute Szenen vor. Dieser Zyklus diente, neben der Vermittlung rein ästhetischer Werte, auch zur Veranschaulichung der Katechese. Einige Szenen fungierten auch als Retabcl. Bei der Untersuchung der heute noch lesbaren ikonographisehen Motive stellen wir 26 Über allere Gemälde aus dem 14. Jh. unter der gegenwärtigen Maldckoration im oberen Chor berichteten schon M. Toeppen und J. Heise. Die 2000/2002 durchgeführten Untersuchungen der Thorner Konservatoren haben diese Behauptungen bestätigt und präzisiert. Vgl. Max TOEPPEN, Geschichte der Stadl Marienwerder und ihrer Kunstbauten Marienwerder 1875, S. 2421'.; Johann HEISE, Die Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Westpreußen, Bd. 3, Pomesanien (Kreis Ma- rienwerder östlich der Weichsel), Danzig 1898, S. 79-82; Jerzy DOMASLOWSKl, Malarslwo scienne na Pomorzu Wschodnim, in: Malarslwo gotyckic w Polsce, Syntcza, Red. Adam S. Labuda, Krystyna Secomska Warszawa 2004, S. 117-142, hier S. 129, Anm. 73; Michal Klain, Kwidzyn - renowaeja malowidel, in: Spolkania z zabytkami, 26, 2002, Nr. 2, S. 33f.; Julius/. Raczkowski, Pöznogolyckie malowidla w görnym chörze katedry kwidzyhskiej, Sludia Zamkowe, 2, Malbork 2006, S. 185-203. Der „Mariencharakter“ des Doms zu Marienwerder 111
keine Dominanz von Themen fest, die mit den Dompatronen verbunden waren. Im Gegenteil. Auffallend ist ihre begrenzte Zahl, auch wenn man eine beträchtliche Simplifizierung der Darstellungen in Folge der im 19. Jahrhundert durchgeführten Konservierung bedenkt.27 An der Ostwand gibt es die Szene der Entschlafung Mariens (Nr. 14) und zwei Darstellungen, die mit dem hl. Johannes verbunden sind, ein Feld mit vier Episoden aus dem Leben des Apostels (Nr. 6) und eine Einzelfigur (Nr. 9). An der Südwand wurde die Szene der Verkündigung an Maria und der Anbetung des Kindes (Nr. 18) untergebracht, eine bemerkenswerte Dar- stellung, die sich auf die Vision der hl. Birgitta, der Mystikerin des 14. Jahrhun- derts, stützt, und deren Ikonographie in Pommern keine Analogie aufweist.28 Abb. 11: Marienwerder, Domkirche, Chor, Wandmalerei, Maria mit Kind, M. Klein, Kwidzyn - renowacja malowidel, Spotkania z zabytkami, 2, 2002, S. 33, siehe Farbtafel 7 27 Der 1586 mit Putz verdeckte Zyklus der Wandgemälde wurde während der Renovierung des Domes 1862 Ireigelcgt. An seiner Rekonstruktion haben Fischbach und Prahl gearbeitet. Einige Übermalungen im Nordschiff wurden in den Jahren 1931-1934 von A. Fahlenberg beseitigt. Vgl. Bcrnard SCHMID. Die Denkmalpflege in Westpreußen 1804-1910, Danzig 1910; Artur DOBRY, Dziewi^tnastowieczne prace restauracyjne w zespole zamkowo-katedralnym w Kwidzynie. Komunikaty Mazursko-Warminskie, 1, 1994, S. 35-42. 28 Jerzy DOMASLOWSK1, Malarslwo scienne, in: Jerzy DOMASLOWSKI/Adam S. LABUDA/Alicja Karlqwska-KamZOWA, Malarslwo golyckie na Pomorzu Wschodnim, Warszawa-Poznan, 1990, S. 10-58, hier S. 34. 112 Liliana Krantz-Domaslowska
Abb. 12: Marienwerder, Dom- kirche, Chor, Hochmeister, und Fragment der Wandmalerei aus dem 14. Jh., M. Klein, S. 34 Abb. 13: Marienwerder, Dom- kirche, Mittelschiff und südliche Außenwand, Kwidzyn, Diecezja elbl^ska A.D. 1999, Bydgoszcz 1999 Der „Mariencliarakter" des Doms zu Marienwerder 113
Sciiiiiii pölnocna od wscliodtr I) Kub/.enie Chrysiusn, 2) iw. Krzysztof i sw. Mikoluj, 3) Puimy Mqdie i (jlnpiu iimiuszczonc w dwöch strcl’ach, 4) swiqty piclgrzym, 5) mczidentyfikowany swn,-ty (Piotr?) z kl^cz.icym fundatorein w niszy, 6) 4 sceny z Icgendy o sw. Janic; w strcl’ie goincj przygolowamc narz»;- dzi m^czenstwa (?) i Obalenie bozköw, w strcf'ic dolnej U/drowicnic mlodzicnca i sw. Jan w olcju, 7) (’lirystus unos/ony przez amoly, X) Ukrzyzowanic z Vulto Santo oraz mskrypcja das crutzc von l.ucu, 9) sw Jan Ewangcdista, 10) sw. J.ikub Slarszy w niszy. II) sw. Anna Sainotrzcc, Vir Dolorum, sw. Malgorzata oraz mskrypcja, 12) .ss. Krzysztof. Mikolaj, Kosina i Damian, 13) mala postac fundatora na tlc wici roslmnej, 14) Zasnitjcie Marii, 15) ss. Barba- ra, Justyna, Helena, 16) Fragment sceny niczidcniyfikowancj. Sciana pohidniowa poczynajqc od piqtcgo okna od wschodu: 17)8 kwater w dwöch strcl’ach, u göry czytclnc jest Ukrzyzowanic, Zlozenie do grobn, Chry- sins w olchlam; w dolnych: Zdjqcic z Krzyza, Zmartwycliwstanie i bye moze Wmcbowstq- picnie hib Zesl.mie Ducha Sw. oraz. ponizej inskrypeja, 18) Zwiastowanic i Adoracja Dzie- ciqtka przez sw. Brygid^ i pielgrzymöw, 19) sw. Maria Magdalena i sw. Kalarzyna. 20) ss. Blazej. Jerzy, Dorota, Urszula. 21) apostolowie, 22) 4 postaci swi^tych. Wschodnia sciana nawy poludmowej- 23) 11 tysnjcy dziewic, 24) ’lrzej kiölowic, 25) sw 1-Jzbieia. Sciana pohidniowa, cz^sc wschodnia: 26) swi^ty 7. ksitjgq, 27) Sqd ostaicczny (sceny 23 i 27 po 1945 roku zostaly zatynkowane). Abb. 14: Marienwerder, Domkirche, Grundriss mit Lokalisierung der Wandmalereien, L. Krantz-Domaslowska, Katedra w Kwidzynie, Torun 1999, S. 88, 89 Das Programm und die Konzeption der Dekoration werden Bischof Johannes Mönch zugeschrieben. Thematische Vielfalt, Wiederholungen und vor allem Da- ten in den Inschriften unter manchen Darstellungen zeugen jedoch davon, dass sie noch 1414 ergänzt wurden, als die Diözese von Bischof Johannes Rymann (1409- 1417) geleitet wurde. Manche Gemälde waren private Stiftungen (Nr. 5, 13, 19). Drei Seitenaltärc, bei denen die genannten Retabel verwendet wurden, entstanden auf Initiative der Bischöfe Johannes Mönch (Nr. 11, 12) und Johannes Rymann (Nr. 17), wovon die in den Inschriften erwähnten Ablässe zeugen.29 30 Es gab mehre- re Orte individueller Andacht und der Festliturgie. Für manche von ihnen gibt es quellenmäßige Belege (z.B. für den Jodokus-Altar von 1363 und den Bartholo- mäus-Akar von 1395).31 Doch weder die verfügbaren historischen Schriftquellen noch überlieferte Objekte lassen die Behauptung zu, dass man in der Wahl der Altarpatrozinien das Maricnpatrozinium bevorzugte. Man kann nur vermuten, dass das liturgische Zentrum, also der Altar vor dem Lettner im östlichen Joch des Mittelschiffes, traditionell zu Ehren der Dompatrone errichtet wurde. Der Innen- 29 J. DOMASLOWSKI (wie Anin. 28), S. 34. Einige Gemälde waren private Stiftungen, was die Figu- ren knieender Beter (Szenen Nr. 5 und 13) und der in der Inschrift genannte Name Katharina (Szene Nr. 19) unter Beweis stellen. 30 L. Krantz-Domaslowska (wie Anm. 21), S. 87-89. 31 M. GLAUERT (wie Anm. 10), S. 91,93. 114 Liliana Krantz-Domaslowska
raum der Kirche wurde demnach in charakteristischer Weise wie folgt gegliedert: Zum einen in den für die Gläubigen unzugänglichen, den Mitgliedern des Kapitels und dem Bischof vorbehaltenen östlichen Gebäudeteil, in dem die Personen Ma- riens und des hl. Johannes u.a. durch Bildprogramme und Altarpatrozinien her- vorgehoben wurden, und zum anderen in das Langhaus, in dem die Kulte polari- siert wurden. Die Präsenz und Bedeutung der Dompatrone wurde dort vor allem durch den Hauptaltar veranschaulicht. Abb. 15: Marienwerder, Vorhalle des südlichen Eingangs zum Dom, A. J. Pawlowski, Kwidzyn. Historia i Architektura, Kwidzyn 1996 Eine besondere Bedeutung ist in diesem Zusammenhang dem Mosaik am Süd- portal des Doms beizumessen (Abb. 15 und 16). Es stellt einen Bischof dar, der den im Kessel mit heißem Öl gemarterten Evangelisten Johannes verehrt. “ Diese Darstellung knüpft durch ihre Ausführung als Mosaik an die monumentale Statue der Jungfrau Maria an der Kapelle der Marienburg an. Das Thema, welches kein Marienmotiv beinhaltete, verwies nicht nur die Bedeutung des zweiten Patrons des Domes und der Pfarrkirche, sondern war auch ein Signum der ganzen Diözese, deren Patron von Anfang an der Apostel und Evangelist war. In der Szene der Verehrung ist aber auch ein Teilmotiv erkennbar. Der in der Inschrift und auf dem Mosaik erwähnte Johannes ist mit dem Stifter des Gemäldes, Bischof Johannes Mönch, identisch. Für ihn und für seine drei Nachfolger namens Johannes war der Heilige auch ein individueller Patron. * 32 Liliana Krantz-DomASLOWSKA, Das Mosaik am Dom in Marienwerder, Umeni, 46, 1998, S. 61- 64. Der „Mariencharakter" des Doms zu Marienwerder 115
Das Mosaik des hl. Johannes des Evangelisten spielte - angesichts der ganzen Galerie der Heiligen an den Wänden der Seitenschiffe - die Rolle eines symboli- schen Bindeglieds. Für die Gläubigen war es ein Zeichen am Eingang in den sa- kralen Raum des Langhauses, und gleichzeitig stellte für sie die Haltung des Bi- schofs ein nachahmenswertes Vorbild dar. Abb. 16: Marienwerder, Domkirche, Mosaik über der Vorhalle, Foto: Ernst Gierlich 2007, siehe Farbtafel 8 Die Abbildung des mehrmals als Stifter genannten Bischofs Johannes Mönch beweist, dass man sich im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts mit der Dekoration und Ausstattung des neuen Doms besonders intensiv beschäftigte. Mitglieder des Kapitels von Pomesanien waren damals hervorragende Gelehrte: Nikolaus von Krakau und Johannes Rymann, die gewiss den Domherren mit Rat und intellek- tuellem Konzept beistanden. Sie nahmen wahrscheinlich auch am Aufbau eines „Förderungsprogramms“ für die Marienwerder Patrone teil. Deshalb kann man in der Ausmalung des östlichen Teils des Doms als einer auf den Deutschen Orden bezogenen Enklave feiner ausgearbeitete Marienmotive erwarten, wie u.a. auch das Beispiel des Doms zu Königsberg zeigt.33 In der Zeit von Bischof Johannes Mönch (1391) kam Dorothea von Montau nach Marienwerder. Die Frage, ob ihre Präsenz im Dom sowie spätere Bemühun- gen um ihre Kanonisierung und der konsequent gepflegte Kult nicht das Interesse 33 Im Chor des Domes zu Königsberg ist in den Jahren 1340-1360 ein Gemäldezyklus entstanden, der durch den theologischen Traktat Speculum humanae salvationis inspiriert wurde. Vgl. J. Domaslowski (wie Anm. 28), S. 16f. 116 Liliana Krantz-Domaslowska
an den Hauptpatronen minderte, muss offen bleiben. War vielleicht das Gegenteil der Fall? Wirkten vielleicht die Visionen der lokalen Mystikerin und ihr persönli- ches Vorbild auf die Aktualisierung marienbezogener Inhalte? Beim heutigen Wissensstand sind dies allerdings rhetorische Fragen (Abb. 17). Abb. 17: Marienwerder, Klause der Dorothea von Montau neben der Krypta, Foto: W. Kowalihski 1979 Der Marienkult, seine Inhalte und Funktionen, wandelten sich infolge politi- scher Veränderungen, und er spiegelte auch die Neigungen und die materiellen Verhältnisse der Verwalter der Diözese wider. Kann man die hier aufgezeigten marienhaften Elemente aus der frühesten Periode, d.h. aus dem 13. und 14. Jahr- hundert, die mit dem Dom, der Stadt und dem Bistum verbunden waren, als spezi- fisch, d.h. für den Deutschen Orden charakteristisch, oder eher als universell be- zeichnen? Die Zugehörigkeit der pomesanischen Kanoniker und Bischöfe zum Deutschen Orden lässt den „Mariencharakter“ von Marienwerder immer als Aus- druck der Ordensideologie erscheinen. Die Aussagekraft der Anlage wird durch die geographische Nähe zu der in dieser Diözese gelegenen Marienburg, wie auch durch visuelle und inhaltliche Elemente verstärkt, welche die Zusammenhänge zwischen beiden Zentren (z.B. die Verbindung vom Kirche und Burg als eine sakral-wehrhaften Anlage, zweigeschossiger Chor, Mosaik) in den Vordergrund stellen. Ein Vergleich von Marienwerder mit den übrigen Domanlagen gibt ein aber differenzierteres Bild. Abgesehen von Frauenburg, welches einen besonderen Status hatte, verfügen die Dome zu Kulmsee und Königsberg, deren Kapitel eben- falls in den Deutschen Orden inkorporiert waren, über ein viel bescheideneres Repertoire an Bezügen zum Marienkult. Die Bestimmung universeller Aspekte des Marienkultes in Marienwerder wäre vielleicht auf Grund breit angelegter vergleichender Forschungen möglich, die auch andere europäische Domanlagen erfassen würden. Der „Mariencharakter" des Doms zu Marienwerder 117
Die Marien-Aussage der Chorausstattung des Doms zu Königsberg/Pr. vor dem Hintergrund der Ideologie des Deutschen Ordens in Preußen1 Juliusz Raczkowski Königsberg, dessen Name die Beteiligung Premysl Ottokars II. am großen Feldzug gegen heidnische Ureinwohner von Samland im Jahr 1255 verewigt, war vom Beginn seiner Existenz an eine Art Brückenkopf des Ordens in seinen Feld- zügen gegen den Osten. Von seiner besonderen ideellen Bedeutung zeugt die Überlieferung bei Peter von Dusburg, wonach das dortige Konventsschloss von „...tugendhaften im Umgang mit Waffen erfahrenen Männern bewohnt wurde, welche die anderen mit der Tugend der Enthaltsamkeit, der Gebete, des nächtli- chen Wachens und des Kniens übertrafen“.2 Die Handfeste für die Altstadt Kö- nigsberg trägt das Datum 1286; zehn Jahre danach erhielt das Kapitel der samlän- dischen Diözese vom Hochmeister Konrad von Feuchtwangen das Baurecht für die Domkirche.3 Die Bauchronologie des Domes beleuchtete anhand der erhaltenen Dokumente noch im 19. Jahrhundert August Gebser.4 Seiner Meinung nach verweisen Briete von 1327, in denen von Schenkungen des samländischen Bischofs Johannes Claris für den Dom berichtet wird, und ebenso der urkundlich belegte Beginn der Geld- sammlung durch ihn darauf, dass eben damals - kurz nach der Gründung des Kneiphofs - der Gedanke gefasst wurde, diesen monumentalen Bau zu errichten. Die Arbeiten liefen bereits im Jahr 1333, wovon der Brief des Bischofs Johannes Claris berichtet, aus dem hervorgeht, dass zu dieser Zeit Fundamente und der Fußboden vorhanden waren. Indem man der Westfront gezielt „formam et dispo- sicionem Culmensis ccclesiae“ verlieh, rangierte der Dom zu Königsberg in der Gruppe preußischer Gotteshäuser, die den Modus realisierten, der zum ersten Mal in Kulm/Chelmno angewandt worden war - mit einer zweitürmigen Fassade, die im Mittelteil eine zum Presbyterium hin offene Empore beherbergt. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass der architektonische Gedanke weniger dem bischöfli- chen Ehrgeiz entsprungen war, als vielmehr bis zum gewissen Grade auf von Hochmeister Luther von Braunschweig erzeugten Druck zurückging. In der Ur- kunde vom 13. September 1333 bestätigt er nämlich die Möglichkeit, den Bau 1 Übersetzung: Jozef Jarosz 2 Peter von DüSBURG/Piotr z Dusburga, Kronika Ziemi Pruskiej (Chronik des Preußenlandes), übersetzt von Slawomir Wyszomirski, Torun 2004, S. 168. 3 Andrzej RADZIMINSKI, Koseiöl w parislwic Zakonu krzyzackiego w Prusach 1243-1525 (Kirche im Staat des Deutschen Ritterordens in Preußen 1243-1525], Malbork 2006, S. 67f. 4 August Rudolph Gebser, Geschichte der Domkirche zu Königsberg und des Bisthums Samland, mit einer ausführlichen Darstellung der Reformation im Herzogthum Preussen, Königsberg 1835, S. 1021'.. Die Marien-Aussage der Chorausstattung des Doms zu Königsberg/Pr. 119
fortzusetzen und zu beenden.5 Wahrscheinlich unternahm Luther 1335 die Reise nach Königsberg wegen der geplanten Einweihung des Domchores. Sie ging je- doch für ihn unglücklich aus. Der Hochmeister verstarb in der Gegend von Stuhm, und der erste in der Kirche abgehaltene Gottesdienst war die Trauermesse nach seinem Ableben. Abb. 1: Königsberg Pr., Chor des Domes - Innenraum vor 1945. Nach: Dethlefsen 1912, Taf. 3 5 Alicja Karlowska-Kamzowa, Uwagi o sposobach prezentacji tresci ideowych w fundacjach artystycznych Lutera z Brunszwiku (Über die Methoden der Präsentation der ideellen Inhalte in den Kunststiftungen Luders von Braunschweig!, in: Michal WOZNIAK (Hg.), Sztuka w kr^gu za- konu krzyzackiego w Prusach (Die Kunst im Kreise des Deutschen Ordens in Preußen und Liv- land], Torun 1995, (Studia Borussico-Baltica Torunensia Historiae Artium, II), S. 193-201. - Über den bleibenden Einfluss der Gebietigcr des Deutschen Ordens auf die Architektur des Domes zu Königsberg, vgl. auch Adam SoCKO, Uklady emporowe w architekturzc paristwa krzyzackiego |Die Emporenanlagen in der Architektur des Ordensstaates], Warszawa 2005, S. 348-349. 120 Juliusz Raczkowski
Abb. 2: Marienburg, Marienkirche im Hochschloss - Innenraum vor 1945. Nach: Schmid 1942 Abb. 3: Königsberg Pr., Chor des Domes - Detail des Innenraumes vor 1945. Nach: Dethlefsen 1912, Tat 4 Der Einsatz Luthers für das Projekt von Königsberg, das zeitgleich mit dem Bau der Schlosskapelle in Marienburg/Malbork verlief, kann eine Begründung für die augenscheinliche - architektonische und programmatische - Ähnlichkeit der Kirchengestaltung in Marienburg und Königsberg gelten (Abb. 1-2). Abgesehen Die Marien-Aussage der Chorausstattung des Doms zu Königsberg/Pr. 121
von den Ähnlichkeiten zur Kulmer Westfassade, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der längliche Raum des Domspresbyteriums zu Königsberg, mit verglasten Wänden und dem Sterngewölbe, allgemein an die Gestaltung des Marienburger Oratoriums anknüpft. Dieser Effekt wird begünstigt durch die Ein- fügung der aus Kunststein6 gegossenen Apostelfiguren7 in den Chor (Abb. 3-4). Diese werden von einem Wandmalereiengürtel begleitet, welcher sich in der unte- ren Zone der Wand befindet, vergleichbar den Arkadcnmalereien in Marienburg.8 Die Apostelfiguren werden in beiden Fällen auf eine ähnliche Art und Weise in den Kirchenraum eingefügt: sie haben verwandte Abmessungen, sind auf figura- len, halboktogonalen Konsolen befestigt, ihre Baldachine wurden nach dem Ma- rienburger Vorbild gestaltet und in das Gewölbesystem eingefügt. Die plastische Wirkung dieser Königsberger Skulpturen in der Relation zum Raum wurde durch das etwas andere, abgeflachte Volumen gemindert. Gleichwohl dürfte ihre opti- sche Rolle als Elemente, die den Raum rhythmisch gliedern, vor der Ausstattung des Chors mit neuzeitlichen Epitaphen viel lesbarer gewesen sein, und eine ähnli- che Wirkung entfaltet haben, wie sie in der Marienburger Kapelle erreicht wurde. 6 Schon Bernhard Schmid verwies auf die Verwandtschalt der Marienburger und der Königsberger Figuren (Bernhard SCHMID, Baukunst und bildende Kunst der Ordenszeit, in: Deutsche Staatenbil- dung und deutsche Kultur im Preußenlande. Königsberg 1931, S. 116-150, hier S. 143. - Der sti- listische Zusammenhang wurde noch stärker von Tadeusz Jurkowlaniec hervorgehoben. Seines Erachtens wurde der Königsberger Zyklus von Steinmetzen aus Marienburg schon nach der Been- digung der Schlosskirche, in den Jahren 1344-1351, ausgeführt (Tadeusz JURKOWLANIEC, Gotyc- ka rzezba architcktoniczna w Prusach [Die gotische architektonische Skulptur in Preußen]. Wroclaw/Warszawa/Kraköw/Gdahsk/Lödz 1989, S. 87 und 164-165). - Janusz Trupinda vermute- te die ikonographische Abhängigkeit der Königsberger Apostelreihc vom Marienburger Vorbild. Er datierte aber die Figuren erst auf die Jahre 1350-1375 (Janusz TRUPINDA, Skrzydlo pölnoene Zamku Wysokiego - dziejc, ksztah architektoniczny i wyposazenie w swietle zrodel pisanych [Nordflügel des Hochschlosses - Geschichte, architektonische Gestalt und Ausstattung im Lichte der schriftlichen Quellen], in: Maria Poksinska (Hg.): Zamck Wysoki w Malborku. Interdyscypli- narnc badania skrzydla pölnoenego [Das Hochschloss zu Marienburg. Interdisziplinäre Untersu- chungen des nördlichen Flügels]. Malbork/Toruh/Lodz 2006, S. 13-47, hier S. 29). 7 Die Figuren wurden während des Zweiten Weltkrieges vernichtet. - Karl Heinz CLASEN, Die mittelalterliche Bildhauerkunst im Deutschordensland Preußen. Die Bildwerke bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts, Berlin 1939, S. 281, Anm. 53, hat zehn erhaltene Aposteldarstellungen und zwei in der Neuzeit versetzte Heiligenfiguren angeführt (Johannes der Täufer und ein heiliger Bischof- wahrscheinlich Nikolaus oder Adalbert). Er hat aber die Madonnenfigur verschwiegen, die zwar archivalisch dokumentiert ist und erwähnt wurde von Ernst August HAGEN, Beschreibung der Domkirche zu Königsberg und der in ihr enthaltenen Kunstwerke, mit einer Einleitung über die Kunst des deutschen Ordens in Preußen: vornähmlich über den ältesten Kirchenbau im Samlande, Königsberg 1833, S. 72, Richard DETHLEFSEN, Die Domkirchc in Königsberg i.Pr. nach ihrer jüngsten Wiederherstellung, Berlin 1912, S. 12 und von Anton ULBRICH, Kunstgeschichte Ost- preußens von der Ordenszeit bis zur Gegenwart von ..., Königsberg 1932, S. 46. - Man hat auch in dem Zyklus den hl. Stephan (HAGEN 1833, wie oben, S. 72; DETHLEFSEN 1912, wie oben, S. 12), die hl. Margarethe auf der Drachenkonsole (HAGEN 1833, wie oben, S. 72 - sicher eine fal- sche Interpretation der Figur des hl. Johannes des Evangelisten) identifiziert. Adolf BOETTICHER, Die Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Ostpreußen, H. 7: Königsberg. Königsberg 1897, S. 309, hat „zahlreiche heilige Jungfrauen und Bischöfe” erwähnt. 8 Die Wandmalereien wurden während der Renovierungsarbeiten im Dom 1908 entdeckt und in einem Aquarellenzyklus von Olbers dokumentiert, der bei DETHLEFSEN (wie Anm. 7) und Walter Seydel, Mittelalterliche Wandmalereien im Chor des Domes zu Königsberg Pr. Königsberg 1930, publiziert wurde. 122 Julius?. Raczkowski
Abb. 4: Königsberg Pr., Chor des Domes - Apostel. Nach: Clasen 1939, Abb. 37f. Das gesamte Programm, das wir leider nur aus Fotos kennen, die vor dem Zweiten Weltkrieg angefertigt wurden, ist semantisch überaus interessant, obwohl es wegen des niedrigen werkstattmäßigen Niveaus und der schlechten Dokumen- tierung von den Forschern eher als Randerscheinung betrachtet wird.9 Unterdessen 9 In den alten Führern und in der Invcntarlitcratur werden die Figuren vorwiegend nur kurz erwähnt: HAGEN 1833 (wie Anm. 6), S. 72; Wilhelm LOTZ, Kunst-Topographie Deutschlands. Ein Haus- und Reise-Handbuch für Künstler, Gelehrte und Freunde unserer allen Kunst. Statistik der deut- schen Kunst des Mittelalters und des 16. Jahrhunderts. Bd. 1: Nordostdeutschland. Cassel 1862, S. 359; BOETTICHER 1897 (wie Anm. 7), S. 309; DETHLEFSEN 1912 (wie Anm. 7), S. 12; Christian KROLMANN, Geistiges Leben in Königsberg während des 14. Jhs., in: Königsberger Beiträge. Festgabe zur vierhundertjährigen Jubelfeier des Staats- und Universitätsbibliothek zu Königsberg Pr. Königsberg 1929, S. 243-271, hier S. 248; Alfred ROHDE, Königsberg in Preußen, Leipzig 1929, S. 14-15; später: Carl von LORCK, Dome, Kirchen und Klöster in Ost- und Westpreußen, Frankfurt/Main 1963, S. 142; Herbert Meinhard MÜHLPFORDT, Königsberger Skulpturen und ihre Meister 1255-1945, Würzburg 1970, S. 203; Robert ALBINUS, Lexikon der Stadt Königsberg Pr. und Umgebung, Leer 1985, S. 66. - In den kunsthistorischen Arbeiten wurde der Zyklus als ein stilistisch schwächeres Glied in der Kunststeinskulptur des 14. Jhs., als Beispiel für die letzte Ent- wicklungsphase der monumentalen Plastik im Region, betrachtet: Bernhard SCHMID, Die bildende Kunst in Preußen zur Zeit des Deutschen Ritterordens, in: Die Provinz Westpreußen in Wort und Bild, 2. Teil - Einzeldarstellungen. 2. Aufl. Danzig 1915, S. 449-459, hier S. 443; Hermann EHRENBERG, Deutsche Malerei und Plastik von 1350 - 1450. Neue Beiträge zu ihrer Kenntnis aus dem ehemaligen Deutschordensgebiet, Bonn 1920, S. 36; SCHMID 1931 (wie Anm. 6), S. 143; An- ton ULBRICH, Kunstgeschichte Ostpreußens von der Ordenszeit bis zur Gegenwart von ..., Königsberg 1932, S. 46; CLASEN 1939 (wie Anm. 7), S. 52-53; Hans-Georg Tautorat, Schwar- zes Kreuz auf weißem Mantel: die Kulturleistung des Deutschen Ordens in Preußen. Düsseldorf 1977, S. 121. - Mit Ausnahme der kurzen Anmerkungen von JURKOWLANIEC 1989 (wie Anm. 6,) S. 45 (Zusammenhang des Programms und des Dompatroziniums) und TRUPINDA 2006 (wie Anm. 6), S. 29 (nicht zufällige ideologische Abhängigkeit von der Marienburger Vorbild), wurde dem Programm der Königsberger Skulpturenreihc keine ideologische Interpretation beigegeben. Die Marien-Aussage der Chorausstattung des Doms zu Königsberg/Pr. 123
ist aber das Domdekor eher als Teil eines größeren, künstlerischen Programms und nicht als ein Einzelwerk zu analysieren. Dies war nämlich eines der sechs bekannten Beispiele eines monumentalen Ensembles des Collegium Apostolorum in der Kunst des Ordensstaates. Neben dem erwähnten Dekor der Schlosskirche in Marienburg wurde es von den Zyklen in der Ordenskapelle in Strasburg/Brodnica und in den Pfarrkirchen in Strasburg, Kulm/ Chelmno und Elbing/Elblqg vertre- ten.10 Nicht ohne Bedeutung für die eigentliche Beurteilung des Königsberger Chorkomplexes ist auch die Tatsache, dass er für die rangmäßig zweithöchste Kirche in Preußen geschaffen wurde, worauf bereits Janusz Trupinda verwiesen hat.11 12 Die preußischen Apostelkollegien bilden keine material-, form-, und chronolo- gisch einheitliche Gruppe. Jedes von ihnen war in einen anderen liturgischen Raum eingebettet, jedes bekam eine individuelle, inhaltliche Dimension und eine andere plastische Einfassung. Wir haben es dabei mit Skulpturen aus Kunststein und Holz zu tun. Es gibt schließlich Figurenkomplexe mit einer anderen Bestim- mung. Ungeachtet aller Unterschiede bilden sie jedoch ein künstlerisches Phäno- men, das zum größten Teil in derselben Zeit begründet ist. Sie vertreten einen ungewöhnlichen Transfer der westeuropäischen Idee des Domdekors in das Gebiet Preußens und wurden fast wie ein Regionalprogramm realisiert. Es scheint, dass der Marienburger Zyklus der erste unter den Apostelkollegien war. “ Wie bekannt, war eben die Schlosskirche in der Hauptresidenz des Deut- schen Ordens im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts die prestigeprächtigste architektonische Umsetzung in diesen Gebieten, und die Arbeiten an ihrem Dekor waren das größte bildhauerische Vorhaben im Ordensstaat vom Anfang seines Bestehens. Das hier realisierte Kapellenmodell knüpfte wohl an die Pariser Sainte- Chapelle an, und zwar sowohl in Bezug auf die architektonische Gestalt als auch auf die Innenraumausstattung, worauf Szcz^sny Skibinski verwiesen hat.13 Die Gründe dafür, dass nach solch einer ehrgeizigen Vorlage gegriffen wurde, waren sehr komplex. In den Vordergrund rückte wohl die Parallelität ihrer Funktion als Reliquien- und Staatskirche zugleich. In ihrem bildlichen Programm kumulierten alle ideellen Motive, denen sich die Propaganda der Macht im Ordensstaat in dieser Zeit bediente. Der Marienburger Apostel- und Heiligenzyklus auf Konsolen war im gewissen Sinne eine universale Evokation des himmlischen Jerusalems und der Triumph der Kirche, worauf die Präsenz der Figuren der Ecclesia und 10 Das Phänomen der preußischen Apostelkollcgien war bereits Gegenstand einer Monographie, die vom Verfasser als Dissertation unternommen wurde, und die in den Jahren 2002-2006 unter der Leitung Frau Prof. Kinga Szczepkowska-Naliwajek und Professor Jozef Poklewski entstand: Ju- liusz Raczkowski, Monumentalne zespofy rzezbiarskie kolegium apostolskiego na terenie daw- nego paristwa zakonnego w Prusach [Monumentale Skulpturenreihen des Apostelkollegiums im Gebiet des Dcutschordenslands Preußen]. Diss. Torun 2007 (unpubliziert, masch.: Hauptbibliothek der Universität Thorn). 11 Trupinda 2006 (wie Anm. 6), S. 29. 12 Der Zyklus der Apostelfiguren in Marienburg leitete meiner Auffassung nach diesen Typus im Deutschordensland ein, dagegen wird in der Fachliteratur der Zyklus des Apostelkollegiums der Marienpfarrei in Kulm allgemein als erster anerkannt. 13 Szcz^sny SKIBINSKI, Kaplica na Zamku Wysokim w Malborku [Die Kapelle im Hochschloss zu Marienburg], Poznan 1982 (UAM Poznan, Seria Historia Sztuki nr 14), S. 46-63 und S. 88-102. 124 Juliusz Raczkowski
Synagoge auf besondere Art und Weise verweisen dürfte.14 Er vermittelt den Geist der Ordensideologie - das Programm stellt eine allegorische Vision des Ordens dar, d.h. seiner Struktur, seiner Rolle und seines Privilegs in Preußen. In den Or- densstatuten, der grundlegenden Konstitution seiner Identität15, findet sich eine Bestimmung in Bezug auf die Anzahl der Brüder im Konvent: zwölf sollten es sein, nebst dem Komtur, als Erinnerung an Christus mit den zwölf Aposteln („ut scilicet XII fratres et tercius decimus preceptor eorum ibidem morentur secundum numerum discipulorum Christi“).16 Die Vorstellung einer architektonischen Struk- tur der Ordensidee entfaltete in Anlehnung an die ältere Tradition auch Peter von Dusburg: „... die Ordensbrüder [...] lehnen sich an wie Wände eines echten Hau- ses, die von Pfeilern gestützt werden, so dass der Hochmeister und Kapitel das Fundament des Hauses sind, Komturen alias Präzeptoren sind Pfeiler, und die übrigen Brüder - das Dach“.17 Die Apostel, die unter der Führung Christi mit ihren Füßen Civitas diaboli zertreten, sind eine Vision des idealen Ordenskon- vents, der in Begleitung der besonders verehrten Ordensheiligen, Barbara und Katharina, dargestellt wird; eine Vision, welche durch Schlusssteine symbolisch mit der Darstellung der Hauptpatronin und Souveränin und mit dem Wappenschild des Ordens verknüpft wird. Als - meines Erachtens - die erste Realisation dieses Typs auf diesen Gebieten, verkündete das Apostelkollegium in Marienburg eine damals junge aber tiefgreifende und tragfähige Idee: des Ordens als Stütze der in Preußen geschaffenen Civitas Dei. Nach Meinung Janusz Trupindas kann das Programm geradezu als visuelle Transposition der Chronik des Peter von Dusburg gelesen werden.18 Diese besondere ideologische Konzeption war ein Ergebnis konkreter histori- scher Bedingungen - sie erwuchs vor dem Hintergrund der Ordensreform, die in den Jahren 1320 bis 1330 unternommen wurde. Die Legitimierung der Ordens- macht in Preußen war bis jetzt das Kreuzfahrerethos der milites Christi gewesen, der bewaffnete Kampf gegen die Heiden, die Christus beleidigt haben, und die 14 Die Interpretation des gesamten Programms im Geiste der Idee einer Ecclesia universalis schlug vor: Skibinski 1982 (wie Anm. 13), S. 158-174. Es verwies auf die von allen Zyklen übernomme- ne Interpretation des Apostelensembles als Pfeiler der Kirche und bemerkte, dass die mit dem Ge- wölbensystem verbundenen Skulpturen sich auch bedeutungsmäßig mit dem Gewölbe verknüpfen, dessen Hauptschlussstein Maria als Thron der Weisheit darstellt, und somit die Symbolik des himmlischen Jerusalem evoziert. Vor diesem Hintergrund ist das architektonische System eine Metapher der geistigen Kirche, in der die Apostel Pfeiler sind und Johannes der Täufer der Bau- meister. Die von Skibinski angenommene Auslegung der Anwesenheit der hl. Katharina verbindet sich mit dem ekklesiologischen Motiv der Vermählung mit Christus, andererseits kann sie als Al- legorie der vita contemplativa gelten. Die zweite, nicht erkannte Heilige, die durch ein Buch cha- rakterisiert wird, ist nach Meinung Skibinskis die hl. Margaretha, die das Ideal der vita activa ver- tritt. Die ideelle Bedeutung wird von der Konsolenzone ergänzt, in der man im Geiste der Lehre des hl. Augustinus das Bild der Civitas diaboli (Civitas terrena) erkennen kann, das Bild von Ba- bylon, gcgcnübergc.stellt der hieratischen Allegorie des Gottesstaates, der von den Personen der Apostel und Heiligen verkörpert wird. 15 Gabriela WEICHERT, Die Spiritualität des Deutschen Ordens in seiner mittelalterlichen Regel, in: Zenon-Hubert Nowak (Hg.), Die Spiritualität der Ritterorden im Mittelalter, Torun 1993, S. 131- 146 (dort auch weitere Literatur zum Problem). 16 Max PERLBACH, Die Statuten des Deutschen Ordens nach den ältesten Handschriften, Halle 1890, S. 41,Ziff. 13. 17 Peter von Dusburg (wie Anm. 1), S. 8. 18 Trupinda 2006 (wie Anm. 6), S. 23-24. Die Marien-Aussage der Choraussfattung des Doms zu Königsherg/Pr. 125
dabei vom Orden erlittenen blutigen Opfer.19 Bereits das 13. Jahrhundert brachte jedoch der mittelalterlichen Kultur den langsamen Prozess des Sich-Übcrlebens der Kreuzfahrtidee20, der mit dem Fall Akkons besiegelt wurde. Ihr europäisches Symptom mit einer geradezu symbolischen Bedeutung wurde kurz danach die gewaltsame Auflösung des Templerordens. In Preußen überlagerte sich diese allgemeine Krise mit der Beendigung der Eroberung und Christianisierung von heidnischen Gebieten. Die Idee des heiligen Krieges verlor hier an Aktualität. Wie Stefan Kwiatkowski feststellte, kam unter den Rittern des Deutschen Ordens das Gefühl der verlorenen Sendung auf. Ihre Mission in Preußen bedurfte einer neuen ideologischen Untermauerung und einer charismatischen Wurzel - einer Revisi- on/1 22 Die Erneuerung der Ideologie der Ordensherrschaft auf den eroberten Gebie- ten vollzog sich nach dem Diktat der Großmeister-Reformatoren Werner von Orscln, Luther von Braunschweig und Dietrich von Altenburg, und bewegte sich in drei Richtungen. Wie aus den Forschungen Marian Kutzners~, Stefan Kwiat- kowskis23, Marian Dygos24 oder Janusz Trupindas25 hervorgeht, war ihr wichtigs- tes Motiv die Organisation eines Idealstaates, der die eroberten Gebiete stabilisier- te. Dieser Idee diente die Entfaltung der Verehrung Mariens als der Souveränin des Ordens, welcher die Ordensgebietiger geradezu den Charakter einer Juristi- schen Person“ verliehen.26 Das letzte Glied der Reform war dagegen der Versuch, die Vision des Ordens als des bewaffneten Armes der kämpfenden Kirche zu stär- ken. Ihr direktes Erscheinungsbild waren die zunächst vereinzelt vom Ende des 13. Jahrhunderts und dann seit den 40er Jahren des 14. Jahrhunderts regelmäßig aufge- nommenen Reisen gegen Litauen, die dem Orden die erneute Vereinigung der euro- päischen Ritterschaft unter dem „Banner der Nordkreuzzüge“ ermöglichten.27 19 Marian Kutzner, Propaganda wladzy w sztucc Zakonu Nicmieckiego w Prusach (Die Machtpro- paganda in der Kunst des Deutschen Ordens in Preussen], in: Michal WOZNIAK (Hg.). Sztuka w ki\‘gu zakonu krzyzackiego w Prusach [Die Kunst im Kreise des Deutschen Ordens in Preußen und Livland], Torun 1995, S. 17-66 (Studia Borussico-Baltica Torunensia Historiae Artium, II), hier S. 22-25. 20 Von der Krise der Kreuzzugidee, Kritik der Kreuzzüge und deren Verwandlungen: Georges MlNOis, Kosciöl i wojna. Od czasöw Biblii do ery atomowej (Die Kirche und der Krieg. Von den Zeiten der Bibel bis zum Atomzeitalter], Warszawa 1998, S.*160-164. 21 Stefan Kwiatkowski, Zakon Niemiecki w Prusach a umyslowosc sredniowieczna. Scholastyczne rozumienie prawa natury a etyczna i religijna swiadomosc Krzyzaköw do ok. 1420 r. [Der Deutsche Orden in Preußen und das mittelalterliche Geistesleben. Das scholastische Naturver- ständnis und das ethische und religiöse Bewusstsein der Ordensbrüder], Torun 1998, S. 139. 22 KUTZNER 1995 (wie Anm. 19), S. 26-29. 23 Kwiatkowski 1995 (wie Anm. 20), S. 137-148. 24 Marian Dygo, Mnich i rycerz. Ideologiczne modele postaw w zakonie krzyzackim w Prusach w XIV i XV w. [Mönch und Ritter. Ideologische Modelle des Auftetens des Deutschen Ordens in Preußen in 14. und 15. Jh.], in: Zapiski Historyczne 55/4 (1990), S. 443-455, hier S. 331-336. 25 Trupinda 2006 (wie Anm. 6), S. 28. 26 Marian Dygo, O kulcie maryjnym w Prusach Krzyzackich w XIV-XV wieku (Über den Marien- kult in Ordenspreußen in 14. und 15 Jh.|, in: Zapiski Historyczne 52/2 (1987), S. 5-36, hier S. 12. 27 Die Intensivierung der Aktion gegen Litauen und Somogitien erfolgte seit den 30er Jahren des 14. Jhs., als man eine Reihe von Stützpunkten an der Memel zu bauen begann. Die weitere Entfaltung der Expansion erfolgte erst nach dem Brieden von Kalisch/Kalisz von 1343 - seit dieser Zeit ist ei- ne Reihe von mehrjährigen Feldzügen bekannt, die vom Orden in Form von internationalen Expe- ditionen unternommen wurden, und die die Ritterschaft aus ganz Europa einbezog. (Marian BlSKUp/Gerard Labuda, Dzieje Zakonu Krzyzackiego w Prusach. Gospodarka - Spoleczehslwo - Panstwo - Ideologia [Die Geschichte des Deutschen Ordens in Preußen. Wirtschaft - Staat - Ideo- logie], Gdansk 1980, S. 357. - Die Teilnahme des fremden Rittertums an gelegentlichen Einfällen 126 Juliusz. Raczkowski
Wie es scheint, verknüpfte sich das dem Marienburger Prototyp folgende Programm des Königsberger Domes auch mit Motiven der erneuerten Ordensideo- logie. Für unsere Ausführungen ist die Tatsache relevant, dass nicht die Marien- burg oder eine der großen Städte die Gäste des Ordens aufnahm, sondern eben Königsberg, das zum Hauptausfallpunkt der Reisen geworden war. Hier versam- melten sich die Ritter viele Tage vor dem Feldzug, hier ruhten sie sich nach des- sen Beendigung vor der Heimreise aus. Dank diesem Umstand wurde dieser Brü- ckenkopf an der Grenze, ein Sitz der Ordenskomturei mit einer strengen asketi- schen Regel, zur östlichen Hauptstadt der Ritterkultur.28 Es verwundert deswegen auch nicht die vollständige Verwandlung der Idee der Kreuzzüge, die sich in der geistigen Verfassung der Menschen im 14. Jahrhundert vollzog. Die Teilnahme an den Reisen nach Litauen wurde damals als ein Element des höfisch-adligen Le- bensstils betrachtet, das den Eintritt in die elitäre Gruppe der europäischen Ritter- schaft möglich machte.29 Davon zeugen zahlreiche Schenkungen, die für den Kö- nigsberger Dom gemacht wurden, und künstlerische Stiftungen, die nicht so sehr den Charakter von Votivgaben nach der glücklichen Rückkehr hatten, als vielmehr von aristokratischen Andenken, die von den Kreuzfahrern ihren Nachfolger hinter- lassen wurden. Dazu gehörten ungewöhnliche Ausstattungselemente im Laienteil des Domes, wie die an den Wänden hängenden Wappenschilder oder die heraldi- schen Friese im Schiffskörper, deren einzelne Teile von Teilnehmern der nachfol- genden Feldzügen gestiftet wurden. Dieses besondere Monument wuchs im Zuge des 14. Jahrhunderts zu einer großen, kommemorativen Wappensammlung in einer einzigartigen „Ruhmeshalle des europäischen Adels“.30 Bei der Betrachtung der Semantik der reichen Domausstattung soll die Rolle der Stadt Königsberg beachtet werden, als eines lebendigen europäischen Zent- rums, das Scharen von Kreuzfahrern aufnahm, und ebenso die ungewöhnliche Funktion, welche der Dombau im Laufe der Jahre erhalten hat. Bereits das Patro- zinium des Doms selbst kann vor diesem Hintergrund besondere Konnotationen bieten. Das Patrozinium, das die Jungfrau Maria sowie den hl. Adalbert und die hl. Elisabeth als Mitpatrone umfasste, ist für den gesamten Ordensstaates ungewöhn- nach Litauen begann seit den Jahren um 1320 zu wachsen, um sich nach Mitte des 14. Jhs. in eine gesamteuropäische Bewegung zu verwandeln, welche ritterliche Ankömmlinge aus England und Niederlanden, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Böhmen, und sogar Polen umfasste. Vgl. Werner PARAVICINI, Die Preußenreisen des europäischen Adels, TL 1. Sigmaringen 1988 (Beihelte der Francia, hg. von Deutschen Historischen Institut Paris, Bd. 17/1), S. 272-344. 28 Werner Paravicini führt zahlreiche Beispiele der höfischen Pracht an, welcher den Aufenthalt der fremden Ritter in Königsberg begleitete: zeremonielle Festmahle mit Minnesängern, Turnieren, Jagden, etc. PARAVICINI (wie Anm. 27) 1988. 29 Uber Analogien zwischen Preußenreisen und Compostela-Wallfahrten im Spätmittelalter: Detlev Kraak, Pielgrzymki i podröze z Zachodu na Wschöd i ze Wschodu na Zachöd. Ruch podrözniczy szlachty w pöznyin sredniowieczu z perpesktywy historii zwiqzköw i oddzialywah |Die Wallfahrten und Reisen von West nach Ost und von Ost nach West. Die Reisen des Adels im Spätmilteialler aus der Perspektive der Geschichte von Zusammenhängen und Einflüssen), in: Ryszard Knapinski (Hg.), Kuh sw Jakuba Wi^kszego Aposloia w Europie Srodkowo-Wschodniej (Die Verehrung des hl. Jakob in Mittel- und Osteuropa!, Lublin 2002, S. 131-145 (Towarzystwo Naukowe KUL, Zrödla i monografie 241), S. 132-145 und Henryk SAMSONOWICZ, Kult sw. Jakuba i szlaki Jakubowe w Polsce (JakobsVerehrung und Jakobswege in Polen], in: Knapinski (wie oben), S. 125-129. 30 Paravicini 1988 (wie Anm. 27), S. 340-342. Die Marien-Aussage der Chorausstattung des Doms zu Königsberg/Pr. 127
lieh.31 Das Patrozinium des hl. Adalbert verknüpfte sich in diesem Falle wohl mit seinem Patronat über die gesamte samländische Diözese und mit der lokalen Tra- dition, die seinen Märtyrertod auf samländischem Gebiet sehen wollte.32 Das Pat- rozinium der hl. Elisabeth von Thüringen verweist dagegen deutlich darauf, dass es hier zu einer einmaligen Manifestation seitens des Ordens gekommen war. Obwohl nämlich die Ordensritter den Kult dieser Heiligen als einer ihrer Patro- ninnen förderten, machte sich diese Wertschätzung in den Patrozinien der anderen preußischen Kirchen nicht bemerkbar.33 Im Falle von Königsberg könnte dieser Akt zwar als eine besondere Widerspiegelung des Patronatsrechts des Ordens über dem Dom gelten, denn sie findet keine Analogie in anderen preußischen Domkir- chen. Jedoch unter Berücksichtigung des manchmal unterstellten Aristokratismus des Elisabeth-Kultus in Ordensreihen34 kann die Hypothese versucht werden, dass diese Manifestation weder für das Kapitel noch für das Volk gedacht war, sondern für die nach Preußen strömende Ritterschaft. Ein ähnlicher interpretatorischer Kontext könnte die ideellen Inhalte des Pres- byteriumdekors erklären. Aus der von Dethlefsen35 angefertigten Beschreibung geht hervor, dass das Königsberger Kollegium in ikonographischer Hinsicht ähn- lich wie der Figurenzyklus in Marienburg aufgebaut war. Wichtig für unsere Aus- führungen ist aber die Tatsache, dass darin etwas andere Motive hervorgehoben wurden.36 Die Schlosskirche in Marienburg hatte nie den Charakter einer capella publica gehabt. Hier fanden die täglichen Gebete des Konvents und andere liturgi- sche Zeremonien statt37 - daher auch die These, dass die Inhalte des Marienburger Skulpturenzyklus eher eine Art Ausdruck der ordenseigenen Identität darstellen. Wenn sie hier als Propagandawerkzeug funktionierten, dann in Form einer inneren Propaganda, dies sich an die Mitbrüder richtete, welche aus besonderen Anlässen des Ordcnslebens hierher kamen, etwa anlässlich der Wahl des Hochmeisters oder 31 Waldemar ROZYNKOWSKI, Pow.stanie i rozwöj sieci parafialnej w diecezji chelmihskiej w czasach panowania zakonu krzyzackiego [Die Entstehung und Entwicklung des Pfarrkirchennetzes in der Diözese Kulm zur Zeit des Deutschen OrdensJ. Torun 2000 (Roczniki TNT 89/2), S. 87. 32 GEBSER 1835 (wie Anm. 4), S. 61; Erike TlDICK, Beiträge zur Geschichte der Kirchen-Patrozinien im Deutschordenslande Preußen bis 1525, in: Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde Er- mlands 22 (1926), S. 343-464, hier S. 424, ROZYNKOWSKI 2000 (wie Anm. 31), S. 87-88. 33 Udo ARNOLD, Elisabeth und Georg als Pfarrpatrone im Deutschordensland Preußen. Zum Selbst- verständnis des Deutschen Ordens, in: Udo ARNOLD (Hg.), Elisabeth, der Deutsche Orden und ih- re Kirche (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens 18), Marburg 1983, S. 163- 185, hier S. 182. 34 ARNOLD 1983 (wie Anm. 32), S. 178 und 181. 35 DETHLEFSEN 1912 (wie Anm. 7), S. 12. 36 /Ähnlich wie die Pariser Sainte-Chapelle hatte auch die Kirche der Hochmeisterresidenz in Preußen eine Modellwirkung. Die Apostelkollegien wurden in eine Reihe von anderen Anlagen auf diesen Gebieten eingelührt, was im Falle der vier ältesten Umsetzungen aus einem kohärenten, vorbe- stimmten Programm resultierte. Die vergleichende Analyse dieser Zyklen ergibt jedoch, dass man jedes Mal die semantische Botschaft im Geiste der lokalen Bedürfnisse verändert hat. 37 Michal WOZNIAK, Przcstrzeh liturgiczna i wyposazenie kosciola Najswi^tszej Marii Panny na zainku w Malborku - nowc ustalenia [Liturgischer Raum und Ausstattung der Marienkirche im Schloss zu Marienburg - neue Bestimmungen), in: Maria POKS1NSKA (Hg.), Zamek Wysoki w Malborku. Interdyscyplinarne badania skrzydla polnocnego [Das Hochschloss zu Marienburg. Interdisziplinäre Untersuchungen des nördlichen Hügels). Malbork/Toruh/Lodz 2006, S. 77-95, hier S. 91 und 93. 128 Juliusz Raczkowski
des Generalkapitels.38 Währenddessen erfüllte der Königsberger Domchor eine völlig andere Funktion. Bis zur endgültigen Fertigstellung des Kirchenschiffs39, das im Laufe der Zeit zum Ort der schon erwähnten Laienostentation werden sollte, nahmen die nach Königsberg kommenden Kreuzfahrer wohl an der Liturgie teil, die im weitläufigen Raum des Chors vollzogen wurde. Die ideenmäßige Wir- kung des Dekors war ihnen also direkt zugänglich.40 Es scheint, dass dem Bildprogramm, das auf einen anderen Boden als die Ma- rienburg verpflanzt wurde, in Königsberg bewusst ein neuer Bedeutungskontext verliehen wurde. Die parallele Gestaltung der beiden liturgischen Innenräume sollte die Territorialmacht des Ordens in seinem am weitesten gegen den Norden hervorgeschobenen Stützpunkt manifestieren. Als Paradigma eines solchen ideellen Zusammenhangs zwischen dem ordensstaatlichen Oratorium und dem Dom kann die Ausstattung des Domchors von Saint-Nazaire in Carcassonne gelten, die sich an die Pariser Sainte-Chapelle anlehnte. Sie bildet ein Beispiel für die Manifestation der königlichen Territori al macht auf dem Gebiet von Languedoc, das nach einem aufreibenden Krieg, der in Augen der Zeitgenossen als Kreuzzug galt, von Frank- reich erobert wurde.41 Neben der Machtpropaganda war Aufgabe des Königsberger Dekors wohl auch die langfristige Förderung der Kreuzfahrten gegen Litauen. Daher rückten bei dem hier realisierten Dekor Motive der Evangelisierung und Christiani- sierung in den Vordergrund, die in anderen Teilen des Ordensstaates einfach keinen Sinn mehr hatten. Sie wurden durch die Hinzufügung auch der Darstellungen des hl. Johannes des Täufers als des ersten Spenders des Taufsakraments und des hl. Bi- schofs, wahrscheinlich Adalberts als des ersten Märtyrermissionais in Preußen (Abb. 5), zum Apostelkollegium unterstrichen. Vor allem jedoch beruhte in Königs- berg der Unterschied zur Marienburger Kirche auf der Ablösung der Christusfigur, die in Marienburg das Zentrum der christologischen Erzählung von der Civitas Dei bildete, durch die Gestalt der Muttergottes (Abb. 6). Der programmatische Akzent wurde also von der bildlichen Darstellung der göttlichen Ordnung in Richtung des ekklesiologischen Gedankens hin verschoben, dessen ideelle Achse die Patronin des Ordens wurde: als Neue Eva und Personifikation der Kirche. 38 Marian ARZYNSKI, O zamku malborskim i zamkach krzyzackich w Prusach z okazji ksiq.£ki Szcz^sncgo Skibihskiego „Kaplica na Zamku Wysokim w Malborku” |Über das Schloss zu Ma- rienburg und die Ordensschlösser in Preußen anläßlich Buches von Szcz^sny Skibinski „Die Kapelle im Hochschloss zu Marienburg“!, in: Biuletyn Historii Sztuki 45 (1983), S. 387-397, hier S. 396. 39 Einweihung 1351, Umbau am Ende des 14. Jhs. 40 Auf die Zugänglichkeit des Chors für Laien bis zum Bauschluss des Kirchenkörpers verweist Jerzy DOMASLOWSKI, Pomorze Wschodnie (Ostpommern), in: Alicja Karlowska-Kamzowa (Hg.), Gotyckie malarstwo scienne w Polsce [Gotische Wandmalerei in Polen]. Poznan 1984, S. 121-162 (Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu, seria Historia sztuki 17), hier S. 138. 41 Dieser architektonisch in der puristischen Landschaft des gotischen Languedoc fremde Bau, wurde als Symbol der königlichen Oberhoheit über ein Land errichtet, das im 13. Jh. der französischen Krone eingefügt wurde. Das Chordekor von Saint-Nazaire ist das historisch früheste Beispiel einer Rezeption des Dekors der Sainte-Chapelle, nicht als Reliquienoratorium, sondern im Rahmen ei- ner Domkirche. Einhergehend mit der Veränderung der Funktion (der Raum des Domchores er- setzte den Raum der Reliquienkapelle), wurde der figurale Komplex von Carcassonne beträchtlich erweitert. Die Apostclgruppc selbst spiegelt die Idee des Apostelcredo wider. In den Zyklus wur- den auch u.a. die Darstellungen Christus als Salvator Mundi, die Madonna mit dem Kind und die Darstellungen von fünf Heiligen, darunter lokale Heilige wie z.B. die Patronin des Domes, einge- fügt. - Vgl. Barbara Mundt, Der Statuenzyklus von Carcassonne, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 27 (1965), S. 31-54. Die Marien-Aussage der Chorausstattung des Doms zu Königsberg/Pr. 129
Abb. 5: Königsberg Pr., Chor des Domes, Figur Johannes des Täufers und hl. Adalbert. Nach: Clasen 1939, Abb. 41 f. Abb. 6: Königsberg Pr., Chor des Domes, Figur Mariens an der Südwand. Nach Clasen 1939, Abb. 40, siehe Farbtafel 9 130 Juliusz Raczkowski
Die Skulptur der Muttergottes, die am Gewölbedienst an der Südwand des Presbyteriums aufgestellt wurde, war ikonographisch in einer sehr individuellen Weise gestaltet, was ohne Analogie in der Monumentalskulptur jener Zeit war. Maria wird hier als junge Frau dargestellt, bekleidet mit einem einfachen, ahistori- schen Gewand, ohne einen den Kopf bedeckenden Schleier und mit frei auf die Schulter fließendem Haar. Steif und hieratisch thronte sie auf einer Konsole mit der Darstellung des Sündcnfalls. Besonderes Augenmerk erweckt die Tatsache, dass in dieser scheinbar asketischen Darstellung, für die damalige Zeit sehr kühn, die wichtigen Motive der Mariengedankens hervorgehoben wurden. Sie unterstri- chen besonders ihre Rolle als Corredemptrix. Der Gestus der Demut (die auf die Brust aufgelegte Hand) und ein in den individuellen Darstellungen Mariens seltenes Attribut, die Lilie, welche die Jungfräulichkeit symbolisiert, sind bildliche Motive, die sich auf die Ikonographie der Verkündung beziehen. Sie betonten deutlich die Teilnahme der Muttergottes am Erlösungswerk, das mit dem Zeitpunkt der Inkarna- tion Christi begann. In der Zusammenstellung mit dem Sündenfall auf der Konsole offenbart sich hier also in ungewöhnlicher Deutlichkeit der Gedanke von der Neuen Eva.42 Aufmerksamkeit erweckt auch die Präsenz einer Schlange mit dem men- schlichen Gesicht genau an der Konsolenachse, fast zu Füßen Mariens. Dieses später immer vorkommende Attribut der Ikonographie der Immaculata scheint wiederum den Gedanken an die Unbefleckte Empfängnis zu evozieren. Die Ent- wicklung dieser Idee erfolgte sehr langsam - sie entfachte im Mittelalter relativ scharfe doktrinäre Kontroversen.43 Die Marienachse des Königsberger Programms bestätigt also die Vermutung von Bogna Jakubowska, dass die Zeit der Ordensre- form nicht nur von der Wiederherstellung der Machtideologie geprägt wurde, son- dern auch von fortschrittlichen Erwägungen im Rahmen dogmatischer Spekulatio- nen.44 Höchstwahrscheinlich erhielt die Figur in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhun- 42 Das Problem des Parallelismus von Eva und Maria tauchte zum ersten Mal bei der hl. Justina (verst. 167) auf, nach der der Gehorsam Mariens gegenüber Gott die Erlösung brachte, während das Gehorsam Evas der Schlange gegenüber den Tod hervorbrachte. Hanna GRACZYK, Zwiastowanie (Verkündigung), in: Janusz PASIERB (Hg.), Ikonografia nowozytnej sztuki kos- cielnej w Polscc. Nowy Testament, 1: Maryja Matka Chryslusa | Ikonographie der neuzeitlichen kirchlichen Kunst in Polen. Das Neue Testament, 1: Maria - die Muller Gottes], Warszawa 1987, S. 119-137, hier S. 135. 43 Die langsame Entwicklung der Doktrin von der Unbefleckten Empfängnis war durch die Absenz päpstlicher Aussagen bestimmt. Erst Papst Sixtus IV. trug dazu bei, dass sich der Akzent im Emp- fängniskult auf deren Unbeflecktheit verschob, in der westlichen Theologie wurde die Frage der Unbefleckten Empfängnis im 12. Jh. aufgenommen; während des ganzen Mittelalters machten sich oppositionelle Meinungen der größten Denker bemerkbar - insbesondere aus den Kreisen der Franziskaner und Dominikaner. Das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis wurde erst in der Bulle des Papstes Pius IX. Ineffabilis Deus von 1854 verkündet. Siehe zu diesem Thema u.a.: Julia WOJTKOWSKI, Wiara w Niepokalane Pocz^cie Najswi^tszej Marii Panny w Polsce w swielle sredniowiecznych zabytköw liturgicznych. Studium hisloryczno-dogmatyczne 1 Die Glaube an die Unbefleckte Empfängnis Mariens in Polen im Lichte der mittelalterlichen liturgischen Denkmäler. Eine historisch-dogmatische Studie]. Lublin 1958; Jerzy ROMANSKI, Niepokalane Pocz^cie Najswi^tszej Maryi Panny {Die Unbefleckte Empfängnis Mariens], in: Bernard PRZYBYKSK1 (Hg.): Gratia Plena. Studia tcologicznc o Bogurodzicy [Gratia Plena. Theologische Studien über die Gottesmutter] Poznah/Warszawa/Lublin 1965, S. 189-229. 44 Bogna Jakubowska führte eine eingehende Analyse der Darstellung Marias mit dem Kind durch, die in der Szene der Entschlafung Marias im Tympanon der Sankt-Annen-Kapelle in Marienburg erscheint, in der nach dem damaligen Brauch das Motiv von Levatio Coelestis vorkommt. Ihrer Meinung nach kam es hier zu einer bildlichen Vereinigung des Typus Assunta Orans und des Die Marien-Aussage der Chorausstattung des Doms zu Königsberg/Pr. 131
derts eine Bemalung und eine perspektivische, architektonische Einfassung, die ihre Rolle innerhalb des ganzen Zyklus hervorhob und die Interpretation um zusätzliche Motive bereicherte, die jedoch für uns bereits nicht mehr verständlich sind.45 Vielleicht verknüpfte man noch in den 30er Jahren des 14. Jahrhunderts die bildhauerische Ausstattung mit einem monumentalen, im europäischen Maßstab einmaligen Zyklus von Wandmalereien46, der in die Projektion desselben Pro- gramms eingefügt wurde. Bereits seit den umfangreichen Studien von Walter Seydl47 unterliegt es keiner Frage, dass dieser Zyklus eine Illustration des morali- sierenden Werkes Speculum Humanae Salvationis war, die erste Darstellung die- ses Typs in der Wandmalerei, wofür wahrscheinlich eine illuminierte Handschrift aus dem Ordenskreis aus den Jahren um 1320-1330 als Vorlage gedient hat, wel- che eine kürzere Version des Speculum4* vorstellte. Dieser Typus der Abhandlung, die sich stark auf alttestamentliche Präfigurationen konzentriert, fügte sich leben- dig in die devotio antiqua des Deutschen Ordens49 ein. Es ist eine Reihe von Exemplaren des Werkes Ludolfs von Sachsen bekannt, die für Ordensritter ange- fertigt wurden und die auffällige bildliche Anspielungen auf ihre Ideologie ent- hielten, wie z.B. der von Appuhn veröffentliche Kodex von Clarenberg aus den Jahren nach 1350, wohl eine von vielen Kopien einer noch älteren Vorlage.50 Die Präsenz jenes Zyklus an den Chorwänden bestätigt also den Ordenskontext der ganzen Dekorinterpretation, insbesondere indem hier Motive mit so vielsagender symbolischer Aussage wie das Bild des Turmes Davids realisiert wurden. Diese Interpretation geht einher mit der Theorie von der besonderen Manifestation der Ordensherrschaft unter dem Patronat Mariens, der das Königsberger Chordekor untergeordnet war. Dies würde für die Hypothese sprechen, dass noch bevor die internationale Idee der Preußenreisen ihre volle Entfaltung fand, Luther von Braunschweig und seine Nachfolger bewusst hier die visuelle Agitation aufnah- Apokalyptischen Weibs. Dank diesem Umstand verkündet das Marienburger Tympanon die Idee der Himmelfahrt Marias mit Leib und Seele. - Bogna JAKUBOWSKA, Malborska „Summa theolo- gica” (Die Marienburger „Summa theologica“], in: Teresa Guc-JEDNASZEWSKA/Bogna JAKU- BOWSKA/Zygmunt KRUSZELNICKI, Studia z historii sztuki Gdariska i Pomorza [Studien zur Kunst- geschichte Danzigs und Pommerns], Wroclaw/Warszawa/Kraköw 1992, S. 157-243 (Teka Gdans- ka2), hierS. 194-195. 45 In den vier Arkaden an beiden Seiten Marias wurden männliche Gestalten gezeigt (vielleicht auch Propheten) mit Banderolen, drei zusätzliche Banderolen erwuchsen wie Ranken aus der Gestalt der Mutter Gottes. Die Inschriften der Banderolen sind nicht dokumentiert; es gibt auch keine si- cheren Grundlagen zur Identifizierung der Gestalten in den Arkaden. Vielleicht bezog sich die An- zahl der Banderolen auf die Symbolik der Gaben des Heiligen Geistes, und die so gestaltete Ein- fassung bezog sich nicht von ungefähr auf das Bild der Sendung des Heiligen Geistes, die zum äl- testen Dekor der Domwände gehörte, wohl noch aus den 30er Jahren des 14. Jhs. stammend. 46 In die Jahre um 1335 wurden die Malereien von SEYDEL 1930 (wie Anm. 8), S. 17, datiert. - Domaslowski hat vorgeschlagen, die Datierung in die Jahre 1340-1360 vorzuverlegen: Jerzy DOMASLOWSKI, Malarstwo scicnne [Die Wandmalerei], in: Jerzy DOMASLOWSKI/Alicja Kar- LOWSKA-KAMZOWA/Adam S. Labuda, Malarslwo gotyckie na Pomorzu Wschodnim (Gotische Malerei in Ostpommern], Warszawa-Poznan 1990, S. 10-64 (Prace Komisji Historii Sztuki 17), hier S. 16-17. 47 SEYDEL 1930 (wie Anm. 8), S. 13-17. 48 Domaslowski 1984 (wie Anm. 40), S. 137-138. 49 Kwiatkowski 1998 (wie Anm. 21), S. 98-100. 50 Horst APPUHN, Heil.sspicgel: die Bilder des mittelalterlichen Erbauungsbuches, Speculum huma- nae salvationis4, Dortmund 1981. 132 Juliusz Raczkowski
men, die - ähnlich wie einige Jahrzehnte später auf dem Schloss zu Lochstedt - an die Gäste des Deutschen Ordens51 gerichtet war. Andererseits könnte sich dem in der Welt bewanderten Rittertum die Assozia- tion mit dem französischen Modell der aristokratischen Architektur und der staat- lichen Ideologie aufgedrängt haben. Das Königsberger Kollegium erhielt somit den Rang eines künstlerischen Manifestes der Zugehörigkeit des Ordensstaates - selbst seiner entlegensten Winkel - zur Kulturlandschaft Europas. Von dieser Perspektive aus betrachtet, verwundert jedoch die relativ niedrige künstlerische Qualität der Königsberger Skulpturen, ihre „Primitivisierung“52, und „vereinfachte Sprache der Volkskunst“53, insbesondere im Vergleich mit dem zeitgenössischen Marienburger Ensemble. Wir müssen dabei Tadeusz Jurkowlaniec54 beipflichten, dass eine Reihe von formalen Merkmalen vorliegt, welche die Königsberger Figu- ren mit den Marienburger Skulpturen verknüpft. Die beträchtliche Vereinfachung der Königsberger Formen ist jedoch sehr augenfällig. Nicht ohne Bedeutung für diese Machart war wohl die hier angewandte einfache Variante der Kunststein- gusstechnik mit offenen Formen. Sie ermöglichte wahrscheinlich eine mehrmalige Wiederholung der verwendeten Model, die durch ihren Schematismus auffallen. Im Lichte der Feststellungen ikonographischer Natur und der ausgewiesenen Ver- knüpfungen mit Marienburg unterliegt wohl keinem Zweifel, dass die Königsber- ger Figuren zeitgleich mit dem Domchor entstanden. Davon zeugt auch das höl- zerne Grabmal Luthers von Braunschweig aus den Jahren um 1335-1340 im Dom von Königsberg (nicht erhalten, Abb. 7). Abb. 7: Königsberg Pr., Grabmal des Hochmeisters Luther von Braunschweig. Nach Clasen 1939, Abb. 371 Es stand zwar auf einem höheren künstlerischen Niveau, doch verriet es eine werkstattmäßige Gemeinsamkeit mit den Apostelfiguren. Nicht ausgeschlossen erscheint, dass die nach Königsberg verpflichtete Werkstatt mit einer relativen archaischen, noch aus dem 13. Jahrhundert stammenden Formation nicht direkt mit der beim Umbau des Nordflügels tätigen Marienburger Werkstatt verbunden war. Die Werkstatt des Apostelkollegiums zeigte Kenntnisse der Marienburger Vorlage, knüpfte aber auch an die frühere, lokale Tradition, wie die Goldene Pfor- te der Marienburg, an. Es war dies wohl die erste einheimische Werkstatt, welche die Königsberger Herausforderung nach der Marienburger „Lehre“ übernahm, 51 KUTZNER 1995 (wie Anm. 19), S. 35-36. 52 Jurkowlaniec 1989 (wie Anm. 6), S. 87. 53 Clasen 1939 (wie Anm. 7), S. 53. 54 Jurkowlaniec 1989 (wie Anm. 6), S. 87. Die Marien-Aussage der Chorausstattung des Doms zu Königsberg/Pr. 133
allerdings ungekonnt.55 Für ihre Wahl durch den Bischof Johannes Claris, oder auch vielleicht durch Luther von Braunschweig, könnten sehr wohl finanzielle Belange und die gebotene Eile ausschlaggebend gewesen sein, die vielleicht da- von herrühnte, dass bis zum Abschluss der Arbeiten am Domchor die kanonische Liturgie - unter Teilnahme der europäischen Gäste - in der provisorischen Kirche in Fischhausen ausgeführt wurde.56 Man darf jedoch in keinem Fall mit Clasen wiederholen, dass die Form der Königsberger Figuren durch die Tatsache zu er- klären sei, dass kein besserer Meister den Weg in den entlegenen Winkel „am östlichen Rande des Ordenstaates, nahe der Grenzwildnis, einem vorgeschobenen Posten im Neusiedlungslande“ gefunden habe.57 Solch eine Rolle hat Königsberg im 14. Jahrhundert wohl nicht mehr erfüllt. 55 Mit dieser Werkstatt kann man stilistisch die ziemlich befremdliche Figur der Madonna von Weinsdorf/Dobrzyki in Nordermland in Verbindung bringen, die während des Zweiten Weltkrie- ges verloren ging, und die bei CLASEN 1939 (wie Anm. 7), Abb. 340, abgebildet wurde. - Viel- leicht kann sie ein Hinweis darauf sein, dass die in Königsberg wirkende Werkstatt keinen Ehrgeiz hatte, „Bauhütte des Doms“ zu sein, sondern sich im Norden des Landes niederlicß. 56 SEYDEL 1930 (wie Anm. 8), S. 17, erklärt ähnlich die Tatsache, dass die Wände mit einem monu- mentalen, aber bezüglich der Form sehr einfachen Malereizyklus verziert wurden. 57 Clasen 1939 (wie Anm. 7), S. 53. 134 Juliusz, Raczkowski
III. Bildkonzepte der Marienverehrung und Marienpropaganda
Die apokalyptische Gottesmutter als Propagandabild des Deutschen Ordens in Preußen Barbara Dygdafa-Kfosihska Die mit der Tätigkeit des Deutschen Ordens im Ostseeraum verbundene Kunst ist, wie mehrere monografische Arbeiten belegen, durch großen stilistischen Plu- ralismus gekennzeichnet. Es fehlt dagegen an Publikationen, welche die Kunst- werke in ihren kulturellen Kontext einzuordnen und charakteristische Merkmale der Ordenskultur zu ermitteln versuchen. Eine Ausnahme bilden der Artikel von Marian Kutzner1 von 1995, der das Problem der Legitimierung der Herrschaft der Ordensritter über die eroberten Gebiete mit der Sprache der Kunst erwägt, und die Arbeit von Marian Dygo2 über den Marienkult im Deutschordensstaat. Im zweiten Falle reichte die Werkstatt des Historikers nicht aus, um alle ikonographischen Dimensionen dieses Problems zu berücksichtigen. Die Annahme, dass der Ma- rienkult im Ordensstaat der hl. Maria einen staatlichen Charakter aufweisen könn- te, dürfte zutreffend sein, wie mehrere Quellenerwähnungen belegen, doch wurde diese Frage in der Literatur zu diesem Bereich bislang marginalisiert. Lediglich Dygo3 sowie Bernhard-Maria Rosenberg4 und Waldemar Rozynkowski5 berühren sie aus der Perspektive der Quellenanalyse in ihren Arbeiten über den Heiligenkult im Ordensstaat. Meine Untersuchungen als Kunsthistorikerin versuchen, die Eigen- art des Kults auf der Grundlage der Kunstwerke, in denen sich die gesamte Pro- blematik fokussiert, zu charakterisieren, und die geistigen Impulse, die zur Entste- hung neuer oder zur Assimilation bereits vorhandener ikonographischer Inhalte der Werke führten, zu klären. Gleichzeitig gilt es die Frage zu beantworten, ob auf dem genannten Gebiet ein staatlicher Marienkult existierte, ein Kult, der vom Orden bewusst gestaltet wurde, der die Berechtigung seiner staatlichen Herrschaft erweisen und die durchgeführten Kreuzzüge begründen sollte. 1 M. Kutzner, Propaganda wladzy w sztuce Zakonu Niemieckicgo w Prusach, in: Sztuka w kr^gu zakonu krzyzackiego w Prusach i Inflantach, Studia Borussico - Baltica Toruncnsia Historiae Artiuin 2, Torun 1995, S. 17-66. 2 M. Dygo, O kulcie maryjnym w Prusach Krzyzackich w XIV - XV wieku, in: Zapiski Historycz- ne 52, 1987, z. 2, S. 5-36. 3 Ebd. 4 B.-M. ROSENBERG, Marienloh im Deutschordenslande Preußen. Beiträge zur Gechichte der Ma- rienverehrung im Deutschen Orden bis zum Jahre 1525, in: Acht Jahrhunderte Deutscher Orden in Einzeldarstellungen, bcarb. V. P K. Wieser, Bad Godesberg 1967, S. 321-337. 5 W. ROZYNKOWSKI, Omnes Sancti et Sanctae Dei: Studium nad kullern swi^tych w diecezjach pruskich pahstwa zakonu krzyzackiego, Malbork 2006. Die apokalyptische Gottesmutter als Propagandabild 137
Abb. 1 a: Das Jüngste Gericht mit der Marienkrönung, Torun, Biblioteka Uniwersytetu Mikolaja Kopernika (BUMK), Rps. 44/IV, fol. 175vab/176rab, siehe Farbtafel 10 138 Barbara Dygdala-Klosinska
1 -JH» auc Ö. . <i>c? .'ititudrt ftditu did) <WZ iwOte tt dtt Itf fi&t l tü ent w vU dctyüi ;«nv«Ä tv.ittft ft Gdi ent wflflcu ’: dtai uamwwucfcw «® wir «wcröxtfb • wr. wiicti Q1- In^i' ' 4tr 'l£ crnulrtuöfiittttawfttii '» ftwttunr tttoüd) ftu 1) ttijfftcafflßdstwttse ?i taatflit tütwanfttoft tottt «ebtcabaiulrü-wttaiLW' wa^ß^totöaiimGtrt srJbt üiciiiicrßtiWßti'w vftbftdjttiiÄ L afliH&titai&folte________, Abb. 1 b: Das Jüngste Gericht mit anbetenden Heiligen, Torun, Biblioteka Uniwersytetu Mikolaja Kopernika (BUMK), Rps. 44/IV, fol. 175vab/176rab, siehe Farbtafel 11 Die apokalyptische Gottesmutter als Propagandabild 139
Diese Ausführungen konzentrieren sich auf einige der Fragen, die in meiner Disssertation „Zeugnisse des Marienkults in der Kunst des Deutschordensstaats“ berührt werden. Diese entstand unter der Leitung von Dr. hab. Jaroslaw Jarzewicz, Lehrstuhl für Kunstgeschichte und Kultur an der Nicolaus-Copernicus-Universität zu Thorn. Ich beschränke mich auf die Frage der ikonographischen Darstellung der hl. Jungfrau Maria im Bezug auf den Text der Offenbarung des Johannes. Bis heute ist eine Gruppe von Texten erhalten geblieben, die vermutlich auf den preußischen Gebieten um das Jahr 1300 entstanden sind, die sog. Kommentare zur St. Johannes-Apokalypse des Heinrich von Hesler.6 Drei von ihnen sind reich illuminiert. In den beiden Manuskripten aus Königsberg, die heute in der Univer- sitätsbibliothek in Thorn (Hs. 44 und 64) aufbewahrt werden, finden sich die Il- lustrationen in den Text eingefügt, den sie direkt kommentieren, während im Ma- nuskript in Stuttgart (Landesbibliothek, sign. Hs. XIII, 11) die Illustrationen auf gesonderten Seiten gesammelt und zwischen die Textseiten eingenäht sind. Das Stuttgarter Manuskript verfügt außer Kommentaren und dem Apokalypsetext selbst, der in allen Exemplaren vollständig von der Mitte des 12. bis zum Anfang des letzten Kapitels niedergeschrieben ist, noch über alttestamentliche Texte, die den Kampf des Menschen mit den Kräften des Satans kommentieren. Das letzte Kapitel der Apokalypse wird in Hs. 44 und ursprünglich auch in Hs. 64 mit einer Darstellung des Jüngsten Gerichts (Abb. 1) bebildert, über dem sich die Szene der Vermählung der apokalyptischen Braut mit dem Bräutigam befindet, was in dieser Zeit als Vermählung Christi und Mariens, also als Triumph der Ecclesia, als Um- wandlung der kämpfenden zur triumphierenden Maria, verstanden wurde. Dem Ereignis der Krönung der Mmz-Ecclesia wohnen nur die Auserwählten bei, die Heiligen, die in ihrem Leben mit Kräften des Dämons kämpften, unter ihnen rechts ein Dominikaner und ein Kreuzritter stehend. Die Gestalten von Ordensrit- tern in der Buchmalerei erscheinen sonst nur in den narrativen Szenen, in denen mit einem Bild die Geschichte des Kampfes Militia Christi mit dem Dämon und seinen Anhängern erzählt wird. Die Ordensritter kämpfen als militärischer Arm Christi unter der Fahne des Kaisers des Römisch-Deutschen Reiches und gegen die Völker von Gog und Magog (Abb. 2), gleichzeitig erfüllen sie ihren Auftrag als Geistliche und taufen sie die Neophyten, wodurch die Kirche neue Gläubige gewinnt. 6 T. HERMANN, Der Bildschmuck der Deutsch-Ordensapokalypsen Henrichs von Hesler, Königs- berg 1934; A. S TANGE, Deutsche Malerei der Gotik, Bd. 1, Berlin 1934, S. 119; A. Karlowska- Kamzowa, Uuslrowane apokalipsy krzyzackie z XIV wicku, in: Studia o Dzialalnosci i Zbiorach Biblioteki Uniwersyteckicj M. Kopernika w Toruniu, cz. 6, Torun 1991, S. 79-135; J. Domas- LOWSKI/A. KarLOWSKA-Kamzowa/A. S. Labuda, Malarstwo gotyckie na Poinorzu Wschod- niin, Poznan 1990, S. 198-205; M. KUTZNER (wie Anin. 1), S. 36-43. 140 Ba rba ra Dyg da la -Klosihska
Abb. 2: Der Kampf der Ordensritter gegen Gog und Magog. Toruri, BUMK, Rps. 44/IV, fol. 168rab, siehe Farbtafel 12 Das Ganze ist ein aktueller Kommentar zu der setorologischen Mission der Kirche, die unter anderen von den Ordensrittern erfüllt wird, und deren krönender Abschluss das Jüngste Gericht und die Krönung von Maria-Ecclesia im Himmel sein sollte.7 Dieser Text entspricht somit der Ordensideologie, die auf der Basis der vom hl. Bernhard von Clairvaux8 entwickelten Kreuzzugsideologie ausge- staltet wurde. Nach den Kreuzzügen wurde der Sinn der Existenz der Ritterorden in Frage gestellt, der mächtigste von ihnen, die Templer, wurden vom Papst aufge- löst.9 Gleichzeitig verbreitete sich im 14. Jahrhundert in der christlichen Welt die neue Philosophie der Bekehrung der Ungläubigen durch Güte und das gute Vor- bild, wie sie vom hl. Franz von Assisi gepredigt und ins Leben seines Ordens eingeführt wurde.10 Die Kreuzritter begründeten ihre Missionsrolle in den an Preußen angrenzenden Gebieten mit der Aufforderung des hl. Bernhard zum Vor- gehen gegen die Elbslawen, wie er es im Jahre 1147 in Frankfurt11 verkündet hatte. Diese Aufforderung wurde gemäß der apokalyptischen Vision des hl. Jo- hannes entwickelt und sah vor, dass die Ungläubigen entweder die Taufe anneh- men oder getötet werden sollten. Bernhard knüpfte in seiner in seiner Interpretati- on dieses Textes an die Prophezeiung der Tiburtinischen Sibylle an, indem er das Königreich des Antichrist, des Gegners des Heiligen Kreuzes, im Norden lokali- sierte, wobei die dortigen Heiden seine Armee - filii diaboli - bildeten. Die Or- 7 M. KüTZNER (wie Anm. 1), S. 41-42; 8 Ebd., S. 23ff.. 9 J. Trupinda, Ideologia krucjatowa w Kronice Piotra z Dusburga, Gdansk 1999, S. 68. 10 M. KUTZNER (wie Anm. 1), S. 30, mit weiterer Literatur. 11 F. LOTTER, Die Konzeption des Wendenkreuzzugs, Ideengeschichte, kirchenrechtliche und histo- risch-politische Vorausetzungen der Missionisierung von Elb- und Ostsee-Slaven in der Mitte des 12. Jhs., Sigmaringen 1977; A. BREDERO, Studien zu den Kreuzzugsbriefen Bernhard von Clair- vaux und seiner Reise nach Deutschland im Jahre 1146, in: Mitteilungen des Institutes für Öster- reichische Geschichtsforschung 1958, 66, S. 331-343; Ebd., S. 25. Die apokalyptische Gottesmutter als Propagandabild 141
densritter bezogen sich daher auf die Geschichte des Kampfes gegen den Anti- christ, wie er in der Johannes-Apokalypse enthalten ist und als Geschichte der Kirche verstanden wurde. Sie stellten sich als Helden dieser Ereignisse dar, als neue Makkabäer12, was ideologisch bedeutsam war und an die Gestalten, die im Alten Testament Kämpfe mit dem Satan führten, anknüpfen ließ, wie dies im Prolog zur Ordensregel13 oder im Prolog zur Chronik des Preußenlandes des Peter von Dusburg14 sowie in der späteren Chronik des Nicolaus von Jeroschin15 zu lesen war. In der Chronik des Peter von Dusburg, dem Text, der die Kämpfe der Ordensritter mit den heidischen Pruzzen beschrieb, wurde der spezielle Schutz der hl. Jungfrau Maria den Ordensangehörigen gegenüber unterstrichen: Maria schützt ihre Bürger, bekehrt die Ungläubigen, tröstet nach dem Verlust der Mitgenossen, betreut die in der Schlacht Gefallenen, indem sie ihre Seelen geradewegs in den Himmel führt. Das Verständnis des Neuen Testaments aus der Perspektive der Kommentare war sehr wichtig für eine solche ideologische Anwendung der Jo- hannes-Apokalypse durch den Orden der Brüder vom Deutschen Haus der hl. Maria. Das 12. Kapitel der Kommentare zur Apokalypse des Heinrich von Hesler endet mit dem Kampf der Apokalyptischen Frau mit dem Drachen, welcher mit Satan identifiziert wird. Der Autor führt zum letzten Kapitel über, in dem bereits die letztendliche Entscheidung im Krieg mit den höllischen Mächten - das Jüngste Gericht - erfolgt. Man muss hier darauf hinweisen, dass die Idee, einen Apokalyp- senkommentar zu verfassen, nicht neu war, bereits zuvor ähnliche Bücher im Auftrag der königlichen und fürstlichen Höfe in Frankreich und England entstan- den waren, also der Kreise, die mit den Kreuzzügen zum Heiligen Land verbunden waren und den Rittermythos im Sinne der Militia Christi pflegten.16 In weiterem kulturellem Kontext ist das einzige Monogramm mit figuraler Darstellung in der Bibel Luthers von Braunschweig von 1300 zu beachten, von der nur der dritte Band erhalten geblieben ist, heute in der Bibliothek des Königs- schlosscs auf dem Wawel (AKMW, Msk. Nr. 63)17 aufbewahrt (Abb. 3). In das Monogramm eingeschrieben wurde die Szene der Krönung Mariens, die von zwei Ordensrittern verehrt wird, von denen einer mit dem Stifter des Buches identifi- ziert wird. Es erscheint unbegründet, in dieser Szene die Lehnsbeziehung zwi- schen den Ordensrittern und Maria zu suchen.18 Beizupflichten ist vielmehr Alicja 12 Den Ordensrittern wurde der Titel von Makkabäern von Papst Honorius III. im Jahre 1221 verlie- hen, hierzu: K. HELM/W. ZlSEMER, Die Literatur des Deutschen Ritterordens, Gießen 1951, S. 97. 13 Regula Zakonu Szpitala Najswi^tszej Marii Panny Doinu Nieinieckiego w Jerozoliinie, przeklad i komentarz J. Trupinda, Malbork 2002, S. 14-18. 14 Trupinda schrieb viel über die Ideologie der Kreuzzüge in der Chronik Peters von Dusburg - J. Trupinda (wie Anm. 9): M. Pollaköwna, Kronika Piotra z Dusburga, Wroclaw 1968; J. WENTA, Wstvp, in: Piotr z Dusburga, Kronika ziemi pruskiej, Torun 2004, S. VII - XXVIII; 15 N. v. Jeroschin, Kronikc von Pruzinlant, Berlin 1993. 16 P. KLEIN, Endzeitcrwartung und Ritterideologie. Die englischen Bilderapokalypsen der Frühgotik und Ms. Douce 180, Graz 1983, S. 17Hf.; A. Karlowska-Kamzowa (wie Anm. 6), S. 92-94; M. KUTZNER (wie Anm. 1), S. 37. 17 E. POTKOWSKI, Monarsze dary ksi^zkowe Jagielly, in:] Ojczyzna blizsza i dalsza. Studia historyczne ofiarowane Feliksowi Kirykowi w szescdziesiqtq rocznic? urodzin, pod red.: J. Chra- bQszczyhski/A. Jure.szko/M. Sliwa, Krakow 1993, S. 361; A. KARLOWSKA-KAMZOWA, Malarstwo ksiqzkowe na Pomorzu Wschodnim, in: Malarstwo gotyckic w Polsce, Bd. 1, Warszawa 2004, S. 469f. 18 Wie Dygo vorgeschlagen hat - M. DYGO (wie Anm. 2), S. 10-14. 142 Barbara Dygdata-Klosinska
Karlowska-Kamzowa und Jerzy Domaslowski19, die hierin eine aus der Apokalyp- se des Heinrich von Hesler isolierte Szene der Darstellung des Jüngsten Gerichts sahen. Man darf hierbei jedoch nicht vergessen, dass die Szene der Marienkrö- nung in der gotischen Kunst sowohl in der Buchmalerei als auch in der Skulptur sehr populär war. Diese Szene begleiten andernorts keine Gestalten der Gegen- wart, sie ist eher als Ereignis von transzendenter Dimension dargestellt. Dieser Fall indes ist nur zu erklären durch die spezifische Beziehung zwischen den Or- densbrüdern - der Militia Christi - und Maria-Ecclesia, unter deren Fahne sie ihr zu Ehren kämpfen, wie sich aus dem vom Kreuzzug geprägten Verständnis der in der Offenbarung des Johannes beschriebenen Geschichte ergibt. Abb. 3: Krönung Mariens, Bibel Luthers von Braunschweig, AKMW Krakow, Msk. Nr. 63 Abb. 4: Marienburg, Großer Remter, Krönung Mariens, Foto: Waldemar Moscicki 2008, siehe Farbtafel 13 19 A. Karlowska-Kamzowa/J. Domaslowski/A. S. Labuda, Malarslwo golyckie na Pomorzu Wschodnim, Warszawa/Poznan 1990. Die apokalyptische Gottesmutter als Propagandahild 143
Eine ähnliche Szene der Marienkrönung schmückt die Wand unter dem Ein- gang zum sog. Großen Remter der Marienburg (Abb. 4). Die Malerei wird unter- schiedlich datiert vom Jahr 132O20 bis gar zu den Jahren 1370-139021 22, doch darf man nicht vergessen, dass ihre gegenwärtige Gestalt im großen Maße der Restau- rierung im 19. Jahrhundert zu verdanken ist, die das Denkmal stark veränderte. Nach den konservatorischen Beschreibungen wurde die ikonographische Anord- nung nicht geändert. Christus und Maria sitzen auf dem Thron und der Bräutigam setzt der Braut die Krone aufs Haupt. Die Szene wurde von heute nicht mehr sich- tbaren narrativen ritterlichen Darstellungen begleitet, die man 1817 entdeckte und in denen Kazimierz Pospieszny Darstellungen der preußischen Kreuzzüge sah.“ Das Ganze bildet zweifellos die Realisation der apokalyptischen Szene der Ver- mählung des Bräutigams mit der Braut, interpretiert als Triumph der Kirche, der dank der mit vollständiger Aufopferung geführten Kämpfe der Ordensritter mit den Gegnern des Heiligen Kreuzes möglich war. Es war dies ein in sich stimmiges Programm, das vor allem an die Gäste gerichtet ist, die hier im Großen Remter empfangen wurden, noch bevor die Winter- und Sommerremter entstanden. Zwei- fellos hatte dieses Programm eine Propagandafunktion, war es die einprägsame Visualisierung der Kreuzzugsidee, wie sie die Apokalypse-Kommentare des Hein- rich von Hesler und die Chronik des Preußenlandes des Peter von Dusburg ent- hielten. Eine weitere Mariendarstellung der Marienburg war die verlorene monumenta- le, halbplastische Skulptur der östlichen Nische des fünfeckigen Endteils der Ma- rienkapelle des Hochschlosses, Maria mit dem Kind darstellend (Abb. 5).23 Wegen ihrer engen Verbindung mit der Architektur wurde sie auf die Phase des Ausbaus der Marienkapelle in der Richtung Osten datiert und angenommen, dass sie vor 1344 entstanden sei, als man die neue Kapelle weihte. Die Skulptur stellte die stehende Maria in charakteristischem Kontrapost, in frontaler Position dar, den auf dem linken Arm sitzenden Christus haltend, der sich ihr von der Seite her zuwen- 20 Unter anderem B. SCHMID, Baukunst und bildende Kunst zur Ordenszeit, in: Deutsche Staatenbil- dung und deutsche Kultur im Preußenlande, Königsberg i. Pr. 1931, S. 116-150, G. Chmar- ZYNSKI, Historia sztuki, in: Warmia i Mazury, pod red.: S. Zajchowskiej, cz. 1, Poznan 1953, S. 100-246 21 J. Domaslowski Tom III. Polska pölnocno - wschodnia, in: Materialy do katalogu gotyckich malowidel scicnnych w Polsce, pod red.: A. Karlowskiej-Kamzowej, Poznan 1981, S. 41-61; J. Domaslowski, Pomorze Wschodnie, Pomorze Zachodnie i Ziemia Lubuska, in: J. Domaslows- Kl/A. Karlowska-Kamzowa/M. Kornecki, H Malkiewiczöwna, Gotyckie malarstwo scienne w Polsce, Poznan 1984, S. 121-167; J. Domaslowski, Die gotische Malerei im Dienste des Deut- schen Ordens, in: Die Rolle der Ritterorden in der mittelalterlichen Kultur, hg. v. Z. H. Nowak, Torun 1985, S. 169-183. 22 K. POSPIESZNY, O barwnosci rezydencji Zakonu Krzyzackiego w Malborku,in: Sztuka okolo 1400. Materialy Sesji Stowarzyszenia Historyköw Sztuki, Poznan, listopad 1995, Bd. 1, Warszawa 1996, S. 251-269; ebenfalls J. TRUPINDA, Skrzydlo pölnocne Zamku Wysokiego - dzieje, ksztalt architektoniczny i wyposazenie w swietle zrödel pisanych, in: Zamek Wysoki w Malborku: inter- dyscyplinarne badania skrzydla pölnocnego, pod red.: M. Poksinskiej, Malbork 2006, S. 24-25; 23 S. SKIBINSKI, Kaplica na Zamku Wysokim w Malborku, Poznan 1982; M. KlLARSKl, Figura Matki Boskiej z Dzieciqtkiem z kosciola zamkowego w Malborku. Studium technologiczno - konser- watorskie, in: Podlug nieba i zwyczaju polskiego (Studia z historii architeklury, sztuki i kultury oliarowane Adamowi Milob^dzkiemu), Warszawa 1988; M. KUTZNER (wie Anm. 1), S. 59; A. GRZYBKOWSKI, Geneza kolosa malborskiego, in: tegoz, Studia z ikonografii, architeklury i rzczby gotyckiej, Warszawa 1997, S. 168-185; J. TRUPINDA (wie Anm. 22), S. 31 f. 144 Beirbara Dygdala-Klosinska
eiet. Die Gruppe steht auf einem niedrigen Sockel, der mit Maßwerk geschmückt ist. Die Proportionen Mariens sind deutlich gestreckt, besonders im unteren Teil, und mit den schmalen Armen kontrastiert der massive mit dem Schleier und der Krone geschmückte Kopf. Maria trägt ein Kleid und einen Mantel, dessen linker Teil über den Arm geworfen wurde. Das Kind trägt ein einfaches, langes, in der Taille mit dem Gürtel zusammengehaltenes Kleid. Maria hält ein Zepter in der rechten Hand, das ursprünglich in einer Lilie endete. Christus hält in der linken Hand den Reichsapfel, die rechte Hand dagegen stützt sich auf der Brust der Mut- ter. Ursprünglich hatte Christus keine Krone, sie wurde erst im 19. Jahrhundert hinzugefügt. Abb. 5: Mosaikmadonna der Schlosskirche der Marien- burg, Archiv Foto Marburg Das Original wurde mit der Kapelle im Jahre 1945 zerstört. Es sind nur Frag- mente der Skulptur erhalten geblieben, die im Schlossmuseum der Marienburg aufbewahrt werden. Eine unschätzbare Quelle für weitere Untersuchungen der Skulptur sind Vorkriegsfotos, besonders die von Clasen angcfertigten, sowie Vor- kriegsbeschreibungen, auf Grund derer wir über die Farben des Werks informiert sind, was ausgesprochen wichtig für die Erwägungen über die Ikonographie er- scheint. Anfangs war die Skulptur lediglich polychromiert, und erst vierzig Jahre Die apokalyptische Gottesmutter als Propagandabild 145
später wurden die Gestalten und die Nische mit Mosaik belegt.24 Die Farben des Mosaiks entsprachen denjenigen, die damals in der Polychromie benutzt wurden. Auf Grund der Beschreibung von Quasts vom 1851 können wir die Farben der Skulptur rekonstruieren:25 das Marias Kleid war golden, der Mantel dunkelrot, geschmückt mit goldenen Vögeln, mit dem blauen Futter versehen, das Haar war golden und braun, der Schleier weiß. Christus trug ein rotes Kleid mit goldenen Blumen. Das Innere der Nische war ebenfalls mit Mosaik belegt - mit goldenem im Hinterngrund und blauem mit goldenen Sternen in den Leibungen. Die Einzigartigkeit der Marienburger Kolossal Statue beruhte auf ihrer beson- deren Unterbringung an der Fassade der Ostkapelle des Schlosses, der Hauptresi- denz des Deutschen Ordens, und auf der riesigen Größe der Skulptur bzw. ihrem überwältigenden Ausmaßen im Vergleich zur Architektur. Abb. 6: Tympanon der Kathedrale Notre Dame in Senlis 24 B. SCHMID, Unter lieben Frauen Bild hinter dem Chore, Geschäftsbericht des Vorstandes des Vereins für die Zeil vom 1. April 1923 bis 31. März 1924, S. 4-8; B. POSPIESZNA, Konserwacja mozaiki na malborskim po.sqgu Marii z Dzieciqtkim w XIX i na pocz^tku XX wieku, Studia Zamkowe, II, Malbork 2006, S. 125. 25 F. v. QUAS I’, Beiträge zur Geschichte der Baukunst in Preußen. Schloss Marienburg, „Neue Preus- sische Provinzial - Blätter“ II, 1851, S. 68. 146 Barbara Dygdala-Klosinska
Abb. 7: Tympanon der Kathedrale Notre Dame in Paris Der ikonographische Typus der im Kontrapost stehenden Maria mit dem Kind, das auf dem linken Arm gehalten wird, ist für die Skulptur gotischer Kathedralen Frankreichs, wie der Kathedrale Notre-Dame in Laon (ca. 1200) oder Notre-Dame in Paris (ca. 1210) charakteristisch. Die Madonna mit dem Kind befindet sich immer bei dem Pfeiler, der das Portal in zwei Eingänge teilt.26 Ähnlich wie im Falle der Marienburger Madonna wurde bei den französischen Skulpturen auf das Haupt Mariens die königliche Krone gesetzt, nicht jedoch auf das Haupt des Kin- des. Christus trägt langes mit dem Gürtel gefasstes Kleid, Maria hält das in der Lilie endende Zepter, und Christus hält den Reichsapfel. Die korrekte Interpretati- on dieser Gruppe sichert das Verständnis des ikonographi sehen Programms des gesamten Portals mit seiner Marienthematik, aber auch der gesamten ekklesiologi- schen Thematik der gotischen Kathedralen. Schlüssel zum Verständnis dieser Thematik ist der Text der im Mittelalter populären Offenbarung des Johannes. Bei den französischen Kathedralen der Gotik, beginnend mit dem Portal der westli- chen Fassade der Kathedrale in Senlis (ungefähr 1175), spielt hinsichtlich der Interpretation der Apokalypse die wichtigste Rolle die Gestalt Mariens, die dort mit der Apokalyptischen Frau des 12. Kapitels und mit der Braut des letzten Kapi- tels der Vision des hl. Johannes identifiziert wird (Abb. 6). In der Szene der Ver- mählung der Braut mit dem Bräutigam krönt Christus Maria, die hier für Ecclesia - die Siegreiche Kirche - steht, wie unter anderen im oberen Teil des Tympanons 26 W. Sauerländer, Rzczba sredniowieczna, Warszawa 2001, S. 158ff. Die apokalyptische Gottesmutter als Propagandahild 147
des linken Portals der Westfassade von Notre-Dame in Paris (Abb. 7). Darunter findet sich die Szene des Marientodes, wiederum darunter die Propheten, die das Kommen Christi voraussagen. Zwischen den Propheten, direkt über der Skulptur, welche die gekrönte Madonna mit dem Kind darstellt, wird die Bundeslade abge- bildet. Im Tympanon des rechten Portals der Westfassade wird Maria auf dem Thron dargestellt, die ihren Sohn zeigt, der ein Buch hält und die Pose von Chris- tus als Richter einnimmt. Auch dies ist eine Darstellung der Ecclesia, die von dem König, Bischof und Mönch verehrt wird, und für die das Moment der Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi charakteristisch ist, symbolisiert durch die Weinrebe, welche die ganze Szene umflicht und an alttestamentliche Voraussagen über die mystische Weinpresse anknüpft, ein Schlüsselmotiv, die Hauptdoktrin der Kirche. Ergänzt wird dies durch das zentrale Portal, auf dessen Tympanon die wichtigste Szene der Apokalypse, das Jüngste Gerichts dargestellt wird. Im Portal des südlichen Seitenschiffs der Kathedrale von Amiens wurde ebenfalls am mittleren Pfeiler die Skulptur der Madonna mit dem Kind aufgestellt, wobei Maria mit Schleier und Krone die Machtinsignien von Christus entgegen- nimmt - dies ist eine neue Szene, ähnlich der Pariser mit der Krönung der Braut. Über die ganze Szene befindet sich in dem oberen Teil des Tympanons die Dar- stellung der Kreuzigung Christi - das letztendliche Moment des siegreichen Kampfes mit dem Satan. Abb. 8: Tympanon der Kirche Maria Schnee in Prag Alle an die Apokalypse anknüpfenden und mit dem Geheimnis des Kreuzesop- fers Christi verbundenen Szenen wurden in einer ikonographische Darstellung im Tympanon der Kirche Maria Schnee in Prag27 (Abb. 8) zusammengelegt, in der 27 D. Libal, Zu den ikonographischen Programmen Karls IV., in: Die Parier und der schöne Stil 1350 - 1400, hg. v. A. Legner, Köhl 1978, Bd. 2, S. 608; D. GROSSMANN, Das Stifterrelicf von Maria-Schnee zu Prag, in: Gotika v Zäpadmch Cechäch, Praha 1998, S. 188-201. 148 Barba ra Dygdalci -Klosinska
Maria - die Apokalyptische Frau - mit den Strahlen der Sonne umgeben auf dem Thron als Braut sitzt und sich mit dem Bräutigam, der sie krönt, vermählt. Mittig über dieser Szene, die als Triumph der Kirche interpretiert werden kann, befindet sich die Grundlage des christlichen Glaubens, der gekreuzigte Christus, der in die Gruppe des Gnadenstuhls, also der Dreifaltigkeit oder des Zeichens des Bundes, hineinkomponiert ist (es ist keine Taube des Hl. Geistes erhalten geblieben und kaum festzustellen, ob sie ursprünglich im Tympanon dargestellt war). Auf den Seiten der ganzen Komposition knieen zwei Stifter. Hier wurde das Programm der Kathedrale noch erweitert: Die Krönung findet vor dem Hintergrund des Gartens, des Hortus Conclusus, statt, den die Blumen im Hintergrund der Szene symboli- sieren gemäß dem „Hohen Lied“ (4,12): „Ein verschlossener Garten ist meine Schwester Braut, ein verschlossener Garten, ein versiegelter Quell“. In dessen Mitte wächst der Baum des Lebens, das Heilige Kreuz, weshalb wir es hier mit dem Bild des apokalyptischen Paradieses zu tun haben, mit dem Neuen Jerusalem, das mit Maria-Ecclesia identifiziert wurde. Im westlichen Portal der Kathedrale Notre-Dame zu Reims (nach 1252), findet sich ebenfalls bei dem Pfeiler, der das Portal in zwei Eingänge teilt, die Skulptur der Madonna mit dem Kind in ähnlicher ikonographischer Darstellung wie bei der Marienburger Kolossalfigur. In Reims kommt wegen der Ersetzung des Tympa- nons durch ein Buntglasfenster zur Darstellung von Maria ein sehr wichtiges Ele- ment hinzu: Die Basis der Krone bildet der Kranz aus zwölf Sternen - eines der Symbole der Apokalyptischen Frau. Die Ähnlichkeit der Marienburger Kolossalfigur in Körperpose, Wahl der At- tribute oder Insignien der königlichen Macht, Weise der Darstellung Christi und seiner Kleidung, mit den oben erwähnten französischen Beispielen scheint unstrei- tig zu sein. Eine zusätzliche apokalyptische Interpretation unterstreicht die Farb- wahl des Kleides Mariens - golden, dunkelrot und weißer Schleier - bis jetzt falsch als Maphorium interpretiert. Noch wichtiger ist jedoch die Einfügung der Marienburger Madonna im ihren ikonographisehen Kontext, der für sie durch die Marienkapelle und die St. Annenkapelle gebildet wird. Letztere Kapelle wird geschmückt von einer Portalgruppc28, die in derselben Zeit entstand wie die Ko- lossalfigur, und die apokalyptische Ikonographie der Madonna noch ergänzt. Hier findet sich die Szene der Krönung Mariens im Haupttympanon des nördlichen Vorraums und an den Seiten die Anbetung der hl. Drei Könige, wobei Maria als Königin dargestellt ist, sowie die Szene des Marientodes. Im Haupttympanon des südlichen Vorraums ist dagegen die Geschichte der Auffindung des Heiligen Kreuzes zu sehen, bekrönt mit der Szene der Exaltatio Sancti Crucis, und an den Seiten die Szenen der Himmelfahrt und des Jüngsten Gerichts. Dies ist mithin das traditionelle Repertoire der ikonographisehen Themengruppe, das die Tympana der gotischen französischen Kathedralen zeigt, ergänzt durch die Geschichte der Auffindung des Heiligen Kreuzes. Die Zufügung dieses letzten Themas verwun- dert im Falle des Deutschen Ordens nicht, zumal in der Marienkapelle des Schlos- ses eine Reliquie des Heiligen Kreuzes aulbewahrt wurde. Hierzu bemerkte Ski- binski zu Recht: „Die Geschichte, die mit dem Raub der Reliquie des Heiligen 28 U. Bzöwka, Tresci ikonograficzne ponalu grobowej kalicy sw. Anny na zamku krzyzackim w Malborku, Roczniki Humanistycznc, Bd. 23, 1975, z. 3, S. 27-58; S. SKIBINSKI (wie Anm. 23), S. 145-158; J. Trupinda (wie Anm. 22), S. 321*. Die apokalyptische Gottesmutter als Propagandabild 149
Kreuzes durch König Chosrau II. und ihrer Rückgewinnung durch Kaiser Hera- klius verbunden ist, ist nicht nur der Bericht vergangener Ereignisse. Chosrau wurde im Mittelalter als apokalyptischer Antichrist verstanden und dieser Bedeu- tung entsprach seine Darstellung im Marienburger Tympanon, entsprechend übri- gens der Legenda Aurea. Weiter bemerkte Skibinski29, dass die einzelnen Szenen der südlichen Vorhalle der Annenkapelle den Szenen entsprechen, welche die nördliche Vorhalle schmücken. Der Szene des Marientodes verstanden als Transi- ts Mariae entspricht die Szene der Himmelfahrt Christi, der Szene der Anbetung der hl. Drei Könige - der ersten Offenbarung Christi - entspricht die letzte Offen- barung, das Jüngste Gericht. Der Triumph der Kirche wurde auf den beiden mittle- ren Tympana dargcstellt. Das ganze ikonographische Programm wird verbunden durch die riesenhafte Gestalt der Maria mit dem Kind, die apokalyptische mit dem Dämon kämpfende Maria, die apokalyptische Maria-Ecc/e.s^z - die Siegreiche Kirche. Die Marienburger Kolossalfigur lässt sich daher als zusammengesetzte ikono- graphischc Struktur interpretieren, welche die Darstellung Mariens als Apokalyp- tische Frau und Braut verbindet. Die Gottesmutter erscheint als ein Zeichen am Himmel, den die Sterne symbolisieren, als mit der Sonne bekleidet - das Gold des Hintergrunds, das die Sonnenstrahlen reflektiert -, als die Frau, die den Sohn gebar. Maria ist auch dargcstellt als Ecclesia der Vermählung bzw. der Krönung, ausgestattet mit den Insignien der königlichen Macht und bekleidet mit königli- chen Farben. Ihr übergroßes Ausmaß bewirkt, dass die ganze Architektur der Kirche ihr untergeordnet ist. Nicht ohne Bedeutung für die Entschlüsselung der Ikonographie des Objekts sind die Abbildungen der Vögel auf dem Kleid Mariens und der Blumen auf dem Kleid Christi. Wieder haben wir hier die Anknüpfung an die Symbolik des ge- schlossenen Gartens, des Hortus Conclusus. Wir sehen die Siegreiche Ecclesia dargestellt als das Neue Paradies, als das Himmlische Jerusalem, das gemäß der Beschreibung der Apokalypse aus Edelsteinen und Gold gemacht ist. Zusätzliche Bedeutung gewinnt diese Interpretation, wenn wir uns bewusst machen, dass im Inneren der Kirche, in der Marienkapcllc, die Reliquie des Heili- gen Kreuzes30 aufbewahrt wurde. Die ganze Kapelle ist damit als das Himmlische Jerusalem zu interpretieren, und die an seinem Tor begrabenen Ordensbrüder warten auf die Erlösung, die für die Militia Christi sowohl in der Apokalypse als auch in der Chronik des Peter von Dusburg unter Schutz der hl. Maria versprochen wurde - ein in der Chronik des Preußenlandcs sehr häufig auftretendes Motiv. Die Verbindung der Reliquie des Heiligen Kreuzes mit der Offenbarung des Johannes nutzte auch der Kaiser des Römisch-Deutschen Reiches in fast derselben Zeit: Karl IV., der in Karlstein eine Burg gleichsam als Staatsreliquiar erbaute. Er knüpfte an die Idee des Kampfes mit dem Antichrist unter dem Banner des Heili- gen Kreuzes an, indem er die Marienkapclle der Burg mit Fresken schmückte, welche die Offenbarung des Johannes illustrierten. Die Maricnkapelle ist der Ka- pelle des Heiligen Kreuzes benachbart, in der die wichtigsten Reliquien des Rei- 29 S. Skibinski (wie Anm. 23), S. 150. 30 M. Wo/NIAK, Prze.sir/.eh liturgiczna i wyposazenie kosciola Najswi^tszej Mari Panny na zamku w Malborku - nowe uslalenia, in: Zainek Wy.soki w Malborku: interdyscyplinarnc badania skrzydla polnocnego, pod red. M. Poksihskiej, Malbork 2006, S. 83. 150 Barhara Dygdala-Ktosinska
ches - u.a. ein Fragment des Heiligen Kreuzes - aufbewahrt wurden. Das Ganze versah er mit einer Auskleidung aus Edel- und Halbedelsteinen.31 Diese ikonogra- phisch-ideologische Analogien zwischen Böhmen zur Zeit Karls IV. und dem Deutschordenstaat sowie die stilistischen Verbindungen der Kunstwerke aus die- sen Gebieten überraschen nicht im Lichte der damaligen politischen und intellek- tuellen Bündnisse. Das ganze Komplex der Marienburger Schlosskapelle, seine bildhauerische und malerische Ausschmückung, ist als politisches Traktat zu verstehen, das die Macht des Ordens in Preußen und seine militärische Mission legitimieren sollte, und in dieser Hinsicht schreibt es sich in die Tradition ein, die durch den Apoka- lypsen-Kommentar des Heinrich von Hcslcr und die Chronik des Prcußenlandes des Peter von Dusburg sowie die spätere Chronik des Nicolaus von Jeroschin bestimmt wurde, worüber letztens Trupina schrieb.32 Im Inneren der Kapelle wurden auf die Wandkonsolen Statuen Christi und der Apostel gestellt. Statuen lokaler Heiliger sowie solche von Ecclesia und Synagoge begleiten sie, was das Himmlische Jerusalem und den Triumph der Kirche zum Ausdruck brachte, der nicht als Verneinung des Alten Testaments, sondern als dessen Fortführung möglich war - die Synagoge hat bezeichnenderweise weder eine gebrochene Lanze noch verbundene Augen, wie dies in der Ikonographie angenommen wurde. Diese Tatsache verwundert nicht, wenn wir uns daran erin- nern, dass der Orden Vorbilder für seine Taten im Alten Testament suchte.33 Die Idee, die Apostel im Inneren der Kapelle - als collegium apostoloruin - auf zustel- len, entstand in Frankreich und wurde erstmals in der Sainte-Chapelle in Paris verwirklicht, die ähnlich der Marienburger Kapelle einen Staats- und Reliquiar- charakter hatte.34 Die Apostel des Kollegiums in Marienburg treten auf die civitas diaboli, die auf den Konsolen dargestellt wird. Die Apostel Christi erscheinen hier als Pfeiler der Kirche, als allegorische Vision des idealen Ordens, der im Namen Christi mit dem Dämon und seinen Anhängern kämpft. Das Mosaikbild Mariens erfüllte auch die spezifische Funktion eines Schildes der Burg, als Tor der Mauer des Himmlischen Jerusalem. Als Symbol heiligte es die Burg und die anderen Stätten, die der Jungfrau Maria gewidmet waren. Als Beleg für den spezifischen Marienkult im Deutschordensstaat brachten die Forscher die sog. Schreinmadonnen wegen auf den Flügeln dargestellter Ordens- ritter vor (Abb. 9). Diese Gruppe von Denkmälern datiert auf die Zeit von unge- fähr 1400 und besteht aus vier Objekten aus Klonowken/Klonowka, Elbing/Elb- Iqg, Sejny, Liebschau/Lubieszew und drei Objekten, die heute das Germanische Museum in Nürnberg, das Musee de Cluny in Paris und das Kunstindustrimusect Kopenhagen verwahren.35 Die Madonnen als vollplastische Skulpturen stellen 31 J. M. PLOTZEK, Bilder zur Apokalypse, in: Die Parier (wie Anm. 27), Bd. 3, S. 195-210; J. Fajt, Charles IV: Toward a new imperial style, in: Prague, the crown of Bohcmia 1347 - 1437, pod red. B. Drake Boehm /J. Fajt, New York/London 2006, S. 3-21 32 J. Trupinda (wie Anm. 22), S. 22-31. 33 Hier ist vor allem an den Prolog der Ordensregel und der Chronik des Landes Preußen des Peter von Dusburg zu erinnern. 34 Siehe den Beitrag von J. Raezkowski in diesem Band. 35 R. ClECHOLEWSKI, Problematyka badawcza Pomorskich Madonn Szafkowych, Studia Pelplinskie, 8, 1970, S. 127-152; R. ClECHOLEWSKJ, Polilyka krzyzacka przelomu XIV i XV w. w swietle ikonografii malowidel na „skrzydlach“ Pomorskich Madonn Szafkowych, Studia Pelplinskie, 11, Die apokalyptische Gottesmutter als Propaganclabild 151
Maria dar, die auf dem Throne sitzt und auf den Knien das Jesuskind präsentiert. Die Skulpturen lassen sich ähnlich einem Schreinaltar öffnen und zeigen im Inne- ren im Zentrum Gottvater, der vor sich das Kreuz mit dem gekreuzten Christus hält. In keinem der bekannten Objekte ist das ursprüngliche Kreuz erhalten ge- blieben, und bei den Gottvater darstellenden Figuren gibt es keine Spur einer ur- sprünglichen gemalten oder geschnitzten Taube des Heiligen Geistes, weswegen nicht eindeutig zu bestimmen ist, ob im Zentrum der geöffneten Schreinmadonna ein Gnadenstuhl oder das Zeichen des Bundes dargestellt ist. Auf die Seitenflügel wurden Gruppen von Personen gemalt, die das Kreuz verehren und unter dem Mantel Mariens Zuflucht finden - in meisten Darstellungen knieen in der ersten Reihe Ordensritter. Abb. 9: Schreinmadonna aus Liebschau/Lubieszew, Diözesanmuseum Pelplin Die Gruppe der Schreinmadonnen ist in stilistischer Hinsicht inhomogen, doch wurden die Exemplare bislang als einheitliche Gruppe behandelt, wenn es um die Darstellung der ikonographischcn Inhalte geht. Es verbinden sich hier drei ikono- graphische Typen: Maria auf dem Throne Salomos als Verkörperung der göttli- chen Weisheit, die Schutzmantelmadonna und der Gnadenstuhl.36 Bislang jedoch 1980. S. 258-270; M. RlMMELE, Die Schreirimadonna, Bild - Körper - Matrix, in: Bild und Körper im Mittelalter, München 2006, S. 41-59; M. JäKUBEK-Raczkowska, Madonna Szafkowa z koscioia paraliahiego w Klonowce. Pow. Starogrodzki, in: Imagines potestatis, pod red. J. Tru- pindy, Malbork 2007, S. 457. 36 Nach ClECIlOLEWSKI (wie Anm. 35) soll das Ganze plastisch die Idee der sei. Dorothea aus Mon- tau über die dreimalige Geburt - Sohn vom Vater, Sohn von der Jungfrau Maria und durch die 152 Barbara Dygdala-Klosinska
überging man in den Erwägungen zur Ikonographie der Schreinmadonnen die wichtige Tatsache, dass zwei der genannten Beispiele noch über ein weiteres At- tribut verfügen, das bewirkt, dass sich bei diesen Objekten die Anzahl der ikono- graphischen Merkmale auf vier vergrößert: Bei den Madonnen aus Liebschau/ Lubieszewa und Sejny befindet sich unter dem Thron eine Darstellung des Mon- des - Merkmal der Apokalyptischen Frau. In der Kunst ist die Zusammenstellung der thronenden Maria und der Apokalyptischen Frau sehr selten. In diesem Kon- text denke ich, dass man den Inhalt der Objekte sehr einfach ablesen kann. Die Hauptidee, sowohl der geschlossenen als auch in der geöffneten Figur, bildet der Kampf gegen die Sünde, das Werk der Erlösung, das mit Maria - durch den Apfel, das Symbol der Erbsünde, als neue Eva gekennzeichnet - begann und mit dem Opfertod Christi am Kreuz vollendet wurde. Dies ist das Geheimnis, das dem katholischen Glauben zugrunde liegt und das Fundament der Kirche -Ecclesia bildet, wie es im 12. Kapitel der Apokalypse in vier Versen zum Ausdruck kommt. In der Offenbarung des Johannes, in der Vision des Neuen Paradieses, das dem Jüngsten Gericht folgt, ist der Baum des Lebens sehr wichtig, der in der Mitte des Neuen Jerusalem - der Triumphierenden Ecclesia, der Gekrönten Maria - wächst. In allen Beispielen von Schrcinmadonnen wurde Mariens Kopf so geformt, dass man ihm eine Krone aufsetzen konnte. In Sejny sehen wir nach der Öffnung der Skulptur den königlichen, mit Chinchillafutter summarisch dargestellten Mantel Mariens. In der Mitte jeder Darstellung befindet sich das Kreuz. Die Verbindung des Heiligen Kreuzes mit dem Baum des Lebens, dem Paradiesbaum (gemäß der Apokalypse), nahm seinen Ursprung in der Legende vom Heiligen Kreuz, die im Mittelalter sehr populär war, nach der das Kreuz Christi aus dem Baum des Le- bens gemacht wurde. Die Bedeutung des Kreuzes als der Baum des Lebens war auch in der Liturgie bekannt - an diese Symbolik knüpfte die Präfation zum Heili- gen Kreuz an, die zur Messeordnung in der Zeit vom Palmsonntag bis zum Grün- donnerstag gehörte. In den Texten der Zeit wird der Leib Mariens als Königreich mit Früchten, als Paradiesgarten, in dessen Mitte Gott den Baum des Lebens pflanzte, beschrieben. Seine Frucht ist das während der Passion vergossene Blut. In den sog. Preußischen Schreinmadonnen, die sich sehr von den in anderen Regionen auftretenden Schreinmadonnen unterscheiden (nur in Schweden gibt es einen Typ ähnlich den Madonnen aus dem Deutschordensland) wird ein kompli- zierter Inhalt dargestellt, der dank der Zusammenstellung mehrerer ikonographi- scher Typen gewonnen wurde. Wir wissen nicht, ob diese Idee in Ordenskreisen entstanden ist oder die Ordensritter sie nur geschickt verwendet haben. Es wurde hier jedoch gewiss die Rolle von Maria gemäß der damaligen Kirchendoktrin dargestellt: Maria, die den Sohn gebar, als Waffe im Kampf mit dem Dämon, aber auch als die Darstellung der Siegreichen Kirche - des Himmlischen Jerusalem, in dessen Mitte der Baum des Lebens wächst, das Heilige Kreuz, das seine treuen Gläubigen, vor allem die Ordensangehörigen, schützt. * Gnade in den menschlichen Herzen darstcllen, die von Johannes aus Marienwerder wiedergegeben wurde. Früher herrschte die Auffassung, dass Maria hier als der Tempel der Dreifaltigkeit darge- stelll wurde. Hierzu auch: Gudrun RADLER, Die Schreinmadonna, „Vierge Ouvrante“, von den bernhardinischen Anfängen bis zur Frauenmystik im Deutschordensland, 1990. 37 Als Beispiel kann hier der Text „Concordantia Caritatis“ von Ulrich von Lilienfeld dienen. Die apokalyptische Gottesmutter als Propagandabild 153
Im obigen Text habe ich nur einige Beispiele von Mariendarstellungen er- wähnt, die in der Kunst des Deutschen Ordens verwendet wurden. Die Beschrän- kung des angeführten Materials sollte die Erörterung in der gegebenen kleinen Form ermöglichen. Hierbei ist die Schwierigkeit zu bedenken, den ursprünglichen Kontext der mittelalterlichen Werke aus den Gebieten des Deutschordenslandes angesichts der späteren stürmischen Geschichte klar zu bestimmen. Ich habe mich bemüht, unumstritten mit dem Orden verbundene Beispiele der vornehmlich in der apokalyptischen Ikonographie gegründeten Kunst auszuwählen, einer Kunst, die mit der in den Ordensschriften erkennbaren Kreuzzugsidee verbunden ist. Zusätz- lich wurde diese Aufgabe dadurch erschwert, dass die Gestaltung der Mariendar- stellungen, die an die Offenbarung des Johannes anknüpft, sich teilweise über- deckt mit dem im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts entstehenden ikonographi- schen Typ der Assumpta. Die Beispiele der Marienburger Kolossalfigur und der Schrcinmadonnen belegen die Richtigkeit der These von Jakubowska über die Komplizierung der inhaltlichen Dimensionen der Kunstwerke nach der großen Ordensreform der Jahre 1320 bis 1335, welche die Ordensgemeinschaft ideolo- gisch erneuern und die im Ostseeraum ausgeübte Herrschaft neu legitimieren sollte.38 Unbestritten spielte hierbei die hl. Jungfrau Maria eine bedeutende Rolle, verbunden mit dem allgemeinen Marienkult. Dieser kam in der Einführung neuer Marienfeste und Erhöhung ihrer Bedeutung zum Ausdruck, ebenso im Lesen der sog. kleinen Horen zu Ehren „Unserer Frau“, wie die sie Ordensritter in der Or- densregel festgeschrieben, was wiederum mit der Notwendigkeit der Schaffung von Antiphonen oder Hymnen verbunden war, die den Impuls für die Entwicklung der Marienikonographie in der bildenden Kunst auf diesen Gebieten geben muss- ten. Die Frage des Marienkultes im Deutschordensstaat verlangt noch weitere Forschungsarbeiten. 38 B. Jakubowska, Zlola brama w Malborku, Malbork 1989. 154 Ba rba ra Dyg da la- Klos inska
„knecht und frowe“ Ordensritterliche Marienverehrung in der illustrierten Apokalypse Heinrichs von Hesler Sabine Jagodzinski Einleitung1 2 Wenn man von Bildwerken der Marienverehrung im Deutschordensland spricht, denkt man zuallererst an monumentale Werke wie die Mosaikmadonna von der Marienburg oder Besonderheiten wie die Schreinmadonnen. Weniger im Blick liegen naturgemäß eher ordensintern genutzte Kleinkunst oder Werke der Buchmalerei. Aber gerade diese - zugleich Kunst- und Gebrauchsgegenstände - können aufschlussreich dafür sein, wie der Deutsche Orden in Preußen seine Spiri- tualität verstand und ausübte, was sich nicht zuletzt im Verhältnis zu seiner Patro- nin Maria offenbart. Eine Gruppe dreier illuminierter Codices der „Apokalypse“ Heinrichs von Hesler, die im 14. Jahrhundert im Kreis des Deutschen Ordens in Preußen entstan- den sind, zeigen die gezielte Textauswahl und darüber hinaus bildliche Anpassung durch den Deutschen Orden, die auch für den mariologisehen Aspekt bedeutsam ist.“ Heinrich von Hesler war ein thüringischer Ritter, aber kein Ordensmitglicd und hat die mittelhochdeutsche gereimte Apokalypse in 23254 Versen bereits zwischen 1260 und 1312 verfasst; der Text geriet also erst später in das Interesse des Deut- schen Ordens.3 Ein Exemplar mit der Signatur HB XIII 11, entstanden um 1325- 1350, befindet sich in der Württemberg!sehen Landesbibliothek Stuttgart; zwei weitere mit den Signaturen Rps. 64/III (um 1330-60) und Rps. 44/IV (nach 1370) werden in der Biblioteka Uniwersytetu Mikolaja Kopemika Toruri/Thorn verwahrt. 1 Für Anregungen danke ich Sabine Arend und Johanna Schäfer, Berlin. 2 Die Handschriften sind der Gegenstand meiner Magisterarbeit, die der Ausgangspunkt für diesen Beitrag war. Sie trägt den Titel: „Die illustrierte ,Apokalypse1 Heinrichs von Hesler im Deutschen Orden. Studien zum Verhältnis von Bild, Text und Kontext“ und wurde im Januar 2(X)7 am Kunstge- schichtlichen Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin bei Prof. Dr. Adam S. Labuda vorgelegt. 3 Nach historischen Hinweisen in Heinrichs Text selbst stammt sein Kommentar wohl von vor 1309. Vgl. auch Volker HONEMANN (Hg.), Heinrich von Hesler: Die Apokalypse - Königsberger Apo- kalypse. Mikrofiche-Edition der Handschriften Torun, Biblioteka Uniwersytetu Mikolaja Koperni- ka, ms. Rps. 64 und ms. Rps. 44. Einfühlung zum Werk und Beschreibung der Handschriften von Volker Honemann, München 2000, S. 9. In dem Aufsatz Volker HONEMANN, Regionalilät und Inlerregionalität am Beispiel der „Apokalypse“ des Heinrich von Hesler, in: Zeitschrift für deut- sche Philologie 122 (2003) (Sonderheft), S. 134-142, hier S. 134, plädiert der Autor für eine Datie- rung bald nach 1260. Die bis heule gültige Edition der „apokalipsis“ besorgte Karl Helm (Hg.): Die Apokalypse Heinrichs von Hesler. Aus der Danziger Handschrift. Berlin 1907. Er bezieht sich auf das Manuskript Gdansk/Danzig, Biblioteka Gdanska Polskiej Akadcmii Nauk (BGPAN), Ms. 2415 und gibt die Abweichungen zu den anderen Handschriften zumeist an. Mittlerweile findet man Hehns Edition auch digital im Internet auf den Seiten http://etext.lib.Virginia, edu/cgi- local/german/frames.pl?file=apk.xml; Zugriff 29.09.2006; sowie http://mhgta.uni-trier.de/ (dort im Katalog); Zugriff 29.09.2006. Trotz erfolgter Sichtung aller drei Originale zitiere ich für die besse- re Vergleichbarkeit alle Textstellen nach Helm. „knecht und frowe “ 155
Eine besondere Darstellung des Jüngsten Gerichts Die jüngere Thorner Handschrift (Rps. 44, fol. 175vab/176rab) weist eine Mi- niatur des Jüngsten Gerichts auf, die sich in dreieinhalb Registern über eine ganze Doppelseite erstreckt (vgl. oben, Dygdala-Klosihska, Die apokalyptische Gottes- mutter, Abb. 1 a und b). Sie ist von knappen Textfeldern unterbrochen, die von Adams Sündenfall sprechen, allerdings in der Bildfülle eher marginal wahrge- nommen werden.4 Im unteren Register ist eine Höllenszenerie angesiedelt. Darü- ber findet man die Auferstehenden. Links von ihnen vollzieht sich die eigentliche Gerichtsszene. In der Mitte thront der Weltenrichter in einer Mandorla, flankiert von Engeln, Maria und Johannes mit Erlösten und Verdammten. Abb. 2: Die Marienkrönung, Torun, BUMK, Rps. 44/IV, fol. 175vab Bis hierhin folgt die Szene den Darstellungskonventionen. Als Novum zeigt die oberste Bildzone eine Marienkrönung (Abb. 2), die zwar vom Aufbau her ebenfalls typisch, aber an dieser Stelle durchaus nicht üblich ist.5 Die Gekrönten Maria und Christus thronen vor einem Vorhang. Links und rechts erstrecken sich auf Höhe des Throns Rundbogenarkaden, unter welchen 4 Die Textpassage dazu lautet: „Wider sinen schepfer vorbost / Der in hat lediclich irlost / ... / „Des muste her an der erden / Werden des her nicht werden / Solde, totlich und starb / Wen her vleisch- lichen warb. / Wen her sich mit unkuslen / Des obzes liez gelüsten“ (V. 19909-19940). 5 Toni HERRMANN, Der Bildschmuck der Deutsch-Ordensapokalypsen Heinrichs von Hesler, Kö- nigsberg 1934, zugl. Königsberg, Univ., Diss., 1934, S. 67-69, die ebenfalls die Gestaltung der Tauf- und Schlachtenszenen als in dieser Form neu anführt. 156 Sabine Jagodzinski
sich Heilige und Selige befinden.6 Besondere Beachtung verdient die zweite Ar- kade von rechts. Hier hat im Vordergrund ein Deutschordensritter im weißen Kreuzmantel seinen Platz gefunden (Abb. 3). Abb. 3: Ein Deutschordensritter unter den Heiligen, Torun, BUMK, Rps. 44/IV, fol. 176rab Dass hinter dem Ordensritter u.a. ein schwarz gekleideter Mönch steht, könnte bedeuten, dass die Arkade den Orden insgesamt repräsentiert. Der visuelle Schwer- punkt liegt aber - der Ordenshierarchie nicht widersprechend - auf dem Ritterbru- der. Auch ohne Heiligenschein kommt ihm doch eine prominente Stellung zu. Durch seine Nähe zu den erwählten Heiligen und Märtyrern wird stellvertretend durch ihn sein Orden erhoben. Der Deutschordensritter vertritt mit seiner Position die - zweifellos bedeutsame und vom Auftraggeber gewünschte - Verherrlichung des Ritterordens.7 Im Zusammenhang mit dem Thema der Thorner Tagung, welche die Bildwerke der Marienverehrung ins Zentrum stellt, ist hingegen ein anderer Aspekt von größerer Bedeutung. Nicht zufällig hat man den Ritter zur Linken Ma- rias eingereiht, die sich noch dazu nach links wendet. So kommt er schräg unter der Himmelskönigin zu stehen und ist durch eine diagonale Blickachse mit ihr ver- bunden. Er befindet sich somit in ihrem Blickfeld, aber nicht auf ihrer Höhe. 6 Sie sind teilweise durch Attribute gekennzeichnet: ein Bischof, zwei Heilige mit Buch, Laurentius (Rost), ein Geistlicher mit Kelch und Hostie, Petrus (Schlüssel), Katharina (Rad), eine Heilige (Spindel), Magdalena (Salbgcfäß), ein König mit Zepter. 7 Die Selbstauffassung als „neue Ritterschaft“, die an die himmlischen Streiter der Apokalypse anknüpft, ist bereits in den Statuten verankert. Max PERLBACH (Hg.), Die Statuten des Deutschen Ordens nach den ältesten Handschriften. Halle/Saale 1890, S. 24. „knecht und frowe“ 157
Diese Konstellation - so die hier vertretene These - verkörpert bildlich das zu vermittelnde Verhältnis zwischen den Ordensrittern und der Gottesmutter als eine Form der höfischen Minne. Die Relevanz dieser Problematik ergibt sich aus der adlig-höfischen Herkunft vieler Deutschordensritter, die die Apokalypsehand- schrift rezipierten.8 Die höfische Minne des hohen Mittelalters Wenn man auch nicht eine einzig gültige Definition für die höfische Liebe auf- stellen kann, so gibt es doch einige grundsätzlich bestimmende Merkmale. Die Minne zeichnet sich vor allem durch den Dienst des Mannes an der Frau aus. Für seine „Herrin“ vollbringt er bestimmte Leistungen, um ihrer Zuneigung würdig zu werden. Diese Werke können sowohl in Ruhmesliedern als auch in Waffentaten bestehen. Der höhere Rang der Frau wird zumeist durch den höheren Grad höfi- scher Tugendhaftigkeit bestimmt. Als höchste und reinste Form hat sich die Vor- stellung von der sexuell unerfüllten Liebe (amor purus) durchgesetzt, obwohl sie in der höfischen Literatur weniger oft vorkommt als die erfüllte Liebesbeziehung (amor mixtus)9 Erstere entsteht aus der erzieherisch auf den Mann einwirkenden Unnahbarkeit der Dame. Trotz vieler Variablen in der Entwicklung des mittelal- terlichen Minnekonzepts beobachtet Horst Wenzel darin zwei Konstanten: zum ersten die Erhöhung der Frau und zum zweiten die sittliche Läuterung des Man- nes.10 Dies sind - wie sich zeigen wird - auch die Fixpunkte der hier zur Diskus- sion stehenden Beziehung. Die höfischen Minnetypen sind nicht zu verwechseln mit dem Unterschied zwischen Weltliebe und Gottesliebe.11 Aber sowohl die Gottesliebe als auch die 8 In der mittelalterlichen Gesellschaft muss man begrifflich zwischen der Standesbezeichnung „ritterlich“, etwa als Gegensatz zu Bauer, und dem Terminus „höfisch“, der sich aul Bildung, Erziehung und Verhalten bezieht, unterscheiden. Wenngleich daher nicht jeder Ritter höfisch war, so war doch ein guter Teil der Mitglieder des Deutschrilterordens mit dem höfischen Leben zu- mindest vertraut. Die Hochmeister des Ordens etwa und andere höheren Amtsinhaber führten durchaus ein höfisches Leben. Jaroslaw WENTA, Studien über die Ordcnsgeschichtsschreibung am Beispiel Preußens. Torun 2000, S. 159. Vgl. auch PERLBACH 1890 (wie Anm. 7), S. 90-108. Ab der Mitte des 13. Jahrhunderts wurde neben Jugend und Gesundheit zunehmend adlige Geburt Voraussetzung für die Aufnahme in den Orden, um die Kriegserfahrenheil zu sichern. Klaus Mn.1'1 ZER, Die Aufnahme von Ritterbrüdern in den Deutschen Orden. Ausbildungsstand und Auf- nahmevorausselzungen, in: Zenon Hubert Nowak (Hg.), Das Kriegswesen der Ritterorden im Mit- telalter. Torun 1991, S. 7-17, hier: S. 8. Die Frage nach höfischen Tendenzen hat für die drei im Deutschen Orden entstanden illustrierten Apokalypse-Handschriften bislang nur Alicja Karlows- ka-Kamzowa gestellt. Vgl. Alicja Karlowska-Kamzowa, llustrowane Apokalipsy krzyzackie z XIV w [Die illustrierten Kreuzritterapokalypsen des 14. Jahrhunderts], in: Danuta Murawska (Red.), Studia o Dzialalnosci i zbiorach Biblioteki Uniwersytetu Mikolaja Kopernika. Cz^sc VI. Toruri 1991, S. 79-135. Analogien der Kunst des Deutschen Ordens zu höfischen Bildstiftungen bereits in Alicja KARLOWSKA-KAMZOWA, Bildidcologie des Deutschen Ordens auf dem Hinter- grund der mitlelosteuropäischen Kunst, in: Zenon Hubert Nowak (Hg.): Die Rolle der Ritterorden in der mittelalterlichen Kultur. Toruri 1985, S. 199-205. 9 Joachim BUMKE, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. 9. Auflage, München 1999, S. 507-515. 10 Horst WENZEL, Frauendicnsl und Gottesdienst. Studien zur Minne-Ideologie. Berlin 1974, S. 15. 11 Wellliebe meint die sinnliche, fleischliche Liebe und leitet sich von cupiditas her, was wörtlich Sinnenlust bedeutet. Gollesliebe ist aus caritas abgeleitet, was wörtlich zwar Nächstenliebe, aber auch Hochachtung heißt, also eine reine, geistig-religiöse Liebe bezeichnet. Für diese beiden Be- 158 Sabine Jagodzinski
hohe Minne zeichnen sich in erster Linie durch Affektkontrollc, Triebregulierung und damit tugendhaftes höfisches Verhalten aus. Dazu gehört u.a. auch, dass ein Mann nur eine Frau gleichzeitig lieben soll.12 Laiendichter und Verfasser von Kreuzzugslyrik versuchen im 12. Jahrhundert, den weltlich-geistlichen Kontrast zu entschärfen und höfische Dienstliebe mit religiöser Gottesliebe zu vereinen.13 Waffen- und Ruhmestaten für die himmlische Herrin Obwohl Heinrich von Hesler eine Marienkrönung mit keinem Wort in seiner Apokalypse erwähnt, besetzt sie innerhalb der multiplen Gerichtsszene eine expo- nierte Stellung. Dies leuchtet zunächst allein aufgrund der Auftraggeberschaft des Deutschen Ordens ein. Als Ordenspatronin genoss Maria eine besondere Vereh- rung und dementsprechend eine hohe Präsenz in seiner bildenden Kunst. Beson- ders die Ikonographie der Himmelskönigin war außerordentlich beliebt.14 Sie eignete sich nach dem Eindringen des Ordens im Preußenland besonders dafür, das Ordenspatronat auf ein Patronat Marias über das Land als Terra sanctae Ma- riae auszuweiten. Maria wurde in den Bildwerken somit als gekrönte Herrscherin des Deutschordenslandes eingesetzt. Diese Bestrebungen kamen gegen 1325 auf.15 Für das Verhältnis von Ordensrittern und Gottesmutter hatte dies die bedeutsame Folge, dass die Ritter sich als Vasallen ihrer himmlischen Landesfürstin betrach- ten konnten, deren Lehen sie zu verteidigen hatten. Marian Dygo zitiert dazu einen an Maria gerichteten Vers des Hochmeisters Albrecht von Brandenburg: „Du bist Irawe und ich der knecht, / dein lieber son der herre mein“.16 Der Vers stammt aus der Zeit um 1523, aber bereits Ende des 13. Jahrhunderts setzte sich dieser Ge- danke eines feudal terminierten Verhältnisses durch. Dies spiegelt sich auch in der zugleich emporgehobenen und untergeordneten Position des Ordensritters zu der mit Christus herrschenden Maria. Die Waffentaten im vermeintlichen feudalen Dienst für die Gottesmutter wur- den im direkten Kampf gegen die Ungläubigen ausgefochten. Sic verbanden sich dort mit einer geistlichen Dimension, denn in Kampf und Tod auf dem Schlacht- feld wähnten die Ordensritter, in den Stand eines Märtyrers aufzusteigen. Dies griffe nutzte man oft zugespitzt das Gegensatzpaar Weltliebe vs. Goltesliebe. Vgl. BUMKE 1999 (wie Anm. 9), S. 516/517. 12 BUMKE 1999 (wie Anm. 9), S. 517-520. 13 Z.B. Albrecht von Johansdorf, BUMKE 1999 (wie Anm. 9), S. 518. Vgl. dazu auch WENZEL 1974 (wie Anm. 10). Allerdings gibt es nur selten das Phänomen wie im Kreuzlied „Ich var mit iuweren hulden“ Hartmanns von Aue, dass der Sänger sich zum Lehnsmann der Minne auf der bahrt ins Heilige Land stilisiert. Frau Minne erweist sich übrigens im Laufe des Liedes als christliche Liebe. Ingrid KASTEN, Frauendienst bei Trobadors und Minnesängern im 12. Jahrhundert. Zur Entwick- lung und Adaption eines literarischen Konzepts. Heidelberg 1986, S. 293. 14 Isabcll 1MMEL, Zu den Illustrationen der Deutschordens-Apokalypsen des Heinrich von Hesler, in: Cahiers archeologiques 48 (2000), S. 125-145, hier S. 140. Neben den bereits eingangs erwähnen Schreinmadonnen und der mosaizierten Marienfigur von der Marienburg denke man beispielswei- se an das Marienkrönungsportal der dortigen Annenkapelle. Die übermäßige Gewichtung auf Dar- stellungen Marias als Himmelskönigin bzw. Gekrönte stellt Marian Dygo unter Verweis auf eine Marienkrönung im großen Refektorium im MitteLschloss der Marienburg fest. Marian Dygo, The political role of the cult of the Virgin Mary in Teutonic Prussia in the löurteenth and the fiftcenth centuries, in: Journal of medieval history, 15, H. 1 (1989), S. 63-81, hier S. 65. 15 Dygo 1989 (wie Anm. 14), S. 66. 16 Dygo 1989 (wie Anm. 14), S. 64. „knecht und fr owe “ 159
eignete sich als Legitimation, in der Miniatur einen Platz inmitten der Heiligen einzunehmen.17 Mit dem in der Miniatur deutlich zur Schau gestellten Kreuzsym- bol (vgl. Abb. 3) gingen sie aber noch einen wesentlichen Schritt weiter. Die Or- densritter hielten sich nicht nur für prädestiniert, den Heiligen kämpfend nachzuei- fern, sondern strebten eine Christusnachfolge - in Martyrium und Herrschaft - an.18 Die Ruhmestaten für die himmlische Herrin mussten - wie für eine irdische Herrin - verkündet werden, um ihre Huld zu sichern. Ähnlich scheint der Ordens- ritter in der Miniatur Maria gleichsam Bericht zu erstatten. Die Verbreitung äußer- te sich im Deutschen Orden zwar nicht vornehmlich in Ruhmes/Weru, wohl aber in rühmenden Berichten - nämlich denen der frühen Ordenschroniken.19 Indem sie das wunderbare Eingreifen Marias auf Seiten des Deutschen Ordens in seinen Schlachten preisen20, stellen sie die den Rittern erwiesene Gnade heraus. Die hei- lige Jungfrau tritt in den Chroniken als die Dame auf, die der christliche Ritter als Objekt der Devotion verehrt und die ihm aufgrund seiner Taten auf dem Schlacht- feld Anerkennung verleiht. Damit funktioniert sie als Gegenpart zur höfischen Minne.21 Die Tugend der „frouwe“ In der illustrierten Apokalypse Heinrichs von Hesler resultiert die Verehrung Marias durch den Orden allerdings nicht nur aus ihrer wohlwollenden Herrschaft. Auch wenn Heinrich die Marienkrönung nicht erwähnt, so zieht sich doch aus- drücklich, fast leitmotivisch durch seinen Text, dass Maria eine äußerst bedeu- tungsvolle Rolle im Heilsplan Gottes spielt. Ihre Tugendhaftigkeit ist das ent- scheidende Stichwort für ihre erhöhte Darstellung und die minnende Verehrung durch die Ritter. So betont Heinrich bereits zu Beginn des Kommentars die Geburt aus der jungfräulichen Mutter als eines der für die Christenheit wichtigsten Ereig- 17 Nach der im Orden herrschenden Meinung wurden die im Krieg Gefallenen sofort erlöst. Die unter anderen Umständen zu Tode Gekommenen mussten als gewöhnliche Märtyrer auf den Jüngsten Tag warten. Stefan KWIATKOWSKI, Auf der Suche nach den moralischen Grundlagen des Deut- schen Ordens in Preußen, in: Roman Czaja, Jürgen Sarnowsky (Hg.), Selbstbild und Sclbslver- ständnis der geistlichen Ritterorden, Torun 2005, S. 155-179, hier S. 160. 18 Gabriela WlECHERT, Die Spiritualität des Deutschen Ordens in seiner mittelalterlichen Regel, in: Zenon Hubert Nowak (Hg.): Die Spiritualität der Ritterorden im Mittelalter, Torun 1993, S. 131- 146, hier S. 138. Ihre Selbstapotheose führte so weit, sich nicht nur als Marienrilter, sondern sogar als Söhne der Gottesmutter zu betrachten und bezeichnen. Marian DYGO, Mnich i rycerz. Ideologiczne modele postaw w zakonie krzyzackim w Prusach w XIV-XV wieku 1 Mönch und Ritter. Ideologische Einstellungen im Kreuzritterorden in Preußen im 14.-15. Jahrhundert], in: Zapiski historyczne, H. 4, Bd. 55 (1990), S. 7-19, hier S. 11/12. Vgl. auch DYGO 1989 (wie Anm. 14) und Jerzy DOMASLOWSKI, Malerei im Deutschordensland Preußen, in: Udo Arnold (Hg.): Ordo Teuto- nicus Sanctae Mariae in Jerusalem. Deutscher Orden 1190-1990. Institut Nordostdeutsches Kultur- werk, Lüneburg 1997, S. 131-170, hierbes. S. 132. 19 Hier wäre besonders die lateinische „Chronik des Preußenlandes“ Peters von Dusburg (um 1326), zu nennen, die um 1340 eine mittelhochdeutsche Übersetzung und Erweiterung durch Nikolaus von Jeroschin erfuhr. Petrus de DUSBURG, Chronicon terrae Prussiae (Peter von Dusburg, Chronik des Preußenlandes.], übers, und cii. von Klaus Scholz und Dieter Wojtecki, Darmstadt 1984. 20 Dygo 1989 (wie Anm. 14), S. 67. Vgl. auch DYGO 1990 (wie Anm. 18). 21 Mary FISCHER, Biblical Heroes and the Uses of Literalure: The Teulonic Order in the late Thir- teenlh an Early Fourteenlh Centuries, in: Alan V. Murray (Hg.), Crusade and Conversion on the Baltic Frontier 1150-1500, Burlington 2001, S. 261-275, hier: S. 273. 160 Sabine Jagodzinski
nisse im Erlösungswerk. Er bemüht dafür den Vergleich vom zugleich verschlos- senen und geöffneten Schloss, welches der Christenheit zu Freude und Heil die- ne.2“ Im Zusammenhang mit dem Sündenfall Adams, den Heinrich immer wieder zur Sprache bringt, wiegt Marias segensreiches Mittun im Heilsplan besonders schwer. Schließlich hatte er das Jüngste Gericht erst notwendig gemacht. Die Schwerpunktsetzung des Kommentars bestimmt also die Richtung für die Verehrung der allein würdigen Frau und Mittlerin zwischen Gott und den Men- schen. In der bildlichen Kombination von Marienkrönung, Jüngstem Gericht und Ordensritter tritt dies vor Augen. Höfische Tugend und höfisches Wissen Die Marienkrönung zeigt mit ihren Aspekten einen bildlichen Höhepunkt der Minnebeziehung. Dieser wird jedoch durch zwei andere Miniaturen sorgsam vor- bereitet und das Minnekonzept mit ihrer Hilfe vervollständigt. Die erste ist die Darstellung der Apokalyptischen Frau mit dem Drachen (Offb. 12,3). In der Stuttgarter Handschrift wurde die Szene zwar dem biblischen Wort- laut entsprechend, aber sehr gedrängt ausgeführt, weil sic in die Bildseite einge- bunden werden musste (Abb. 4). Vor blauem Grund steht die mit zwölf Sternen bekrönte Apokalyptische Frau auf dem Mond und hält vor sich die Sonne. Sic blickt nach links, wo gerade der Engel ihr Kind entgegennimmt. Direkt darunter richten sich die sieben Köpfe des Drachen auf sie. In Thorn dagegen hat man ein über beide Spalten und fast eine halbe Seite rei- chendes Querformat gewählt und die Szene gespiegelt (Abb. 5). Der gelbe Hinter- grund kontrastiert zum Rot und Blau der Figuren. In der älteren Thorner Hand- schrift, wo die Szene bedauerlicherweise ausgeschnitten ist, trat sic noch prächti- ger mit Goldgrund vor Augen. Der rote Drache erstreckt sich hier breit über das ganze Bild und die Apokalyptische Frau schwebt fast mittig in der Szene. Durch die Spiegelung tritt die Kontrastwirkung von Gut und Böse, Engel und Drache, Christus und Satan deutlicher hervor und betont die Miltlcrposilion der Apokalyp- tischen Frau. Heinrich von Hesler erklärt ihre Identität mit Maria und benutzt diese traditionelle Auslegung, um noch einmal auf Marias Reinheit, ihren unbe- rührten Leib als größtes Zeichen Gottes hinzuweisen.22 23 Die Geburtsszcnc unter Bedrohung durch den Drachen verweist bereits auf ein weiteres Verdienst Marias. Sie nimmt ihr Mitlcidcn beim Kreuzestod Christi vor- weg.24 In der Tatsache, dass sic dies alles freiwillig und demütig auf sich nimmt, zeigt sich am stärksten die Größe der Heiligen Jungfrau. In der verknüpften Be- deutung beider Maricnszcncn - die der Apokalyptischen Frau als Anfangs- und 22 „Der entsloz duz sloz der inegedc, / da daz ungerurie legede / Von swanger war und (Joies genas; / ... / Also bleib sin gotheit unzuvurt / Und ir magetuem ungerurt“ (V. 5471-5478). „Doch nuigc wirs immer vor sin / Daz die tor wart ie enlsluzz.cn, / Wenne wir iz vil haben genozzen.“ (V. 5492- 5494). Und: „.Du crisienhcil, zu diner kur / Gab ich (iol die ein ulTcn lur, / Die nimmer wirt be- slozzen.'“ (V. 5499-5501). 23 „Und waz. ein daz. grozte /.eichen / (Waz louc lange/ ummesleichen?) / Daz ie zur wcrlde ine geschach, / Daz. ein maget uns art zubrach / Und ungerurt kini gebar, / Wen daz Got mac machen gar /Alles daz. daz her gebutei. / Diz. grozc /.eichen bedulet / Den unbewollenen lip / Unser vrou- wen, die wol wip / Des heiligen geistes waz.“ (V. 16549-16559). 24 „Die marier leit sic lougen, / Wen sie wol vor wiste / Den lot von Jhesu Crisle.“ (V. 16976-16978) und: „Als Symcon drabc sprah: / ,Ein swert durch dine selc vert';“ (V. 16994/16995). „knecht undfrowe“ 161
der Marienkrönung als Endpunkt - wird das ganze Ausmaß ihres Tugendwerks und die damit erworbene Apotheose zum Ausdruck gebracht. Abb. 4: Die dritte Bildseite. Stuttgart, WLB, HB XII111, fol. 141v, Foto: Sabine Jagodzinski, mit freundl. Genehmigung der Württembergischen Landesbibliothek (WLB) Stuttgart, Handschriftenabteilung 162 Sabine Jagodzinski
Abb. 5: Die Apokalyptische Frau und der Drache, Toruh, BUMK, Rps. 44/IV, fol. 154rab Die einzelnen Tugenden Marias zählt Heinrich von Hesler im Zusammenhang mit der zwölfsternigen Krone auf. Er nennt die - bezeichnenderweise als „vro- wen“ personifizierten - Tugenden Weisheit (wisheit), Gerechtigkeit (gerechtikeit), Liebe (minne), Barmherzigkeit (irbarmen), Freigebigkeit (milde), Aufrichtigkeit (truwe), Wahrheit (warheit), Vorsicht (vorbesicht), Demut (otmutikeit), Geduld (gedult), Mäßigung (temperunge) und Sieg (sigenumft).25 Jeder Stern ist mit einer Tugend verknüpft und wird als Richtschnur für die Christenheit in ausführlicher Weise erläutert (V. 16599-16831).26 Dieser Tugendkanon harmoniert auffällig mit dem Kanon der zwölf höfischen Tugenden. Das belegt u.a der „Jüngere Titurel“ Albrechts von Scharfenberg (um 1260-1275), der fast die gleiche, d.h. nur in vier Fällen abweichende Auswahl an „Tugendblumen“ präsentiert.27 Die hier vorliegende Verflechtung von mittelalterlichen christlichen und höfi- schen Tugenden, die nicht zuletzt aufgrund von Dichtern aus dem Ritterstand wie 25 V. 16644-16797. 26 „Wen swer die cronen an gesiet / Und ir gedute mirket / Und rechte dar nach wirket, / Die Got treit Jhesus Crist, / Der ist genesen swer der ist / Rech in den ewigen lib.“ (V. 16826-16831). 27 Der „Jüngere Titurel“ nennt: Tapferkeit (beide), Reinheit (kusche), Freigebigkeit (milt), Aufrich- tigkeit (triwe), Mäßigung (maz), Fürsorge (sorge), Schamhaftigkeit (schäm), Klugheit (beschei- den), Beständigkeit (slicte), Demut (diemüte), Geduld (gedulde) und Liebe (minne). Albrecht von SCHARFENBERG, Jüngerer Titurel. Bd. 1 (Strophe 1-1957). Nach den ältesten und besten Hand- schriften kritisch hg. von Werner Wolf, Berlin 1955, Str. 1911-1925, S. 485-488. „knecht undfrowe" 163
Heinrich von Hesler zustande gekommen ist, führt die enge Verzahnung der Le- bcnswelten vor Augen.28 Noch stärker als der „Jüngere Titurcl“ zeigen diesen Umstand zwei weitere Hauptwerke der höfischen Literatur. Dort ist bei der Schilderung der Protagonistin die Apokalyptische Frau latent gegenwärtig. Das stärkt die Verbindungslinien zwischen der Thorner Miniatur der Apokalyptischen Frau und der höfischen Kul- tur und legitimiert außerdem die Gleichsetzung von Maria mit der Apokalypti- schen Gottesmutter und ihre Eignung als Minncobjckt für die Deutschordensritter. Als erster Beleg diene der „Parzival“ Wolframs von Eschenbach (um 1200- 1210). In einer Szene träumt die Königin Hcrzcloydc vorausahnend den Tod ihres Gemahls Gahmurct und das Schicksal des gemeinsamen ungeborenen Sohns, des ritterlichen Helden Parzival. In diesem Traum wird sic von bösen Himmelszcichen heimgesucht und während der Geburt von einem Drachen bedroht.29 Hier geht ein apokalyptisches Bild im frühen 13. Jahrhundert in den Bilderschatz der höfischen Epik ein und erscheint in der vorliegenden Apokalypseminiatur erneut im bibli- schen Kontext, aber vor der Folie des höfisch tradierten Wissens. Im zweiten Fall, dem „Tristan“ Gottfrieds von Straßburg (um 1210) geht es um die Passage, welche Tristan und Isolde in der Minnegrotte beschreibt. Die beiden Liebenden werden von einem Jäger König Markes beobachtet. Tristan erscheint ihm als gewöhnlicher Mann, Isolde aber als strahlende Frau, wie „eine Göttin“ und „schöner als eine Fee“/0 Nicht nur, dass die Grotte nach der Symbo- lik des christlichen Gotteshauses gestaltet wird, auch Isolde wird mariengleich verherrlicht. Alois Wolf führt diesen gerichteten Blick auf das starke Schaube- dürfnis im Mittelalter zurück und betont, dass immer bei der „Fixierung auf die Frau als strahlendes Bild, Venus/Maria, |... ] auch die Vorstellung von der son- neumkleideten Frau der Apokalypse mitzubedenken ist - immerhin ein Text, dem das Mittelalter besondere Aufmerksamkeit widmete 28 Vgl. zu dem bewussten didaktischen Prinzip besonders der Lehrdichtung, die adlige Lebensweise an das christliche Ethos anzunähern: WliNZI-L 1974 (wie Anm. 10). 29 Pur den Hinweis auf Wolframs „Parzival“ danke ich Herrn Prof. Dr. Horst Wenzel, Berlin. Die Szene wird hier in neuhochdeutscher Übertragung wiedergegeben: ..Die brau um einen mitten Tag / In ängstlichem Schlafe lag. / Plötzlich schreckte sie empor, / Als ob ein Blitz, so kams ihr vor, / In die Lulle sie entführte, / Wo sie mit Schlägen rührte / Mancher feurge Donncrstral. / Ringsher flogen sic zumal / Nach ihr: mit Knistern sengte Glut / Ihres langen Haares Flut. / Der Donner mit Gekrach erscholl, / Sein Guß von heißen Zähren schwoll. / Als sie Besinnung wieder fand / Griff ihr ein Greif die rechte Hand. / Das Bild mit Eins verwandelt sich / Da sah sie Dinge wunderlich: / Wie sic mit einem Wurme kreiße, / Der ihr den Mutterschoß zerreiße, / Ihr ein Drach die Brüste söge, / Lind dann plötzlich von ihr flöge, / Daß sic ihn nimmer wiedersah. / Das Herz im Leibe brach ihr da.“ Wolfram von ESCHI-NBACII, Parzival. Übers, v. Karl Simrock. Die Bibliothek der Weltliteratur, S. 79063 (vgl. Wolfram-Parzifal Bd. 1, S. 141-142) http://www.digitale-bibliothck. de/ band89.htm. 30 „Wan in dühte an dem wi'bc, / daz nie von wibcs libe / kein crcatiurc als uz erkorn / ze dirrc werkle würde geborn.“ (V. 17441-17444) und er berichtet Marke: „ja herrc, da ist inne /ein man und ein gotinnc. |...| / der man ist alse ein ander man. / min zwivel ist aber dar an, / sin geslafc da bi / daz der ein menschc si. / der ist schoener dannc ein feine. / von vleischc noch von beinc / enkunde niht gewerden / so schocncs üf der erden.“ (V. 17469-17480). Gottfried von STRASSBURG, Tristan. Mittclhochdculsch/Neuhochdculsch. hg. von Rüdiger Krohn. 2 Bde. 7. Auflage, Stuttgart 2002. 31 Alois Woit, Das Faszinosum der mittelalterlichen Minne, Freiburg/ Schweiz 1996, S. 20. 164 Sabine Jcitfodzinski
Der Kampf für Maria und die Christenheit Direkt nach der in den Thorner Handschriften eingefügten Miniatur der Frau mit dem Drachen schildert Heinrich ausführlich das nächste Zeichen der Offenba- rung - den Kampf Michaels gegen den Drachen (Abb. 6).32 33 Die Identifikation der irdischen Ritter mit dem himmlischen Kämpfer Michael und seinen Truppen liegt nahe. Die angestrebte Parallele wird im weiteren Verlauf des Miniaturenzyklus, insbesondere mittels der auf den Deutschen Orden hin modifizierten biblischen Kampfszenen bestätigt, indem ein himmlisch-irdisches Ordensheer gegen die Völker Gog und Magog kämpft (Abb. 7, vgl. oben, Beitrag Barbara Dygdaia- Klosinska , Die apokalyptische Gottesmutter als Propagandabild, Abb. 2). p. :ät fcc Jill «c «tl w 511 »tl T« t.: fit |Dt ♦t Dt Abb. 6: Der Kampf Michaels und der Engel gegen die Teufel, Toruh, BUMK, Rps. 44/1V, fol. 156vab Im Text ist sogar die Möglichkeit angelegt, die Gegnerschaft auf die aktuellen Verhältnisse zu übertragen. Heinrich deutet nämlich die sieben Kopie des Drachen als sieben nichtchristliche Weltreiche.” Die Analogie zu den heidnischen Pruzzen und Livländern, die zu bekämpfen sich der Orden in der Terra xanctae Mariae zum Ziel gesetzt hatte, ist somit rasch hergeslellt. Zudem wird der „dritte Teil der 32 V. 17004-17185. 33 „Uf diese siben houbei / Hal er gesazi durch honen / Also mangige cronen. / Diz dunkel sich wol glichen / Den siben konicrichen / Die dieser werlde walden / Und in den handen halden / Und wi- der die zen geboi streben / Die der crislenheil hai Goi gegeben.“ (V. 17050-17058). „ knecht und frowe “ 165
Sterne“, die der Drache mit sich in den Untergang reißt, als „falsche Christen, Juden und Heiden“ erläutert.34 Ebenso bot sich besonders der siegreiche Ausgang der Auseinandersetzung mit der Rettung des Christuskindes an, von den Deutschordensrittern angeeignet zu werden. Denn Christi Zukunft wird beschicden als eine Herrschaft mit „yserinen geilen“ (V. 17116) also mit „eisernem Zepter“, was die Ordensherren wohl nur allzu gern für sich übernommen haben. Die nach Wenzel das Minnckonzept aus- zeichnendc sittliche Läuterung des Mannes tritt hier also in einem anderen Ge- wand auf. Die kriegerischen Triebkräfte des Ritters werden nicht gezügelt, son- dern auf das vermeintlich Gute - den Heidenkampf - hin kanalisiert. Der Gut- Böse-Gegcnsatz findet auch bildlich seinen Ausdruck in der Gegenüberstellung der Heere. Der Deutschordensritter, der das Geschilderte durch die wechselseitige Rezep- tion des Textes und der spezifischen Miniaturen reflektierte, erkannte die ihm zukommende Aufgabe: Um das Leid der Jungfrau zu vermindern und ihrer Tu- gend die gebührende Anerkennung zu zollen, kämpfte der Ritter für seine angebe- tctc „frouwe“ Maria. Minnesangkultur und Hohe Minne Bislang noch nicht zutage getreten ist der ausschließliche Bezug von Ritter und Maria als Mann und Frau, als tatsächliches Paar. Man könnte dies auf den ersten Blick auf die mönchische Regel des Ordens zurückführen, die eine solche Darstellung nicht förderlich erscheinen ließe.35 Aus ähnlichen Gründen sind etwa die anstößige Szene der Babylonischen Hure und auf der positiven Seite die Hoch- zeit des Lammes ausgelassen worden.36 Dem widerspricht jedoch die letzte Miniatur, die im Zusammenhang mit dem Minnckonzept vorzustellcn ist. Sie existiert nur in den beiden Thorncr Codices.37 Die Darstellung (Abb. 8) - diesmal aus der älteren Handschrift (Rps. 64, fol. 1 17rb) - geht im zeitlichen Ablauf der Drachenszcnc unmittelbar voran. Sie erfasst den Moment, in dem Johannes die Apokalyptische Frau erstmals erblickt (Offb. 12,1). Der Visionär sitzt links unten auf einer Bank und blickt erstaunt auf, wobei er das Gesicht mit dem Arm beschirmt. Die Apokalyptische Frau scheint, von golde- nem Licht umflossen, direkt vor ihm hinaufzuschweben. Dies wird durch die leichte Schrägneigung und das hochrechteckigc Bildformat verstärkt. Sie blickt frontal den Betrachter an und scheint weder Johannes, noch den sich herabbeugenden Engel zu beachten. Hingegen lenken diese beiden ihre eigene und die Aufmerksamkeit des Betrachters mittels ihrer Blicke auf die Apokalyptische Maria. 34 „Wen her mit sime zagele / Zoch in sin ewic unheil / Des himclcs daz dritte teil. / Dise dru teil sint die leiden, / Valsche cristen, Juden, beiden.“ (V. 17062-17066). 35 So gab es etwa neben dem üblichen Keuschhcitsgebol die Vorsehrifl, dass die Ordensritter keinen körperlichen Kontakt selbst zu weiblichen Verwandten haben sollten und die dienenden Halb- schwestern ihre Wohnung außerhalb der Brüderwohnstätlcn nehmen mussten. PERLBACH 1890 (wie Anm. 7), S. 50, 52. 36 Bereits Heinrich verzichtet bewusst auf die Szene, indem er die Kapitel 13-20 nicht bringt, Schil- den aber die Hochzeit des Lammes in der Beschreibung des Himmlischen Jerusalems. 37 Die beiden Thorncr Apokalypsen zeigen generell die Tendenz, einige in Stuttgart knapper formulierte Inhalte zu intensivieren, was mehrere zusätzliche Miniaturen bzw. Details hcrvorbrachte. 166 Sabine Jagodzinski
Abb. 8: Johannes schaut die Apokalyptische Frau, Torun, BUMK, Rps. 64/III, fol. 117rb, siehe Farbtafel 14 Zum vollen Verständnis der Szene und der hier vorgestellten These ist an die- ser Stelle ein kurzer Exkurs nötig. Man muss wissen, dass Johannes in den An- fangsszenen der drei untersuchten Apokalypsehandschriften durch verschiedene Strategien in der bildlichen Darstellung als Identifikationsfigur für den Rezipien- ten eingeführt wird - und zwar gerade für den speziellen Rezipienten im Deut- schen Orden. Zu dem fortgeschrittenen Zeitpunkt der Lektüre, da dieser die vor- liegende Miniatur betrachtet, hat er die Verbindungslinien bereits verinnerlicht. Auf diese Weise erkennt der Ordensritter sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in Johannes wieder. Der hier zur Anschauung kommende Bildtypus, der den Seher Johannes mit seiner göttlichen Vision zusammen in einem Bildfeld zeigt38, ignoriert das Visi- onshafte der Szene. Damit wird bis zu einem gewissen Grad auch die Hierarchie der Figuren aufgehoben. Die Beziehung zwischen ihnen wirkt real. Diese Darstel- lungsart erinnert an ähnliche Kompositionen aus der Minnesangkultur. Das zeigen exemplarisch drei Miniaturen von Minnesängern aus der bekannten Großen Hei- delberger Liederhandschrift (Codex Manesse, UB Heidelberg, Cod. Pal. Germ. 848), die um 1300 entstanden ist (Abb. 9-11). 38 Ich bezeichne ihn analog zur Erzähltheorie als intradiegelisch, im Kontrast zu den ebenfalls in den Handschriften vorkommenden extradiegelischen und helerodiegetischen Typen. „knecht und frowe“ 167
Abb. 9: Walter von der Vogelweide. Heidelberg, UB, Cod. Pal. Germ. 848, fol. 124r, http://digi.ub.uni- heidelberg.de/diglit/ cpg848/ (digitale Handschriften), Zugriff 20.05.2007 Abb. 10: Gottfried von Neifen. Heidel- berg, UB, Cod. Pal. Germ. 848, fol. 32v, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ cpg848/ (digitale Handschriften), Zugriff 20.05.2007 168 Sabine Jagodzinski
Abb. 11: Der Schenke von Limburg. Heidelberg, UB, Cod. Pal. Germ. 848, fol. 82v, http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ cpg848/ (digitale Handschriften), Zugriff 20.05.2007 Die kompositionelle Beziehung zwischen Sänger und „frouwe“ korrespondiert mit der des jungen Helden Johannes und der heiligen Jungfrau. Dies wurde sicher auch im Gedächtnis des höfischen Ordensritters aufgerufen und veranschaulicht seine innige Hinwendung zu Maria. Der letzte Abstand bleibt jedoch gewahrt, was von der senkrechten Bildmittelachse herrührt, die Johannes und Maria in der Visi- onsszene nicht überschreiten. Auch die schon erwähnte Blickführung trägt dazu bei. Es kommt also kein zweiseitiger Kontakt zustande. Nachdem ihre blendende Schönheit sein seelisches Verlangen ausgclöst hat, scheint die vom Mann angestreb- te Zuwendung der Frau bewusst unerfüllt zu bleiben - analog zur ideellen Erhöhung der unerfüllten höfischen Liebe. Sie veranlasst den jungen Helden zu weiteren 1 aten und führt seine Läuterung weiter. Zugleich drückt die Reduktion auf die beiden Protagonisten das höfische Ideal aus, dass der Ritter nur einer einzigen Frau seine Zuwendung bezeugen solle. Verschmelzung von höfischer Dienstliebe und religiöser Gottesliebe Die Gottesliebe39 kann in den gezeigten Marienminiaturcn also glaubwürdig mit höfischer Dienstliebe verbunden werden. Für den Ordensritter ist höchstes und einziges Objekt seiner Minne die Jungfrau Maria. Insofern harmonieren die Minne und ihre Nicht-Erfüllung mit dem mönchischen Keuschheitsgebot. Dies musste für das Ordensmitglied - das die Synthese von Mönchtum und Rittertum zu bewälti- gen suchte - von erheblicher Bedeutung sein.40 39 Denn wenn die Staunen des Deutschen Ordens davon sprechen, dass die Minne „ein gruntvesle geistliche|n] lebene“ sei, die „sterket unde tröstet“ dann meint dies in erster Linie die Liebe z.u Goll. Perlbacü 1890 (wie Anm. 7), S. 75. 40 Inwieweit es tatsächlich zu einer solchen Synthese kam, kann hier nicht erörtert werden, ist aber eher skeptisch zu beurteilen. Vgl. zu diesem Problem der Spiritualität des Ordens z.B. WlECUERT „knecht undfrowe“ 169
Unterstützend soll noch einmal Heinrichs Kommentar angeführt werden. Don gibt es im Zusammenhang der Botschaft Christi an die Gemeinde von Sardis eine aufschlussreiche Passage. Heinrich deutet die beiden kommunizierenden Engel ah Christus und Christenheit.41 Zwischen diesen beiden entwickelt sich ein Minne. Dialog: Christus liebkost die Christenheit und bittet um ihren reinen Kuss ah Zeichen ihrer Aufrichtigkeit, auf dass ihr kein Unheil drohe. Die Christenheit küsst ihn und zeigt so, dass sie seine um ihretwillen erlittene Marter mit gleicher Liebe vergilt.42 Der Dialog mutet recht irdisch an, ist aber natürlich geistlich zu verstehen, so dass beide Erscheinungsformen der Liebe vorbildlich zu einer keu- schen Form der Minne verschmelzen. In dem späteren Abschnitt, der die Apokalyptische Frau schildert, bietet Hein- rich von Hesler nicht nur an, sie als Maria zu deuten, sondern er erwägt ebenfalls eine Deutung der Frau als Christenheit.43 Beide schließen sich nicht aus, denn sowohl Maria als auch die Christenheit werden durch Gottes Gnade erhöht.44 Betrachtet man beide Interpretationen als gleichberechtigt nebeneinander und bezieht das Selbstverständnis der Deutschordensritter mit ein, eröffnet sich für die Minneszene die Erklärung, dass der Deutschordensritter seine Liebe als selbster- nannter Nachfolger Christi auf die Jungfrau Maria richtet und in ihrer Person zugleich der Christenheit dient. Fazit Die drei Maricnszenen, die hier in umgekehrter Reihenfolge betrachtet wur- den, stellen im chronologischen Ablauf eine inszenierte Steigerung dar. Das Er- scheinen der Apokalyptischen Maria vor Johannes hat, die Minnckonzeption be- treffend, den wcltlichstcn Ausdruck. Die Darstellung nobilitiert jedoch bereits den Ordensritter, der sich mit dem Visionär identifizieren kann. In der Szene der Apo- kalyptischen Frau mit dem Drachen zeigt sich in polarisierter Darstellung das Bcwährungsfcld des Ritters. Ihm wird der Kampf gegen das Böse - den Drachen - und für das Gute - die Tugend - dargeboten. Den Höhepunkt bildet die letzte 1993 (wie Anm. 18), Hans-Dietrich Kahl, Zur kulturellen Stellung der Deutschordensritter in Preußen, in: Zenon Hubert Nowak (Hg.): Die Rolle der Ritterorden in der mittelalterlichen Kultur, Torun 1985, S. 37-63, Kaspar ELM, Die Spiritualität der geistlichen Ritterorden des Mittelalters. 1‘orschungsstand und Eorschungsprobleme, in: Zenon Hubert Nowak (Hg.): Die Spiritualität der Ritterorden im Mittelalter, Torun 1993, S. 7-44, KWIATKOWSKI 2005 (wie Anm. 17). 41 „Der engel der Johannen hiez / Schriben und zu boten licz, / der engel ist Crist, Gotcs sun; / Der ander engel ist sin kun, / Die selige cristcnhcit,“ (V. 4351-4355). 42 Die selige cristcnhcit, / Der kündete her sin arbeit / Und irkoste sich mit ir beides / Sines liebes und sincs leides / Mil suzen Worten und sprach sus: / ,Geniale, gib mir dinen kus / Mil dineni munde an minen/ / (Daz spricht: wiltu mir schinen / Lazcn daz du mich minnes / Getruweliches sinncs, / So küsse mich an minen munt.) / Daz ist warcr niinnen bunt, / Wenne kus ist vrundc /.ei- chen; / Her sal dikeinen vcichen / Tragen, swen her gevromet wirt, / Und wen her veichen nicht ge- bt rt, / Des bat Got sunder sundc / Sich küssen sine vrunde / Und sunder vleisches gelüst; / In der wis wart Got gckusi / Von siner lieben cristcnhcit, / Do Crist die marter durch sic leit. / Ouch bild Crist sie küssen sich / Und spricht: .geniale, küsse mich/ / (Daz dulet: daz ich durch dich leit, / Des sallu wesen mir gereit, / Und ininnc mich als ich dich tu.)1 (V. 4355-4381). 43 „Ouch mac man diz selbe wib / Wol keren uf die cristcnhcit“ (V. 16832/16833). 44 Maria wird infolge ihrer Gouesmutterschalt, die übrige Christenheit durch Christi Opfertod erho- ben. „Der Crist irhub die cristcnhcit, / Die dort vor ie was uf geleit / In sincs vatcr sinne / Vor dem ersten beginne." (V. 16919-16922). 170 Sabine Jagodzinski
Szene, in welcher der Ritter - nun sozusagen geläutert - bis in die Reihen der Heiligen, knapp unter die gekrönte Gottesmutter aufgestiegen ist. Hier tritt er zum einzigen Mal mit ihr gemeinsam in Erscheinung. Die Kirche hat für den Ritter parallel zur Konzeption eines christlichen Krie- gers auch das Konzept eines christlich Liebenden entworfen, um kriegerische ebenso wie sexuelle Energien zu binden. Diese Strategie ist an der propagierten Minnekonzeption der frühmittclhochdeutschen Dichtung ablesbar.45 Im Fall der Ordensritter im Preußenland wurden die kriegerischen Triebkräfte eher zielgerich- tet eingesetzt als gebunden, aber fernerhin trifft das Konzept zu. Die mögliche Sündhaftigkeit der Minne zwischen Mann und Frau stellt für den Ordensritter, der die Jungfrau Maria beminnt, keine Gefahr mehr dar. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum ersten würde eine irdische, weltliche Frau durch den Mann als Mittlerin eines „Heils“ umworben, das auf die diesseitige Welt beschränkt ist. Im vorliegenden Fall jedoch ist sic durch die eine Frau ersetzt worden, die das ewige Heil vermittelt.46 Zum zweiten entfällt das Problem, die weltliche Frauen- liebe mit der christlichen Liebe mühsam vereinen zu müssen, da die Herzensdame gleichzeitig die Gottesmutter ist.47 In der diesem Artikel vorausgehenden Magisterarbeit konnte dargelegt werden, wie der Deutsche Orden den Heidenkampf mit der Aussicht auf himmlischen Lohn durch die bildliche Adaption der Apokalypse zu legitimieren versuchte. Die zweite Komponente der Legitimationsstrategie war die Konzipierung einer nicht- sündigen Minneform. Einer Minne, die den Liebenden stattdessen erhöht, weil sie in einen mariologischen Kontext eingebettet wurde. Wie dies anhand der Bildbei- spiele der illustrierten Apokalypse Heinrichs von Hesler vollzogen wurde, die natürlich nur einen Teilaspekt eines komplexen mönchisch-ritterlichen Lebens- entwurfs vorstellen, ist hier präsentiert worden. 45 WENZEL 1974 (wie Anm. 10), S. 53. 46 K/XSTEN 1986 (wie Anm. 13), S. 288. 47 Für den Ritter äußerte sich die christliche Liebe oder (lottcsliebe im Kreuzzug. Ingrid Kasten nennt als problematisches Beispiel z.B. die Skrupel der Sänger, die das Kreuz nehmen, aber im Herzen noch an ihrer Dame festhallen. K/XSTEN 1986 (wie Anm. 13), S. 289. „knecht undfrowe “ 171
Das „Defensorium inviolatae virginitatis beatae Mariae“ des Franz von Retz und seine bildliche Umsetzung am Pelpliner Chorgestühl Kathrin Wagner Eines der schönsten Schmuckstücke der prächtigen vormaligen Zistcrzicnscr- klostcrkirchc Pelplin, circa 50 Kilometer südlich von Danzig, ist das eichene aus 42 Stallen und einem Zclebrantensitz bestehende Chorgestühl (Abb. I).1 Der Erhaltungszustand des in der Mitte des 15. Jahrhunderts angefertigten Ge- stühls ist als gut zu bezeichnen, seit dem 19. Jahrhundert verfälscht jedoch ein goldener Überzug die ursprüngliche Wirkung der einzelnen Dorsalefelder. Zwei Zwölfsitzer wurden im ersten Joch des Presbyteriums und je sieben Sitze in den beiden Seitenschiffen aufgcstcllt, zwei Doppelsitzc befinden sich im nördlichen Querhaus. Ursprünglich standen die Sitzreihen in der Vierung der Kirche und waren in Hufeisenform, sich nach Osten öffnend, ungeordnet. In der Mitte der Westseite blieb so ein Durchgang frei. 1842 wurde das Gestühl an seinen neuen Platz gestellt, wo es sich auch heute noch befindet. Jeder der aufwendig mit vege- tabilen und geometrischen Formen geschmückten Stühle wird von einem am Ran- de mit Kreuzblumen besteckten Esclsrückcn-Wimpcrg bekrönt, der wiederum in zwei Spitzbögen und eine Raute gegliedert wurde. Unterhalb der Wimperge erin- nern gebrochene Schleicrbrcttcr an baldachinartigc Bekrönungen. Reiches filigra- nes Maßwerk durchzieht auch die Trennungswändc der einzelnen Sitze. Neben der fantasicvollcn Ornamentik sind die zwei Doppelsitzc mit szenischen Darstellungen der Passion Christi und eines Heiligenzyklus' Höhepunkte des ikonographischcn Programms. Doch nicht nur die Doppelsitzc, auch die dem Chor nächsten Plätze tragen an Wangen und Dorsalen figürliche Darstellungen. Einan- der gegenüber stehen sich zum einen die Dorsalctafcln der Geburt Christi und die Kreuzabnahme und andererseits die Kreuzigung Christi dureh die Tugenden und die Anbetung des Lammes (Abb. 2). Die Ikonographie eines Bildfeldes ist jedoch besonders ungewöhnlich: die Geburt Christi. Diese steht - ganz im Sinne der zistcrzicnsischcn Marienverehrung - in der Tradition einer in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts auftretenden ungewöhnlichen Bildvariantc: dem lehrreichen Marienbild.2 1 Vgl. hierzu: Romuald Frydrychowicz, Geschichte der Zistcrzienscrabiei Pelplin und seine Kunstdenkmäler, Düsseldorf 1905, S. 403-414; Karl-Heinz Cl.ASl-N, Die mittelalterliche Bild- hauerkunst im Deutschordensland Preußen, Berlin 1939, S. 243-244; Maria Bl-:iiK-(ioiILICII, Die mittelalterlichen Chorgestühle in Westpreußen und Danzig, Stuttgart 1961, S. 29-69. 2 Stehl man heule in der Vierung der Kirche und blickt gen Altar, so befindet sich der Silz auf der rechten Seile an zweiter Position in Altarnähc. Vgl. hierzu: A. ScilUIZ, Die Legende vom Leben der Jungfrau Maria. E.A. Seemanns Beiträge zur Kunstgeschichte, Heft 1, Leipzig 1878; Anselm Salzer, Die Sinnbilder und Beiworte Mariens, Scitcnstctten 1893; Philipp M Hai M, Zur mariani- schcn Symbolik des späteren Mittelalters. Dcfcnsoria inviolatae virginitatis beatae Mariae, in: Zeitschrift für christliche Kunst 17, 1904. S. 119-126. 179-188. 207-218; Ruth Sl.I-NCZKA. Lehr- hafte Bildtafeln in spätmiiiclalieiiichen Kirchen. Köln/Weimar/Wien 1998, S. 165-173. Das „Defensorium inviolatae virginitatis beatae Mariae" 173
Abb. 1: Pelplin, ehemalige Zisterzienserkirche, Gesamtansicht Chorgestühl (um 1450), Foto: Kathrin Wagner Abb. 2: Pelplin, ehemalige Zister- zienserkirche, Chorgestühl, Kreuzi- gung Christi durch die Tugenden, Foto: Kathrin Wagner Das quadratische, stark geometrisch gegliederte Dorsale des 19. Stuhles zeigt in einem mittigen kleinen Quadrat die Geburt Christi (Abb. 3). Maria kniet an- dächtig betend vor dem Neugeborenen im Strahlenkranz, dahinter steht Joseph mit dem erhobenen Wanderstab. Hinterfangen wird die Szene durch den überdachten Stall mit Ochs und Esel, die sich an der Futtertränke laben. Dieses Quadrat ist wiederum von einem Rhombus umfangen, in dessen vier Zwickeln weitere vier Szenen wiedergegeben werden. Es handelt sich hierbei oben um den Pelikan, der seine Jungen aus dem eigenen Blut speist, rechts um den Vogel Phönix, der aus der 174 Kathrin Wagner
Asche ersteht, unten um den Löwen, der seinen Neugeborenen den Lebensatem einhaucht und links um das Einhorn, das nur von einer Jungfrau gebändigt werden kann und dieser den Kopf in den Schoß legt. Dieser Rhombus wird durch das äußere Quadrat eingeschlossen. In den vier Zwickeln des Bildes werden alttestamentliche typologische Szenen wiedergegeben. Hierbei handelt es sich oben links um Moses mit dem Brennenden Dornbusch, der brennt aber doch nicht verbrennt, oben rechts um Moses, der vor dem Altartisch kniet, auf dem der Blühende Stab des Aaron steht.3 In der Szene unten rechts wird die Porta Clausa wiedergegeben, die Pforte am Jerusalemer Tempel, die einzig von Gott durchschritten werden kann. Unten links schließlich kniet Gideon vordem Vlies, das von einem Engel mit Tau benetzt wird, während der angrenzende Boden trocken bleibt.4 Die gesamte Dorsaletafel wird von einem Spruchband umzogen, das die Aufschrift trägt: Rubum, quem viderat Moyses incombustum, conservatam agnovismus tuam laudabilem virgini- tatem. Die Inschrift der Treffungswände, die bis in die Nebenstallen führt, besagt: „MONACHVS DEBET ESSE MILES STRENVVS IN OMNI TEM[pore], Abb. 3: Pelplin, ehemalige Zisterzienser- kirche, Chorgestühl, Geburt Christi, Foto: Kathrin Wagner, siehe Farbtafel 15 Dieses strenge geometrische Bild und die noch zu diskutierenden bildlichen und schriftlichen Quellen, auf die diese Darstellung zurückgeht, lassen sich nur unter Berücksichtigung der historischen und gesellschaftlichen Umstände voll- ständig verstehen, die in einem kurzen Diskurs zusammengefasst werden sollen. Das ausgehende 14. und das beginnende 15. Jahrhundert waren geprägt vom Gcspaltensein der Kirche, welches im großen abendländischen Schisma gipfelte. Seit 1378 gab es zwei Päpste, mit dem Konzil von Pisa kam 1409 mit Papst Alex- ander V. sogar noch ein dritter Papst dazu. Auf dem Konstanzer Konzil von 1414 - 1418 wurde dieser desolate Zustand zwar beendet, aber die kirchenpolitische Si- tuation war nach wie vor instabil. Die Verfolgung von Häretikern wie den Kir- chenkritikern Hieronymus von Prag oder Jan Hus, die die Kirchenhicrarchie ge- nauso ablehnten wie Kulthandlungen und das Heilige Sakrament, hatte während 3 Ex. 3,2; Num. 17,8. 4 Ez. 44, 2; Richt. 6, 40. Das „Defensorium inviolatae virginifatis beatae Mariae" 175
des Konzils mit deren Verurteilung und der Hinrichtung von Jan Hus im Jahr 1415 ihren Höhepunkt erreicht. 1420 rief Martin V. sogar zum Kreuzzug gegen die Hussiten auf, deren Lehre auch in Deutschland immer schneller Verbreitung fand. Um dem entgegen zu wirken, wurde verstärkt nach Symbolen gesucht, die den Gläubigen die Tradition, den Zusammenhalt und die Vertrauenswürdigkeit der Kirche neu veranschaulichen konnten. Im Zuge einer Reihe theologischer Schrif- ten, die den innerkirchlichen Zusammenhalt neu stärken sollten, entstand auch das Defensorium inviolatae virginitatis beatae Mariae des Franz von Retz.5 Der Do- minikanermönch lehrte seit 1388 an der Universität Wien Theologie und war von 1399-1416 mehrfach als Dekan tätig. Als Vertreter der Universität war er auf dem Konzil von Pisa vertreten und wirkte an den Vorbereitungen des Konstanzer Kon- zils mit. Retz war 1399 und 1424 Provinzialvikar, zeitweilig auch Gencralvikar der reformierten Dominikanerkonvente Österreichs und Ungarns. Laut Nekrolog der Dominikaner seiner Geburtsstadt ist Retz im Jahr 1427 in Wien gestorben.6 In dem im 15. Jahrhundert weit verbreiteten Defensorium inviolatae virginita- tis beatae Mariae, das wahrscheinlich in den 1420er Jahren entstanden ist, werden in Schrift und Bild eine Reihe wundersamer Ereignisse und Erscheinungen aus Natur, Geschichte und Mythologie angeführt, um die unbefleckte Empfängnis Mariae und die Geburt Christi nicht nur zu belegen, sondern sie bis in die letzte Instanz zu beweisen. So rekurriert Retz alte Autoritäten und bedient sich der Schriften Idisors von Sevilla, Albertus’ Magnus und der Kirchenväter ebenso wie mythologischen Sagengutes. So führt er etwa Jupiter an, der Danae mittels eines Goldregens schwängert und stellt diese sagenhafte Episode direkt der zu bewei- senden marianischcn Jungfräulichkeit gegenüber, frei nach dem Motto quod erat demonstrandum, oder anders gesagt: Waren die griechischen Götter in der Lage, Wunder zu vollbringen, so muss diese Fähigkeit auch dem christlichen Gott zuer- kannt werden. Von der Art und Weise seiner Zusammenstellung muss das Defen- sorium in der Tradition der Armenbibcln gesehen werden, wie der im 13. Jahr- hundert in Frankreich entstandenen Biblc moralisec. Im 14. Jahrhundert reihen sich weitere Kompendien, wie die Biblia Pauperum oder die Concordantia Cari- tatis, in diese Tradition ein. Sie bezogen sich auf das Leben Jesu und Maria und stellten jedem Anlitypus der Heilsgcschichlc alttestamcntliche Typen gegenüber, in der Concordantia Caritatis werden sogar Typen aus der Tierwelt miteinbezogen. Ohne solche Schemata und Typologien wäre das Defensorium des Franz von Retz nicht denkbar gewesen. Der Text ist jedoch nie als Ganzes kodifiziert worden und eine Edition, die die vielen verschiedenen Überlieferungen bündeln müsste, steht noch aus.7 Da das Defensorium besonders in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhun- 5 Ewald Maria VE'tTER, Mariologische Tafelbilder des 15. Jahrhunderts und das Defensorium des Franz von Retz. Ein Beitrag zur Geschichte der Bildtypen im Mittelalter, ungedr. Phil. Diss. Hei- delberg 1955; DERS. in: Marienkunde I. Sp. 1282 f; Ders. in: Ix'xikon der christlichen Ikonogra- phie 1, Freiburg i. Br. 1968, S. 499; Ders. und Friederike TscilOCIINER, „Defensorium“, in: Ma- rienlexikon, Bd. 2, St. Ottilien 1989, S. 158-160. 6 Gallus HAI-ELL ((). Pr.j: Franz von Retz. Ein Beitrag zur Gelehrtengeschichte des Dominikaneror- dens und der Wiener Universität am Ausgang des Mittelalters, Innsbruck, Wien, München 1918, S. 60 f. 7 Den vollständigsten LJberblick liefert der kürzlich erschienene Kommentarband zur Dubliner Handschrift (National Library of Dublin, Ms 32,513): Von wundersamen Begebenheiten. Defenso- rium inviolatae virginitatis beatae Mariae von Franz von Retz, National Library of Dublin Ms 32, 176 Kathrin Wagner
dert variantenreich in Form von Inkunabeln, Blockbüchern und Handschriften verbreitet wurde, ging man lange davon aus, dass die Urfassung ebenfalls in Buch- form in den 1420er Jahren entstanden ist. De facto lässt sich die älteste datierte Handschrift, das von Anton Pelchinger ausgemalte Exemplar aus Kloster Tegern- see, jedoch erst im Jahr 1459 nachweisen. Vor 1427, dem Todesjahr des Domini- kaners, ist nur ein als Triptychon angelegtes Bildwerk bekannt, in dem die illus- trierenden Bildfelder mit dem lateinischen Text kombiniert wurden: das 1426 angefertigte Stamser Retabel (Abb. 4). Abb. 4: Zisterzienserklos- ter Stams in Tirol, Retabel für Christoph Heuberger (1426) Auf dem heute im Klostermuseum in Stams in Tirol aufbewahrten Triptychon werden typologische Tiersymbole und Exempla angeführt, die als Analogien die jungfräuliche Empfängnis Mariens bezeugen sollen.8 Das Stamser Retabel ist als einziges heute bekanntes Bildbeispiel noch zu Lebzeiten des Franz von Retz ent- standen. Gestiftet wurde es von Christoph Heuberger, einem Klosterbruder in Stams und, wie es eine verlorene Inschrift bezeugte, glühenden Verfechter der 513, Kommentarband von Eberhard König, mit Beiträgen von Ines Dickmann, Gerard Lync und Kathrin Wagner, Simbach am Inn 2007. 8 Karl ATZ, Hochgotischer Marienaltar in Stams, in: Zeitschrift für christliche Kunst 18, 1905, S. 321-328; Ausst. Kal.: Gotik in Tirol. Malerei und Plastik des Mittelalters (Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum), Innsbruck 1950, S. 27-28; Ausst. Kat.: Europäische Kunst um 1400 (Kunsthistori- sches Museum), hg. von Vinzenz. Oberhammer, Wien 1962; Erich EGG, Gotik in Tirol. Die Flü- gelaltäre, Innsbruck 1985, S. 58. Das „Defensorium inviolafae virginifatis beatae Mariae" 177
Jungfräulichkeit Mariens. Wahrscheinlich kannte Heuberger den Dominikaner- mönch Retz und favorisierte eine großformatige, bildliche Variante. Unbeantwor- tet bleibt die Frage, ob Retz auf die Fassung des Defensoriums in Bildform Ein- fluss genommen hat. Das hochrechtcckige Triptychon aus Stams zeigt im geöffneten Zustand ein Bildschema, das übergreifend das Mittelstück und die zwei Flügel als Einheit begreift. Dem Betrachter erschließen sich 18 kleine Einzelszenen, die durch leoni- nische Zweizeiler erklärt werden und die um ein rhombenförmiges Mittelbild mit der Geburt Christi angeordnet sind. In den Ecken sitzen der Evangelist Lukas, die Kirchenväter Ambrosius und Augustinus, sowie Thomas von Aquin. Sie tragen Schrifttafeln, deren Texte sich mit der Jungfräulichkeit Mariens auseinandersetzen und die die Nähe zur Buchfassung besonders deutlich machen. Ähnlich wie in Pelplin wird im Zentrum die Geburt Christi von vier Tier- cxempla und vier alttestamentlichen Szenen flankiert. Diese werden auf der Mit- teltafel oben und unten und auf beiden Flügel von wundergleichen Begebenheiten aus Natur, Mythologie und Alltagsleben umgeben. Hierzu zählen beispielsweise die kappadokische Stute, die durch den Wind empfängt, oder die Episode zum Korn, das in den Wolken entsteht.9 Interessant für die Betrachtung des Pelpliner Dorsales ist jedoch nur das Stam- ser Mittelbild mit der Geburt, den es umgebenden Tierexempla und den alttesta- mentlichen Szenen. An den Außenseiten des Stamser Rhombus sind die vier Tier- symbole dargestellt, die zuvor am Pelpliner Beispiel vorgestcllt wurden. Der Vo- gel Phönix, der aus der Asche aufsteigt und bereits seit dem frühen Christentum ein Symbol für die Auferstehung Christi darstellt, wird hier zum marianischen Symbol transformiert.10 * Neben der Schönheit des goldenen Gefieders werden auch die Höhe und der Wohlgeruch des Phönix-Nestes als Exempla für die Erhabenheit Mariens angeführt." In Bezug auf die Inkarnation Christi ist Maria das Feuer, aus dem sich der Phönix, also Christus, erneuert. Oben rechts am Stamser Retabel erscheint der Pelikan, der seine Jungen aus dem eigenen Blut nährt.12 Im Pelpliner Bild wird die Szene im oberen Zwickel dargestellt. Auch hierbei handelt es sich um ein transformiertes Symbol, das bedingt durch das Selbstopfer des Vogels im Physiologus zunächst ebenfalls als Christussymbol verbreitet wurde. Der mariani- schen Ausdeutung folgend, ist Maria das Nest oder das Blut des Pelikans. Im Defensoriumsschcma erfährt die Pelikan-Fabel eine Umdeutung zum Naturwun- der, das die jungfräuliche Geburt beweisen soll. Es folgt am Stamser Retabel un- ten rechts die Darstellung des Löwen, der seinen Jungen den Lebensatem ein- hauchl. Die Sinnverschiebung vom Christus- zum Mariensymbol erfolgt auf ähnli- che Weise wie bei den zuvor besprochenen Beispielen. Der Physiologus erzählt von drei Eigenschaften des Löwen. Zum einen verwischt er seine Spur mit dem Schweif, was der Menschwerdung Christi im Schoß Mariens entspricht, ein The- ma, was sich jedoch für die bildliche Umsetzung nur schwer eignet. Außerdem schläft der Löwe mit offenen Augen, ein Sinnbild, das den Schlaf Christi am 9 Eine vollständige Auflistung der szenischen Darstellungen findet sich bei ebd., S. 58. 10 Die Phönix-Darstellung befindet sich am Stamser Bild oben links und in der Pelpliner Darstellung rechts. 1 1 LCI, Bd. 3, Sp. 430-432. 12 Ebd., Sp. 390-392. 178 Kathrin Wagner
Kreuz andeutet, während seine Gottheit wacht. Die dritte Eigenschaft des Löwen ist in beiden Bildern dargestellt: Der Legende nach werden Löwenjunge tot gebo- ren und der Löwenvater haucht ihnen erst am dritten Tag Atem ein oder weckt sie durch sein Gebrüll und geht so als Sinnbild für die Auferstehung Christi in die mittelalterlichen Kompendien ein. Mariologisch betrachtet ist Maria die Löwin, die dem Gotteskind den menschlichen Lebensatem einhaucht. Am Stamser Reta- bel folgt unten links die Wiedergabe des Einhorns, das sich in Pelplin ebenfalls links befindet. Die Symbolik als Sinnbild Christi wird auch in diesem Fall beson- ders durch den Physiologus verbreitet: Laut der Erzählung kann das Tier aufgrund seiner Stärke von keinem Jäger gefangen werden. Bändigen lässt es sich nur im Schoss einer Jungfrau. Der allegorische Gedanke offenbart sich deutlich: die Jung- frau Maria bändigt das unbezwingbare und göttliche Einhorn Christi, das nur ihr den Kopf in den Schoss legt. In ähnlicher Lesart sind auch die vier alttestamentlichen Szenen zu verstehen, die am frühen Stamser Bild nur sehr schemenhaft dargestellt sind. Diese Typen des Alten Testamentes fehlen in den meisten Handschriften und Blockbüchern.1 Dafür finden sie sich jedoch auf allen in der Tradition des Stamser Retabels ent- standenen Bildbeispiclen. Oben links wird Aaron mit dem Blühenden Stab ge- zeigt: Um die Streitigkeiten zu den Priestervorrechten zu beenden, ließ Moses sich von jedem Stammesoberhaupt einen Stab geben und legt diese vor der Bundeslade nieder. Als am nächsten Morgen nur der Stab Aarons blüht und Mandeln trägt, werden die Aaroniden als einzige zum Pricsterdienst ausgewählt. Der Aaronsstab wurde bereits sehr früh mit der Blüte der Wurzel Jesse in Verbindung gebracht. Die Ähnlichkeit des lateinischen Wortes für Rute und Jungfrau - virgo und virga - unterstützt diese typologische Deutung. Maria gilt also als der Spross, der die Stammesblüte - Christus - hervorbringt. Diesem folgt die Darstellung Gideons, die auf folgende Begebenheit aus dem Buch der Richter zurückgeht: Als Gott Gideon mitteilt, dass er Israel von den Midianitern erretten wird, bittet dieser um ein Zeichen. Die frisch gesponnene Wolle solle von Tauwasser getränkt sein, während der angrenzende Boden trocken bleibt. Dieses Tauwunder als Bild für die Empfängnis durch den Heiligen Geist wurde zu einem der am häufigsten darge- stellten alttestamentlichen Typen. In dieser Form, als Versinnbildlichung der jung- fräulichen Unberührtheit, tritt die Tauwunderszene bereits seit dem 12. Jahrhun- dert in den Marienprogrammen der französischen Kathedralplastik auf. Die Porta Clausa folgt auf der Stamser Tafel und in Pelplin unten rechts. Das durch Ezechiel verkündete verschlossene Tor des Jerusalemer Tempels dürfe, so der Prophet, nur von Gott selbst durchschritten werden und wird so zu einer weiteren Allegorie der Jungfräulichkeit Mariens. Die Stamser Tafel schließt unten links mit der Wieder- gabe des Brennenden Dornbusches, in Pelplin oben links. Der Brennende Busch, der vor Moses zwar brennt, jedoch nicht verbrennt, wird bereits in den Kompen- dien des 14. Jahrhunderts, beispielsweise in der Biblia Pauperum, als Bild für die unversehrte Jungfräulichkeit Mariens angeführt. Das Stamser Retabel ist zwar die älteste bekannte bildliche Umsetzung des Retz’sehen Defcnsoriums, allerdings bei weitem nicht die einzige, die sich bis in * 13 Mit Ausnahme von clin. 3974, dem Nördlinger Blockbuch von 1470 und der Inkunabel der Dru- ckerei Hurus in Saragossa. Das „Defensorium inviolatae virginitatis beatae Mariae" 179
unsere Tage überliefert hat.14 Ein Triptychon aus der abgetragenen Kölner Kirche Sancta Maria ad Gradus, das ebenfalls als ein frühes Exemplar des Bildthemas angesehen werden kann, entstand wahrscheinlich um 1430.15 Ähnlich wie in den Handschriften und Blockbüchern, erfreut sich das Thema ab der Jahrhundertmitte auch in Malerei und Schnitzkunst großer Beliebtheit. Ein besonders schönes Tafelbild, das zum Stamser Retabel starke Ähnlichkeiten auf- weist, ist die Ottobeurer Marientafel (Abb. 5).16 Die vier alttestamentlichen Sze- nen, die das Bild umlagern und die mittig angeordneten vier Tiersymbole entspre- chen detailgenau der Tiroler Vorlage. Im Gegensatz zum Stamser Bild werden die leoninischen Zweizeiler jedoch nun auf die Trennungsstreifen des Bildes verlegt. Die Inschriften weisen ebenfalls Übereinstimmungen zum Urbild auf, so dass eine Verbindung, sei es nun eine direkte oder indirekte, vorausgesetzt werden kann. Abb. 5: Ottobeuren, Staatsgale- rie, Inv. Nr. 1472: Verteidigung der Lehre von der unversehrten Jungfräulichkeit der Gottesmut- ter, Meister der Ottobeurer Marientafel (1450) In der Mitte des 15. Jahrhunderts taucht das Thema auch in der Nürnberger Epitaphicn-Malcrei auf. Vorbildfunktion hatte hier das aus St. Sebald stammende 14 Vgl. hierzu: Kathrin WäGNI-r, Das Delensorium des Franz von Retz in Tafelmalerei und Schnitz- kunst, in: Von wundersamen Begebenheiten. Defensorium inviolatac virginilatis bcatac Mariae von Franz von Retz, National Library of Dublin Ms 32, 513, Kommentarband von Eberhard Kö- nig, mit Beiträgen von Ines Dickmann, Gerard Lyne und Kathrin Wagner, Simbach am Inn 2007, S. 33-46. 15 Rheinisches Landesmuseum Bonn, Inv. Nr. 7, Best. Kat. Bonn 1982, S. 255-259. 16 Staatsgalerie Ottobeuren, Inv. Nr. 1472. 180 Kathrin Wagner
Grabbild der Elsbeth Starck (gest. 1449), das wahrscheinlich mit dem Deichsler Altar in Verbindung zu bringen ist (Abb. 6). Innovative Elemente, wie etwa das Zitieren der leoninischen Zweizeiler in deutscher statt in lateinischer Sprache, das Einbringen von in Medaillons untergebrachten Evangelistensymbolen und der persönliche Bezug zu der Verstorbenen durch ihre Wiedergabe im Bild, finden zwar außerhalb von Nürnberg keine Anwendung, werden jedoch in der städtischen Epitaphien-Malerei weitertradiert.17 Von allen noch erhaltenen Exemplaren ist es das Starck’sehe Grabbild - nimmt man die Ikonographie und den Bildaufbau als Parameter -, das die auffälligsten Übereinstimmungen zur Pelpliner Dorsale- schnitzerei aufweist. Am anschaulichsten werden diese in der Szene Gideon und das Vlies deutlich. Abb. 6: Nürnberg, St. Sebald: Epitaph der Elsbeth Starck (um 1450) Die Nürnberger Epitaphien-Bilder deuten bereits an, dass in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts von der strengen Darstellungstradition zu einer freieren Interpretation übergegangen wurde. Zu diesen späteren Werken zählt das um 1470 entstandene Tafelbild aus dem ehemaligen Bcncdiktinerinnenkloster in Neuwerk, bei dem die strikte geometrische Einteilung bereits wegfällt.18 Die Mittelszene gibt zwar noch immer die Geburt Christi wieder, diese wird jedoch nun von locker drapierten Schriftbändern umgeben. Obwohl in den Bildzwickeln noch immer die alttestamentlichen Szenen platziert werden, fehlen die Tiersymbole bereits. 17 Ein weiteres Beispiel ist das Epitaph des Friedrich Schön aus der St. Lorenz Kirche in Nürnberg. 18 Heute in der Schatzkammer des Münsters Sankt Vitus in Mönchengladbach. Das „Defensorium inviolatae virginitatis beatae Mariae" 181
Die Beliebtheit des Themas wird besonders in der Vielfalt der Medien deut- lich, in denen diese spezielle Marien-Ikonographie umgesetzt wurde. So befinden sich bildliche Varianten in Form von Wandmalerei im Brixencr Domkreuzgang und in Risinge im schwedischen Östergötland, beide Zyklen sind um 1480 ent- standen. Die letztgenannte Darstellung macht deutlich, dass das Thema auch im äußersten Norden Europas präsent war. Ein weiteres Beispiel für die Umsetzung in der Retabelmalerei liefert der linke Außenflügel des Heiligkreuzretabels in Rostock, das wahrscheinlich um 1470 vollendet wurde. Die einzige erhaltene geschnitzte Variante neben dem Pelpliner Bild befindet sich am Nordportal der Gnadenkapelle in Altötting aus der Zeit um 1515. Die Darstellung wird dort je- doch schon sehr komprimiert und ist nur noch entfernt mit dem von Retz verfass- ten Dcfensorium in Verbindung zu bringen. Mit der Reformation versiegt schließ- lich das Interesse für das Defensorium und seine bildlichen Darstellungen völlig. Vergleicht man das Pelpliner Bild mit den zuvor genannten, so wird deutlich, dass sich alle Darstellungen ikonographisch zwar auf dieselbe bildliche Quelle - wahrscheinlich das Stamser Retabel - zurückführen lassen, aber in sich so sehr variieren, so dass die Übereinstimmungen oft nur noch formaler Natur sind. Allen gemeinsam sind jedoch die strikten geometrischen Unterteilungen und die Integra- tion von Schriftlichkeit. Bei genauerer Betrachtung können zwei Bildtypen unterschieden werden, die zwar demselben schematischen Aufbau folgen - eine Mittelszene umgeben von vier Tiersymbolen und vier alttestamentlichen Szenen -, sich in der Präsentation der zentralen Darstellung jedoch unterscheiden. So lässt sich zum einen der Typus benennen, der direkt auf das Stamser Retabel zurückgcht und bei dem der Rhom- bus, in den die Geburtsszene eingebettet ist, bildbestimmend ist. Hierzu zählt neben dem Stamser Retabel auch die Variante des Meisters der Ottobcurer Ma- ricntafcl. Kennzeichnend für diesen Typus ist das Einbringen von Sprache sowohl in Form von Schriftbändern als auch innerhalb der Trennungsstreifen. Pelplin lässt sich diesem Typus bedingt zuordnen. Der Rhombus wird zwar verwendet, aller- dings ist cs ungewöhnlich, dass innerhalb des rhombenartigen Rechtecks auch die Ticrsymbolc vorkommen. Dieses Phänomen lässt sich in dieser Form nur an den Nürnberger Epitaphien beobachten, auf deren Verbindungen zum Pelpliner Bild bereits hingewiesen wurde. An diesem zieht sich die Inschrift um das Gesamtbild herum und wurde nicht in die einzelnen Felder integriert. Verantwortlich für diese Präsentation ist das Medium Holz, an dem man meist aus pragmatischen Gründen auf ausführliche Beischriften verzichten musste. Die späten Varianten, wie etwa das Bild aus Mönchengladbach, lassen sich diesem Typus zwar noch entfernt zuordnen, sind in ihrer Bildgcstaltung jedoch schon zu weit entwickelt, eher auto- nom und nur noch im entferntesten Sinne mit dem Urbild und der damit verbun- denen Typengruppe in Verbindung zu bringen. Die Tiersymbole werden bereits nicht mehr dargestcllt. Der zweite Typus, dem sich das Rostocker und das Bonner Bild zuordnen lassen, zeigt in der Mitte die thronende Maria mit dem Christuskind in einem Rechteck sitzen. Die Schrift wird nicht direkt in Form von Schriftbän- dern in die einzelnen Darstellungen integriert, sondern schmückt ausschließlich die Trennungsslrcifcn. Auch die strikte lineare Unterteilung der Bildsequenzen wird unterbrochen und durch halbkreisförmige Felder aufgclockert. Die ikonogra- phischc Präsentation der alttestamentlichen Szenen in beiden Bildern weist eben- falls Parallelen auf. Darüber, dass beide Bilder auf dieselbe Quelle zurückgehen, 182 Kathrin Wagner
weisen die zum Teil wörtlich übereinstimmenden Inschriften hin. So besagt die Inskription, die die Jungfrau mit dem Einhorn umkreist, in Rostock Virgineis digitis. capieda fit hec fera mitis und am Bonner Retabel Virgineis digitis. tangedo fit hec fera mitis. Die eigentümliche Rostocker Ikonographie, Maria umgeben von den Jungfrauen, lässt sich mit dem Aufstellungsort und der Gesamtaussage des Altarretabels erklären, das für die Zisterzienserinnenkirche zum Heiligen Kreuz angefertigt wurde. In allen drei Ansichten des zweimal wandelbaren Retabels sind als zentrales Thema die Jungfräulichkeit Mariens und die Aufforderung zur Nach- ahmung Bildgegenstand. Die Maria umgebenden Jungfrauen beziehen die ur- sprünglich auf die Bebilderung des Defensoriums zurückgehende Tafel in diese Gesamtaussage mit ein. Untersucht man abschließend, in welchem Umfeld die heute bekannten Bild- beispiele entstanden sind, so fällt die Häufung der Darstellungen im klösterlichen Bereich auf. Sowohl das Retabel in Stams als auch die Bilder in Pelplin und Ros- tock stammen aus Zisterzienserklosterkirchen, in denen die Jungfrau Maria als Ordenspatronin besonders verehrt wurde. Das Ottobeurer Bild hing ursprünglich in einem Kloster der Benediktiner, die seit jeher eng mit den Zisterziensern ver- bunden waren. Dies deutet auf eine ordensinterne Verbreitung des Bildthemas und der speziellen Ikonographie hin. Auch Altötting, eine bekannte Marienpilgerstellc, und die Kirche Sancta Maria ad Gradus in Köln waren Orte, an denen die Marien- verchrung intensiv betrieben wurde und die, aus dieser Motivation heraus, ein besonderes Interesse an einer Verbildlichung des Defensoriums des Franz von Retz hatten. Das „Defensorium inviolatae virginitatis beatae Mariae” 183
Straußeneier in Preußen Ein Beitrag zur Erforschung der mittelalterlichen Marienikonographie* Tadeusz Jurkowlaniec Im Langhaus der Kulmer Marienkirche (vor 1330/40) befinden sich Schluss- steine mit figuraler sowie floraler Dekoration (Abb. 1). Einige Darstellungen kön- nen auf während des Baus der Kirche tätige Persönlichkeiten bezogen werden, z.B. auf Bischof Otto von Reval, auf Papst Johannes XXII. oder auf Kaiser Lud- wig den Bayern. Entsprechend der Themenstellung der Konferenz wird hier die vor Jahren als das Schlüpfen eines jungen Straußvogels aus dem Ei unter dem beaufsichtigenden Blick eines Elternvogels erkannte und als Allegorie der jung- fräulichen Mutterschaft Mariens interpretierte Szene untersucht (Abb. 2). Abb. 1: Kulm, St. Marien, Langhaus 1 Deutschsprachige Zusammenfassung des Tagungsbeitrags Strusie jaja w Prusach. Z badan nad sredniowieczjiq ikono^rafiq maryjnq. Aus dem Polnischen übersetzt von Waldemar Moscicki. Der vollständige Text des Beitrags mit weiteren Abbildungen erscheint im Biuletyn Historii Sztuki 71, 2009. Straußeneier in Preußen 185
Abb. 2: Kulm, St. Ma- rien, Schlussstein mit Straußenvogel, siehe Farbtafel 16 Im 13. Jahrhundert faszinierte die angenommene Wirkkraft des Straußenblicks die Dichter. Reinmar von Zweter betrachtete „Straußenaugen“ als das Hauptmerk- mal eines idealen Mannes. Die tierischen Eigenschaften wurden in der christlichen Dichtung gerne zwecks Herausbildung von Allegorien unterschiedlicher Art he- rangezogen. Der lebenspendende Straußenblick wurde dabei auf Maria, Christus oder Gottvater bezogen. Es ist indes kaum möglich herauszufinden, wer als erster das außergewöhnliche Schlüpfen junger Strauße auf die jungfräuliche Mutter- schaft Mariens bezog. Die Grundlagen dieser mariologischen Anschauung ent- standen in patristischer Zeit, und zu ihrer Untermauerung wurden diverse alttes- tamentliche Symbole herangezogen: der Stab Aarons, der brennende Dornbusch, das verschlossene Tor aus der Vision Ezechiels sowie das Vlies Gedeons. Anfangs bediente man sich selten der Tiersymbolik bei der Erklärung dieses Geheimnisses. Nach Basilius d. Gr. und Ambrosius stand so der Geier symbolisch für die Jung- fräulichkeit Marias, da man gemäß vorchristlicher Tradition glaubte, diese Vögel verkehrten nicht geschlechtlich miteinander und ihre Weibchen empfingen durch den Wind. Überaus interessant wäre es zu untersuchen, ob der im Physiologus zu findende Vergleich, der Strauß sei „wie der Geier“, die Aufnahme von Darstellun- gen schlüpfender Strauße unter die Allegorien der jungfräulichen Geburt beein- flusste. Dass Strauße angeblich allein durch Einwirkung von Sonnenstrahlen zur Welt kamen, wurde seit dem 1. Viertel des 15. Jahrhunderts als Argument zur Glaubhaftmachung des Geheimnisses der jungfräulichen Mutterschaft Mariens im Defensorium inviolate virginitatis heatae Mariae benutzt. Der Text zu der Abbil- dung eines Straußes in dem bei Eysenhut in Regensburg 1471 erschienenen Blockbuch wurde irrtümlich Albertus Magnus zugeschrieben, der zwar behaupte- te, dieser Vogel wärme lediglich hin und wieder seine Eier und halte daher häufig nach dem Ort Ausschau, an dem er die Eier gelegt habe, der jedoch niemals sagte, er wärme die Eier mit seinem Blick (Abb. 3). Gemäß dem Dichter Marner schlüpften die Jungen, nachdem die Elternvögel drei Tage lang auf die Eier ge- blickt hatten - eine Anspielung auf die Auferstehung Christi. 186 Tadeusz Jurkowlaniec
Abb. 3: Straußen- vogel, aus Johann Eysenhut, Block- buch des Defenso- rium inviolate virginitatis beatae Mariae, Regens- burg 1471 Abb. 4: Nürnberg, St. Lorenz, Konsole des Westportals In der Plastik des 14. Jahrhunderts wurden Szenen mit dem brütenden Strauß auf den Konsolen des Westportals der Nürnberger Lorenzkirche (Abb. 4) sowie im Kreuzgang des Zistcrzienscrklostcrs Neuberg an der Mürz erkannt (Abb. 5). Wahrscheinlich befand sich eine der Kulmer Darstellung ähnliche auf einem Schlussstein der Dcutschordensburg Strasburg im Kulmer Land (Abb. 6). Die beiden Beispiele aus dem Dcutschordensland Preußen sind älter als die Darstel- lungen in Neuberg (vor 1346) und in Nürnberg (1355-1366). Straußeneier in Preußen 187
Abb. 5: Neuberg a.d. Mürz, Zisterzienserkloster, Kreuzgang, Konsole Abb. 6: Strasburg, Deutschordensburg, Fragmente eines Schlusssteins Im Falle der Beispiele aus Nürnberg und Kulm wurde eine mariologische Interpretation ihrer Ikonographie vorgeschlagen. Angesichts der Ergebnisse der durchgeführten Untersuchung käme aber auch ein Bezug auf Jesus Christus in Frage, berücksichtigt man etwa die umstrittene Meinung des Marner. Diese beiden Interpretationsvorschläge (Maria als Beschützerin der Menschen, die jungfräuliche 188 Tadeusz Ju rkowlan iec
Mutterschaft Mariens oder die Auferstehung Christi) erschöpfen nicht das ganze Spektrum möglicher Deutungen der Kulmer Szene. Ihr Kontext („porträthafte“ Darstellungen menschlicher Köpfe auf einigen weiteren Schlusssteinen), die von den Dichtern vielgerühmten, stimulierenden Eigenschaften des Straußenblicks, schließlich die erst zu Anfang des 15. Jahrhunderts notierte Interpretation des aus dem Buch Hiob (Hi 39, 13-18) bekannten mangelhaften Interesses dieses flug- unfähigen Vogels an seinen Nachkommen (als Hinweis auf nachlässige, sorglose Geistliche), könnten sich vielleicht auf eine der Personen beziehen, auf die mit den Darstellungen der plastischen Gewölbedekoration der Kulmer Pfarrkirche anges- pielt werden sollte. Straußeneier in Preußen 189
Pilgrim badges depicting the Virgin Mary recovered from excavations in Gdansk Henryk Paner/ Ewa Trawicka Pilgrimages represcnted a fundamental expression of piety in the medieval pe- riod. They wcre undertakcn for a variety of reasons: some pilgrims were moti- vated by the desirc to changc thcir fate, or to pray for a miracle in a hopeless Situa- tion, others wished to entrüst themselves to the carc of a particular saint, or madc their journeys in Order to fulfil a vow. It was widely believcd that relics, images and shrines had miraculous powers. In the 13th Century penitent pilgrimages be- came common. These were not voluntary acts, but wcre cnforced, often as a pun- ishment. Canonical law meted out such penaltics to blasphemers, perpetrators of sacrilege and prostitutes. State and Inquisition courts would also imposc penitent pilgrimage as a form of punishment; depending on the severity of the crime it could last for several weeks or even months. As this was a considerable financial bürden on the sinner, a solution was quickly found, which, naturally, had to be paid for. Fifteenth-century tariffs in the Netherlands (known from Ghent and Bruges) record the price of hiring a replacement, or buying out of pilgrimages to shrines including Gdansk and Gniezno.1 This practice gave rise to Professional pilgrims. Pilgrimage reached the height of its poptilarity in Europe during the late me- dieval period. Increasingly, people embarked on pilgrimages out of a desirc lor adventure, to see the world and to make new acquaintances. Whcn the only days off from everyday responsibilities were church holidays, pilgrimage offered a rare opportunity to leave home and take a longer break from, what was in many cascs, very hard work. In consequencc, pilgrimage became the first form of tourism populär on such a widc scale.2 Until recently written rccords provided the principal source of knowlcdge about medieval pilgrimage; however, the limited number of surviving accounts on this subject limited the extent to which it could be studied.3 4 It was not until the boom of archaeology in medieval European cities that available sources were significantly enhanced by material evidence of pilgrimage - pilgrim badges, am- pullae, bells and ttasks. All of these items were kinds of travel souvenir4, sold to pilgrims at the shrines of thcir destination. Thcir mass production and salc was con- trolled by the ecclesiastical authorities. Most artefacts of this type are small badges depicting saints, apostles, the Virgin and Child, scenes from the Passion ol Christ, 1 Paner A. & Paner H.: Gdanszczanie na pielgrzymkowych szlakach w XIV i XV wieku, Gdansk srcdniowicczny w swietle najnowszych badan archeologicznych i historycznychl998, 167-183, 168. 2 SPENCER B.: Medieval Finds from Excavations in Ixmdon: 7 Pilgrim Souvenirs and secular badges, London 1998, 1. 3 RUDKOWSKI M.: Pielgrzymki mieszkancöw sredniowiecznych miast poludniowego wybrzeza Bahyku w swietle znalczisk znaköw pitfniczych. Wst^p do badan, Kwartalnik Historii Kullury Ma- terialncj 2/2004, 153-188, 153. 4 Spencer 1998, s. 1. Pilgrim badges depicting the Virgin Mary 191
or other cult objects housed in the particular shrine to which pilgrimage was made. The earliest examples take the form of a sturdy badgc with a relief image on one side. In later years openwork badges became populär, often featuring a backing made of coloured paper. Badges bought as evidencc of having visited a holy place were sewn onto clothing in an readily visible position - usually on a hat, a hood collar or a traveller’s bag. As a result pilgrims could casily be distinguished from ordinary wayfarers. Analysis of the depictions on these badges makes it possible to identify the geographical destinations to which pilgrimages were made and to trace the spread of a given cult; it can also offer a significant contribution to research into the iconography of saints. Excavations carricd out by Gdansk Archaeological Museum within the historic districts of the city from 1993 to 2008 yielded nearly 1000 artefacts associated with pilgrimage. Over 200 of these are typical pewter pilgrim badges depicting the Virgin Mary. They were recovered from occupation levels predominantly dating from the 14th- 15th Century. Most of the Marian badges camc from sites located along the River Motlawa, with two places being particularly conspicuous in terms of the quantities discovered there: Granary Island and the territory of the medieval shipyard on Lastadia Street. The most frequently noted form among the badges recovered is rectangular with a triangular top surmounted by three crosses, the Virgin Mary being depicted in relief, seated on a throne with the Child Jesus on her left arm. Originally, each badge had four attachment loops. The reverse side of the badge features a raised diagonal lattice, which was probably meant to reinforce the relatively thin, and hence easily damaged, metal plate. In most instances the picturc is very crudely made and poorly proportioned - the Child almost being 1 arger than the Virgin. A common feature of all badges of this type is the presence of a crown on Mary’s head, taking the form of three or more pearl-topped pinnacles (Figs. 1-2, 6) or lilies (Figs. 3, 5). The Child is portrayed with a halo (Figs. 1-2, 5-6), or crown compri.sing three triangular pinnacles (Fig. 3). In several instances a long plant motif symbolising the biblical Tree of Life fills the spacc between the figures and the edge of the framc on one or both sides (Figs. 2-6). In most badges of this vari- ety the Virgin holds an orb in her right hand (Figs. 1-3, 5-6). A single example was noted of a badge depicting Mary with the Child wrapped in swaddling resting on her lap (Fig. 4). She has a lace bonnet on her head, with a veil cascading from beneath it. The Child wears a cap with a frillcd edge forming a small crown over his forchead. Mary is shown herc seated on an arched elevation, the space between the edge of the badge and the figures being filled with the traditional plant motif. 192 Henryk Pa ne r/ Ewa Trawicka
Fig. 1 Fig. 2 Fig. 3 Pilgrim badges depicting the Virgin Mary 193
The absence of any inscriptions and the multitude of Marian shrines through- out medieval Europe make it difficult to pinpoint exactly which shrine the badges found in Gdansk came from. Some researchers belicvc that they could be attribut- able to one of the largest medieval centres of pilgrimage - Aachen (Aix-la- Chapclle)5, where the four great Aachen relics are held: the swaddling clothes of the Child Jesus, Christ’s loincloth, St. John the Baptist’s beheading cloth, and the cloak said to havc been worn by the Virgin Mary on the night she gave birth to Jesus. Indecd, similar badges have been found in many European cities, particu- larly on the Baltic coast6; howcver, in most cases they differ significantly from the Gdansk examples, both in terms of form and picture details. This is noticeable, above all, in the greater attention paid to the representation of the Virgin and Child, who are less schcmatically modelled with a bctter sense of proportion and with the folds of their robes delineated. There are also distinct differences in the iconographic details of thcse badges - instcad of an orb Mary holds a lily sceptre in her right hand, the Child holding an orb in his left hand. The characteristic tri- angular top of these badges also differs from that noted on the ones found in Gdansk - the three crosses are often replaced by three filigree turrets. A solitary example of a badge of this type was discovered during excavations on Klesza Street in Gdansk (Fig. 7). In addition to the aforementioned discrepancies in form and iconographic detail, its Aachen provenance is further suggested by the pres- cnce of a letter A in Gothic majuscule above the Virgin’s head. The Gdansk Collection of pilgrim badges, numbering over 600 items, is one of the largest in Europe. To-date 27 shrines have been identified from this assem- blagc, the majority in Germany, though there are also some from distant centres such as Canterbury in England, or Rome and Lucca in Italy. Fig. 4 and Fig. 7 5 Rudkowski 2004, 171. 6 Beuningen HJ.E, KOLDEWEIJ A.M. & Kicken D.: Heilig en Profaan 2. 1200 laatmiddeleeuw.se insignes uit open bare en parliculiere collecties, Rotterdam Papers 12. Cothcn 2001, 343, Alb. 1429-1430; CIIOINSKA-BOHDAN E.: Znaleziska o charakterze kultowym z Gniewa, Pomorania Antiqua XIII 1988, 199-231,218; REBKOWSKI 2004, 170-171. 194 Henryk Peiner/ Ewa Trawicka
Pilgrim badges depic ting the Virgin Mary 195
Die Schreinmadonnen des Deutschordenslandes Preußen Gudrun Radler L Zum Typus der Schreinmadonna Die Schreinmadonna ist eine thronende oder stehende Marienfigur, die sich triptychonartig öffnen läßt. Im geöffneten Zustand werden der Corpus und ein Flügelpaar sichtbar. Seit Menschengedenken ist der Wunsch in Brauch und Kult lebendig, wertvolle, dem Einzelnen oder der Gruppe bedeutende Dinge, in Käst- chen, in Schränken und Schreinen zu verwahren und zu verschließen, um das Behältnis an bestimmten Tagen, bei besonderen Anlässen oder zu Festzcitcn zu öffnen und die darin verborgenen Gegenstände zu zeigen, zu schauen und zu ver- ehren. Der Vorgang des Schlicßcns und Öffnens hat kultischen Charakter.1 2 Die Skulptur steht im Raum und schafft selbst Raum. Sie beinhaltet Heiliges. Im geöffneten Zustand stellt die Schreinmadonna das innere Gehäuse, den Inhalt, das Heilige aus. Durch die Möglichkeit, den Schrein zu verschließen, wird die Heiligkeit des Ortes erhöht. Das Heilige im Innern der Schreinmadonna ist nicht allzeit zu schauen, so daß die ,mystische Komponente4 eine Steigerung erfährt." II. Entwicklung und Verbreitung Der Anfang der Entwicklung des Schreinmadonnentypus zeichnet sich um 1200 im Herzen Frankreichs ab. Von hier aus verläuft strahlenartig, in alle Him- melsrichtungen weisend, die weitere Typenbildung mit neuen Varianten, die ihrer- seits wieder vorbildlich werden.3 Von den Darstellungen im Innern der Schreinmadonnen ausgehend ergeben sich drei große Gruppen: die Gruppe der Passion (Frankreich, Schweiz und Spa- nien), die Gruppe des Marienlcbens (Spanien) und diejenige der Trinität mit drei Varianten. Alle Schreinmadonnen der Gruppe der Trinität stellen im Innern mittig - vor dem Corpus der Figur - die Dreifaltigkeit (den Gnadenstuhl) aus. Zwei Varianten ergeben sich über die gemalten Darstellungen auf den Flügelinnensei- ten. Die erste Variante zeigt in Malerei Szenen aus dem Leben Christi (Frankreich 1250-1400). Die zweite Variante stellt die Verkündigung - den Engel auf der linken Flügclinnenseitc und Maria auf der rechten - oder jeweils einen Engel auf den Flügelinnenscitcn dar (Frankreich, Schweiz, Ober- und Mittclrhcin 1320- ca. 1450). Die dritte Variante - eine sehr kreative Weiterentwicklung - vermittelt die Gruppe des Dcutschordcnslandcs (1395-1410/20). Hier vollzieht die Schrein- madonna eine geniale Verbindung von drei Andachtsbildcrn, nämlich der thro- 1 Gudrun Radler, Die Schreinmadonna, „Vierge Ouvranie“, von den bernhardinischen Anfängen bis zur Frauenmyslik im Deuischordensland, 1990, S. 12. 2 Marga Weber, Baldachine und Siatuenschreine, Diss. Frankfurt a.M. 1982, masch. geschr., S. 79. 3 Gudrun Radler (wie Anm. 1), S. 12. Die Schreinmadonnen des Deutschordenslandes Preußen 199
nendcn Muttergottes im geschlossenen Zustand mit der stehenden Schutzmantel- madonna und dem Gnadenstuhl im geöffneten. III. Theologischer Hintergrund Die überlieferte Aufstellung der ältesten Schreinmadonnen in Klöstern adliger Ordensgründung und königlicher Stiftungen in Frankreich und Spanien, die be- sondere Marienverehrung in Spanien, das Auftreten der Schreinmadonnen im Gebiet des Oberrheins zur Zeit der deutschen Mystik und die spezifische Formu- lierung der Schreinmadonna um 1400 im Deutschordensgebiet lassen Schwer- punkte erkennen, die eng im Zusammenhang mit der religiösen und kulturellen Geisteshaltung der jeweiligen Zeit und in den jeweiligen Gebieten stehen.4 Das Deutschordensgebiet wurde am Ende des 14. Jahrhunderts von einer spä- ten Welle der Mystik erreicht, die nicht ohne Rückblick auf das Wirken und die Schriften der heiligen Birgitta von Vadstena (ca. 1302-1373) betrachtet werden kann. Birgittas innige Marienverehrung sollte für das nachfolgende Jahrhundert von großer Bedeutung werden. 1346 gründete Birgitta von Schweden einen Dop- pclklostcrorden, der Maria und den Leiden Christi geweiht war. Die Leitung über die Nonnen sowie die Priester und Brüder der Doppelklöster ihrer Ordensgrün- dung oblag der Äbtissin, die als Stellvertreterin Mariens galt.5 Birgittas Bücher der „Revelationes“ sind Zeugnis für eine mütterlich vertiefte Brautmystik. Bald lagen Birgittas „Revelationes“ im Deutschordensgebiet vor. Nach dem Tod Birgittas in Rom 1373 wurden ihre Gebeine nach Schweden überführt. Im Mai 1374 hielt sich der Leichenzug in Danzig auf. Die Mystikerin des Deutschordenslandes, Dorothea von Montau (1347-1394), hat dieses Ereignis miterlebt. Die heilige Birgitta wurde zum Vorbild Dorotheas.6 In Johannes von Marienwerder (1343-1417) - Universitätsprofessor in Prag, Dekan des pomesanischen Domkapitels, hervorragender Philosoph und Theologe7 8 - fand Dorothea einen gebildeten Beichtvater, der ihr Leben und ihre Offenbarun- gen auf zeichnete und diese nach Dorotheas ausdrücklichen Wunsch in Einklang mit der Heiligen Schrift brachte, „damit nicht durch sie (Dorothea) ein Irrtum auf Erden“ zurückbliebe. Mit der von Johannes von Marienwerder niedergeschriebe- nen Lebensbeschreibung der Dorothea von Montau wurde ein bedeutender Beitrag zum frühen deutschen Schrifttum im Deutschordensgebiet geleistet, der in unmit- telbarem Zusammenhang mit der deutschen Frauenmystik steht.9 Ganz im Sinne der deutschen Mystik nimmt Dorothea Bezug auf die Einwohnung der Trinität in 4 Radler, Gudrun (wie Anin. 1), S. 13. 5 Hans We.STPEAHL, Drei große 1'rauen im vierzehnten Jahrhundert, in: Der Dorotheenboie, Heft 27, 1970, S. 147. 6 Radler, Gudrun (wie Anm. 1), S. 23f. 7 Hans We.STPEAHL, Johannes von Marienwerder, in: Christian Krollmann (Hg.), Altpreußische Biographie, 1. Bd., Marburg a.d.L. 1974, S. 3O5f. 8 I-ranz UlPLER, Johannes Marienwerder, der Beichtvater der seligen Dorothea von Montau, ergänzt durch Hans WESTPEAHlVHans SCHMAUCH (Hg.), in: Zeitschrift für die Geschichte und Altertums- kunde Ermlands, 29. Bd., 1960, S. 69. 9 Gudrun Radler (wie Anm. 1), S. 24. 200 Gudrun Radler
der einzelnen Seele.10 „Das Werk der heiligen Dreifaltigkeit in Maria setzt sich aus der Sendung Gottes, der Inkarnation Christi und aus der Heiligung durch den Heiligen Geist zusammen“.11 Dorothea von Montau nimmt eine Sonderstellung unter den Visionärinnen ein, als sie einerseits einer Großbauernfamilie entstammte und nicht dem Adel oder Patriziat, wie die meisten Seherinnen und Visionärinnen des Hochmittelalters, andererseits zudem in keiner klösterlichen Gemeinschaft lebte, welches sonst als beste Voraussetzung für Visionärinnen galt.12 Sie konnte weder schreiben noch lesen. „Lehre und Unterweisung empfing sie allein durch die christliche Umwelt.“13 Sie verbrachte ihre letzten eineinhalb Jahre als Reklusin in einer Klause am Dom zu Marienwerder. Wie zahlreich die auf Dorotheas Fürbitte von Gott gewährten Gebetserhörun- gen waren, zeigen die Akten des seinerzeit nicht zum Abschluss gekommenen Ka- nonisationsprozesses, der im päpstlichen Auftrag ab 1404 Zeugenaussagen auf- nahm, nachdem die Heiligsprechung 1395 von den Bischöfen von Pomesanien, Kulm, Ermland und Samland, dem Hochmeister Konrad von Jungingen sowie ihren Beichtvätern in Rom beantragt worden war.14 Die Kanonisation Dorotheas von Montau erfolgte erst nach mehreren Jahrhunderten, und zwar am 9. Januar 1976 durch Papst Paul VI. auf Grund von Initiativen, die im wesentlichen von den Theologen und Textherausgebern, Hans Westpfahl und Richard Stachnik, ergrif- fen wurden.15 IV. Die Schreinmadonnen des Deutschordenslandes 1. Die kreative Umgestaltung der Schreinmadonna im geöffneten Zustand Die Schreinmadonnen dieser Gruppe vollziehen, wie erwähnt, eine geniale Ver- bindung von drei Andachtsbildern, nämlich der thronenden Muttergottes im ge- schlossenen Zustand mit der stehenden Schutzmantelmadonna und dem Gnaden- stuhl (Dreifaltigkeit) im geöffneten. Der vollrunde Gnadenstuhl, auf einen Sockel gestellt, ist dem Innern derart eingepasst, dass er den Unterkörper des Schutz- mantelbildes verdeckt. Die Schutzmantelmadonna breitet ihre im Relief ausge- führten Arme aus, die ab den Ellbogen von den Flügelinnenseiten der Schreinma- donna aufgenommen werden. Die Hände liegen in den äußeren, oberen Ecken der 10 Max TOPPEN (Hg.), Das Leben der heiligen Dorothea von Johannes Marienwerder, in: Scriptores rcrum Prussicaruin, 2. Bd., 1863, S. 243. 11 Jean Gerson, Oeuvres completes, L’Oeuvre fran^aise, Sermons et Discours (340-398), Glorieux (Hg.), 7. Bd., Paris/Tournai/Rom/New York 1968, S. 67If. 12 Peter DlNZELBACHER, Vision und Visonsliteratur im Mittelalter, Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 23. Bd., Stuttgart 1981, S. 224. 13 Hans WESTPFAHL, Die Geistesbildung der seligen Dorothea von Montau, in: Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ennlands, 29. Bd., 1957, S. 172. 14 Richard STACHNICK (Hg.), Die Akten des Kanonisalionsprozesses Dorotheas von Montau von 1394 bis 1521, in Zusammenarbeit mit Anneliese TRILLER, geb. Birch-Hirschfcld, und Hans Westpfahl, Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands, Bernhard STASIEWSKI (Hg.), 15. Bd., Köhi/Wicn 1978, S. XVIIf, S. 509ff. 15 Hans Westpfahl und Richard Stachnik waren die Herausgeber des „Dorotheenboten“, der mit der Heiligsprechung der seligen Dorothea von Montau seine Aufgabe erfüllt hatte und dann eingestellt wurde. Leo JUHNKE (neuer Hg.) von Philipp FUNK, Zur Geschichte der Frömmigkeit und Mystik im Ordenslande Preußen, in: Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ennlands, 30. Bd., H. 1, in der ganzen F.H. 89, 1960, Anm. (95) auf S. 35f. Die Schreinmadonnen des Deutschordenslandes Preußen 201
Flügel und verweisen auf das Ausbreiten des Mantels. Das Mantelfutter der Schutzmantclmadonna ist durch in den Goldgrund punzierte, rechteckige Fellteile bezeichnet, wobei auch die Flächen oberhalb der Unterarme Mariens berücksich- tigt werden. Das erklärt, wie der Mantel als Hülle der geschlossenen Schreinma- donna aufgefasst werden will. Das Marienkleid des Schutzmantelbildes liegt eng am Körper an. Die Ärmel laufen über dem Handgelenk Mariens glockenförmig aus - in sogenannten Muffen. Das eng anliegende Kleid der Schutzmantelmadon- na und die Muffen weisen auf modische Details um 1400 hin.16 Die Schreinmadonnen des Deutschordenslandes stellen im geschlossenen Zu- stand durchgängig die thronende Muttergottes mit dem stehenden Kind auf dem rechten Knie der Mutter dar. Lediglich die Schreinmadonna in Kopenhagen macht eine Ausnahme. Hier steht das Kind auf dem linken Knie der Mutter. Die Art, wie das Kind mit dem rechten Händchen den Zeigefinger der Mutter greift, zeigen alle Beispiele. Eine Ausnahme bildet abermals die Schreinmadonna von Kopenhagen. Hier sind die beiden Unterarme des Kindes und die rechte Hand der Muttergottes abgebrochen. Stilistisch vertreten die Schreinmadonnen dieser Gruppe den soge- nannten Weichen Stil (1395-1420). 2. Aufstellungsort und Funktion der Schreinmadonna im Deutschordensgebiet In den Kapellen der Ordensburgen werden die Schreinmadonnen auf dem Al- tar gestanden haben oder in einem Altaraufsatz eingebracht gewesen sein, wie es bei der Schreinmadonna von Elbing anzunehmen ist. Anfang des 16. Jhs. fand die Schreinmadonna von Elbing ihre Aufstellung als zentrale Figur im Hochaltar der Marienkirche in Elbing. Dass Schrcinmadonncn dieser Gruppe auch als Reisealtä- re fungierten, vermutet Fries.17 Hierfür käme einzig und allein die nur 44,5 cm hohe Schrcinmadonna im Musee de Cluny, Paris, in Frage. Die anderen Beispiele der Deutschordensgruppe wären aufgrund ihrer Größe und der wertvollen Fassung nicht unbedingt für einen Transport geeignet gewesen. Die Möglichkeit des Öffnens und Schließens verleiht der Schrcinmadonna kulti- schen und damit liturgischen Charakter. So konnte das Innere der Skulptur mit sei- nen Darstellungen und den jeweiligen Inhalt berücksichtigend, zu bestimmten Stun- den, an bestimmten Tagen und zu Festzeiten wechselweise gezeigt werden. Hier sei an die fcstgelcgtcn Stundengebete im Kloster, an die Marienhorcn und -festtage, den Drcifaltigkcitssonntag sowie an die beiden großen Feste des Kirchenjahres, das Weihnachts- und das Osterfest, erinnert. Die Schreinmadonna in Sejny veranschaulicht, wie früh sich das Sammlerwe- sen dieser Objekte bemächtigt hat und wie ein mittelalterliches Kultbild eine adä- quate Ncuaufstcllung mit zentralem Thema in einem Barockaltar Enden konnte. 16 Eirika TlUEL, Geschichte des Kostüms, Wilhelmshaven, 1980, 5. Aull., S. 133. 17 Walter b’RlliS, Die Schreinmadonna, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums, 1928/29, S. 16 und Anm. 28a auf S.59. 202 Gudrun Radler
Katalog: Die Schreinmadonnen des Deutschordenslandes Die thronende Muttergottes mit dem auf ihrem rechten bzw. linken Knie ste- henden Kind - bei geöffneten Flügeln wird die thronende Muttergottes zu einer Schutzmantelmadonna. Im Innern - in der Mitte: Gruppe der Dreifaltigkeit (Skulptur). Innenseiten der Flügel: Schutzflchende (in Malerei) ]) Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, Inv. Nr. PI. 2397 um 1395, Höhe: 126 cm, Material: Lindenholz Fassung: Vergoldung mit Zwischgold (über Silber gelegtes Gold) Provenienz: Westpreußen (Roggenhausen bei Graudenz) Die Schreinmadonna war 1926 aus dem Amsterdamer Kunsthandel erworben worden und kam als Jubiläumsgeschenk einer Nürnberger und auswärtigen Ban- ken anlässlich des 75jährigen Bestehens des Germanischen Nationalmuseums in die Sammlung. Im Innern der Schreinmadonna fand man einen polnisch, um 1732 abgefassten Brief des Schlossherrn Adam Bialoblocki von Roggenhausen an die Bolemienski auf Preußisch-Trzcianie bei Briesen. Roggenhausen ist nördlich von Graudenz gelegen und Briesen im Kulmer Land. Damit ist die Herkunft der Schreinmadonna aus Westpreußen belegt und die Aufstellung in der Burgkapelle von Roggenhausen, zumindest bis zur Mitte des 18. Jhs., anzunehmen. 2) Musee de Cluny, Paris, Inv. Nr. 12.060 um 1400, Höhe: 44,5 cm, Material: Lindenholz Fassung: mit Vergoldung Provenienz: Westpreußen Die Schreinmadonna ist 1890 vom Museum erworben worden. Der Gekreuzig- te des Gnadenstuhls (im Innern) ist durch eine Elfenbeinfigur aus dem späten 17. Jh. ersetzt. 3) Klonowken/Treugenhof/Klonöwka, Diözesanmuseum Pelplin, Polen um 1400, Höhe: 45 cm, Material: Holz Fassung: mit Vergoldung und Übermalung Provenienz: Pfarrkirche, Klonowken/Treugenhof, ehern. Westpreußen Lit.: Roman Ciecholewski, Quis ut Deus, Wer ist wie Gott, Schätze aus dem Diözesanmuseum Pelplin, 2000, Abb. S. 34, Text S. 168 Ausstellung im Ostpreußischen Landesmuseum, Lüneburg, 3.2.-27.5.2001 4) Liebschau/Lubiszewo Tczewskie, Diözesanmuseum Pelplin, Polen um 1400, Höhe: 87 cm, Material: Holz Fassung: mit Vergoldung und teilweise Übermalung Provenienz: Dorfkirche Liebschau, ehemals Westpreußen Lit.: Roman Ciecholewski, Quis ut Deus, wie oben, Abb. S. 32 und 33, TextS. 167. Ausstellung im Ostpreußisches Landesmuseum, Lüneburg, 3.2.-27.5.2001. Die Schreimnadonnen des Deutschordenslandes Preußen 203
5) Elbing/Elblqg, Polen Ursprünglich für die Kapelle der Deutschordensburg in Elbing bestimmt, fin- det sich die Schreinmadonna nach 1500 im Hochaltar der Dominikaner-Klos- terkirche in Elbing wieder. 1525 wird diese zur evangelischen Hauptkirche St. Marien in Elbing. Seit 1945 galt sie als verschollen. „Die Odyssee der ,Eibingerin4 beginnt mit der Kriegszerstörung der Stadt Elbing. Ausgelagert in einem thüringi- schen Salzschacht, gelangt sie in die Scheune eines Bauern und 1948 in die katho- lische Kirche von Vacha. Erst in den 1990er Jahren wird ihre Identität offenbar.“ Ausstellung im Ostpreußischen Landesmuseum, Lüneburg, 3.2.-27.5.2001. Seit 2004 als Dauerleihgabe der UEK (Union Evangelischer Kirchen) im Ost- preußischen Landesmuseum, Lüneburg. - 1402, Höhe: 140 cm, Material: Holz Fassung: mit Vergoldung Provenienz: sehr wahrscheinlich Schlosskapelle der Burg Elbing Renovierung wahrscheinlich zwischen 2001 und 2004 in Fulda 6) Sejny, bei Suwatki, Polen, Pfarrkirche St. Georg (seit Anfang des 17. Jhs.) um 1410, Höhe: 114 cm, Material: Lindenholz Fassung: Das Marienkleid ist weiß und der -mantel blau, das Gewandes Kindes rosa angegeben. Das Gesicht und die Mondsichel an der Vorder- fläche der Fußbank sind vergoldet, die Wolkenbänder versilbert. Provenienz: Danzig oder Königsberg. Restaurierung: 1967 in Warschau Beschädigungen: Die Kronen von Mutter und Kind sowie der Kruzifixus und die Taube des Hl. Geistes im Innern sind spätere Ergänzungen (des Barock). Die Schreinmadonna wurde am Anfang des 17. Jhs. von Georg Grodzinski in Danzig oder Königsberg erworben (Brosig, S. 111). Der Starost Grodzinski war Forstwart des Polomsker Urwaldes und ließ in den ersten Jahrzehnten des 17. Jhs. das Dominikanerkloster St. Georg in Sejny errichten. Während der Schwedenkrie- ge wurden im Jahre 1655 die Klostergebäude zur Hälfte zerstört. Nur die Kirche hatte sich erhalten. Der Wiederaufbau der Anlage im 18. Jh. bedeutete eine Erwei- terung des Kirchengebäudes um das Doppelte. Zurzeit ist die Kirche Pfarrkirche. Im Innenraum der Kirche hängt rechts neben dem Eingang an der Westseite das Bildnis des Gründers mit den Aufschriften links oben: rechts unten: VERA EFFIGIES MUNIFICEN- TISSI, HUIUS CONVENTUS FUNDTORIS Vixit Annos 65 obyt die 12 lanu A.D. 1663 GEORGIUS GRODZINSKI FUNDATOR SEINENSIS 204 Gudrun Radler
Hoch oben im Barockaltar der rechten großen Seitenkapelle ist die Schreinma- donna eingebracht. 7) Kunstindustrimuseet Kopenhagen, Inv.Nr. A33 um 1420, Höhe: 88,5 cm, Material: Lindenholz Fassung: Ursprünglich vermutlich mit Vergoldung (Zwischgold?), der Corpus im Innern mit Zwischgold. Provenienz: Westpreußen Restaurierung: 1956-1958 durch die Restauratoren Poul Lunge und Steen Bjamhof Beschädigungen: der Fassung und an der vorderen Mitte der Fußbank. Die beiden Unterarme des Kindes und die rechte Hand der Muttergottes sind abgebro- chen. Im Innern fehlen der Kruzifixus und die Taube des Hl. Geistes. Die Schreinmadonna konnte 1928 vom Museum in Kopenhagen für 2.500 Kronen von einem gewissen Damgaard in Trondheim erworben werden (Inventar- verzeichnis des Museums A 1928-35). Die Schreinmadonnen des Deutschordenslandes Preußen 205
Abb. 1: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg (alle Abbildungen Archiv G. Radler) 206 Gudrun Radler
Abb. 2: Musee de Cluny, Paris Die Schreinmadonnen des Deutschordenslandes Preußen 207
Abb. 3: Klonowken/Treugenhof/Klonöwka, Diözesanmuseum Pelplin 208 Gudrun Radler
Abb. 4: Liebschau/Lubiszewo, Diözesanmuseum Pelplin Die Schreinmadonnen des Deutschordenslandes Preußen 209
Abb. 5: Elbing/Elblqg, siehe Farbtafel 17 210 Gudrun Radler
Abb. 6: Sejny, bei Suwatki, Pfarrkirche St. Georg Die Schreininadonnen des Deutschordenslandes Preußen 211
Abb. 7: Kunstindustrimuseet Kopenhagen, Inv.Nr. A33 9 19 Gudrun Radler
Ein unbekannter Pietätypus in der Kirche von Osterode/Oströda Künstlerische Spuren der Spiritualität des Deutschen Ordens?1 Anna Blazajewska Auf dem Gebiet des Ordensstaates in Preußen ist uns aus dem Mittelalter eine Reihe von „einmaligen“ Werken bekannt, sowohl im Sinne der ikonographisehen Gestaltung wie auch der Typen: Zu erwähnen ist hier die Madonna der Ostnische der Marienburger Schlosskirche, das Tympanon des Burgtors zu Birglau/Bierz- glowo, ikonographische Modifikationen des Typs der Schreinmadonnen usw. Der vorliegende Beitrag hat zum Ziel, ein weiteres und - wie es scheint - ein- zigartiges Werk zu präsentieren, das bisher kaum bekannt ist. Es handelt sich um ein erstklassiges Denkmal der gotischen Schnitzkunst - eine Pieta, die sich heute in der neugotischen Kirche in Osterode/Ostroda befindet (Abb. 1-4).2 3 Diese klei- ne, ca. 1 m hohe Holzskulptur zeichnet sich durch die überaus individuelle Inter- pretation eines im Spätmittelalter populären Themas aus, das der schmerzerfüllten Gottesmutter mit dem Leichnam ihres Sohnes, der so genannten Pieta. Die Oste- roder Skulptur erscheint in der Forschung indes als „problematisches Werk“, und zwar aus einigen Gründen: Wir kennen seine Geschichte nicht, wir wissen nicht, für wen es bestimmt war, wo und wie es gebraucht wurde. Wir sind auch nicht imstande, es den bekannten Kompositionstypen der Pieta eindeutig zuzuordnen. Spärliche Informationen über die Geschichte dieser Skulptur stammen erst aus dem 20. Jahrhundert. Wir wissen nur, dass sie zu Beginn des vergangenen Jahr- hunderts in der Kirche in Dietrichswalde/Gietrzwald, vergessen und im schlechten Zustand, aufgefunden wurde. In die Fachliteratur wurde die Skulptur von Martin Konrad, einem Berliner Kunsthistoriker, eingeführt4, der ihren hohen künstlerischen Wert erkannte, sie in die Mitte des 14. Jahrhunderts datierte und darin gewisse Verbindungen zu der Pieta Röttgen im Bonner Landesmuseum sehen wollte. Sie wurde dann noch mehrmals erwähnt, doch hauptsächlich in Schrifttum von regionaler Reichweite. 1 Übersetzung: Jozef Jarosz 2 Ich habe ihr meine unlängst herausgegebene Monografie: A. Blazejewska, Gotycka rzezba Marii z cialem Chrystusa z Oströdy. Plastyczna interpretaeja wizji mistycznej, Torun 2005, gewidmet. 3 Vgl. die Zusammenstellung der Typen besonders bei: W. PASSARGE, Das deutsche Vesperbild im Mittelalter, Deutsche Beiträge zur Kunstgeschichte I, Köln 1924; F.C. SCHNEIDER, Die mittelalter- lichen deutschen Typen und Vorformen des Vesperbildes, Phil. Diss. Kiel 1931. 4 M. KONRAD, Ein vergessenes Meisterwerk ostdeutscher Bildschnitzkunst in Osterode, in: Er- mland, mein Heimatland’, Nr. 11, Nov. 1930 [Heimatbeilagc der „Warmia“], S. 41-42; Ders., Die älteste „Marienklage“ östlich der Weichsel, in: Zeitschrift für Bildende Kunst, Jg. 65, Leipzig 1931/32, S. 169-172. DERS., Niederdeutsches um Osterode. Von der ältesten „Marienklage“ öst- lich der Weichsel bis zu Andreas Schlüter, Osterode 1933. Ein unbekannter Pietätypus in der Kirche von Osterode/Ostroda 213
Abb. 1 -4, Pietä von Osterode/Oströda 214 Anna Blazajewska
Am stärksten mcinungsbildend erwies sich die These Karl Heinz Clasens5, der sie in seiner Arbeit von 1939 mit dem preußischen Kreis der Löwenmadonnen verknüpfte und auf die Wende zum 15. Jahrhundert datierte. Dieser Standpunkt und insbesondere die Datierung - Ende des 14. Jahrhundert bzw. um 1400 - wur- de von der späteren Literatur übernommen.6 Obwohl viele Autoren auf die ungewöhnliche Expressivität des Werkes ver- wiesen haben, hat man ihm bis zum Erschienen meiner Monografie keine Auf- merksamkeit mehr geschenkt. Seine künstlerische Struktur ist tatsächlich unge- wöhnlich. Es handelt sich um eine Skulptur mit einer dynamischen, offenen Form, die auf die Emotionen des Betrachters stark einwirkt, und zwar sowohl auf der darstellenden wie auch der rein formalen Ebene. Es herrschen eine theatralische Dramatik der Gebärde und eine punktuell aufgefasstc Bewegung vor. Der Leib Christi ist unnatürlich bogenförmig gekrümmt, sowohl was die Fläche als auch den Raum anbetrifft. Er „umhüllt“ und verdeckt Maria, und gleichzeitig wird er von Maria den Zuschauern präsentiert. Es handelt sich also um eine Art ostentatio Christi. Dabei wurde hier zusätzlich der Schwerpunkt auf die Präsentation der Wunden gelegt: Die Wunden, die sowohl von Christus vorgezeigt werden - indem seine Hände und Füße so dargestellt sind, dass sie sich im Blickfeld des Betrach- ters befinden, ohne dass dieser den Betrachtungspunkt gegenüber der Skulptur verändern muss - wie auch von Maria, indem sie den Leib Christi zum Betrachter hinneigt und mit der Hand die Wunde in seiner Seite berührt. Rein formal betrach- tet schafft dies eine durchbrochene bildhauerische Form mit zahlreichen rich- tungsabhängigen Spannungen, einander durchdringenden Formen, die einen komplizierten, stark gegliederten Körper bilden. Der Stil der Osteroder Pieta erlaubt cs, sie dank solcher Merkmalen wie der Entmaterialisierung der Leiber, die fast „ausgedörrt“ erscheinen, der schlanken Proportionen, bei gleichzeitig effektvoller, eleganter Gestaltung der relativ reich gefalteten Gewänder und Weichheit der Modellierung dem Wirkungskreis der Skulptur der Straßburger Tradition zuzuordnen. Gewisse Details der bildhaueri- schen Gestaltung - Typus und Modellierung des Gesichts, bestimmte Faltentypcn und -würfe - legen ihre nähere Beziehung zu jenen Werkstätten der Straßburger Tradition nahe, die mit der Ausführung des bildhauerischen Dekors der Kirchen in Esslingen, Rottweil (Abb. 5-6) oder des Lektoriums in Oberwesel im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts beschäftigt waren.7 Die von mir festgestelltcn zahlrei- chen stilistischen Analogien zwischen der Osteroder Pieta und diesen Werkstätten erlaubten es, unsere Skulptur spätestens kurz nach Mitte des 14. Jahrhunderts zu datieren. 5 K.H. CLASEN, Die preußischen Werkstätten des Löwcnmadonnenstiles und ihre Auswirkung auf die Nachbarräumc, in: Die Hohe Straße, Bd. 1, 1938, S. 86-100, hier S. 97. DERS., Die mittelalter- liche Bildhauerkunst im Deutschordensland Preußen. Die Bildwerke bis zur Mitte des 15. Jahr- hunderts, Bd. 1-2, Berlin 1939, Bd. 2, S. 90-95 u. 340. 6 Ich verweise hier auf meine Monografie, BLAZEJEWSKA (wie Anm. 2), Kapitel: Stan badah/For- schungsstand, S. 1 Iff. 7 Dem stilistischen Ursprung der Osteroder Skulptur widmete ich einen getrennten Abschnitt in meiner Arbeit, BLAZEJEWSKA (wie Anm. 2), S. 52ff. Ein unbekannter Pietätypus in der Kirche von Osterode/Ostroda 215
Abb. 6: Rottweil, Christus, 1340/50 Abb. 7: Pietä aus Unna Abb. 8: Pietä aus Geisenheim (Oestrich?), ca. 1400 oder 1420 216 Anna Blazajewska
Unter Berücksichtigung einer solchen Datierung sollte das Kompositions- schema der Osteroder Skulptur als individuelle und zweifellos neuartige Lösung anerkannt werden, insbesondere mit ihrer untypischen, dynamischen Auffassung des Leibes Christi - sie geht nämlich der Reihe der späteren Pietas des diagonalen- dynamischen Typus voraus, wie z. B. der Pieta aus Unna, datiert auf die Jahre 1380-1420 (Abb. 7), der aus Geisenheim (Oestrich?) um ca. 1400 oder 1420 (Abb. 8) und der aus Beckum aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Abb. 9: Pietä der Martinskirche in Kleve-Griethausen Besonders zahlreiche Beispiele finden sich gegen Ende des 15. und zu Anfang des 16. Jahrhunderts, als dieser Typus sehr populär wurde. Hier sollen nur die Pietä aus der Jacobskirche in Goslar, die Pietä des „Meisters aus Osnabrück“ im Landesmuseum zu Münster, die Pietä von Peter Breuer in der Marienkirche in Zwickau, die Pietä der Martinskirche in Griethausen aus der Werkstatt H. von Holts genannt werden (Abb. 9). Ist die Osteroder Pietä ein frühes Beispiel einer Tendenz, die sich deutlicher in den oben genannten späteren Realisationen offenbart, nämlich einer „Dynamisie- rung“ der Anordnung des sinkenden Leibes Christi zwecks Hervorhebung des historischen Moments, als die Mutter den Leib des Sohnes unter dem Kreuz auf dem Golgatha aufnimmt?8 Forscher, welche den ikonographischen Typus der Pietä aus Unna (Abb. 7) und der ihr nahestehenden, doch kompositionsmäßig 8 Zu der mittelalterlichen Überzeugung, dass cs tatsächlich auf dem Kalvarienberg ein historisches Monument gegeben habe, das an die Aufnahme des Leibes Jesu durch Maria dort erinnerte, vgl. 1'. DOBRZENIECKI, Srcdniowieczne zrödla Piety, in: Tresci dziela sztuki, Warszawa 1969, S. 11-31. Ein unbekannter Pietätypus in der Kirche von Osterode/Oströda 217
verschiedenen Beispiele analysieren9, bezeichnen diese Werke auch - was kenn- zeichnend ist - als „Beweinungen“. Man unterstreicht dabei die Historizität der Darstellung, worauf außer der dynamischen Fassung des Leibes Jesu und der Platzierung der Maria auf einem Fels und nicht auf einem Thron, auch durch Hin- zufügung entsprechender Requisiten wie des auf Golgota hinweisenden Schädels. Bei einigen dieser Darstellungen erscheinen mehr, bei anderen natürlich weniger historische Elemente, doch ist die Absicht dieser Veränderungen deutlich erkenn- bar. Die Tendenz zur Darstellung der Pieta als eines historischen Ereignisses er- folgte in der Kunst Nordeuropas unter dem Einfluss der gemalten italienischen szenischen Beweinungen, und diese wiederum entstanden aus der Tradition der byzantinischen und italobyzantinischen Malerei.10 Die italienischen Pietä/Bewei- nungen nehmen im Gegensatz zu ihren typologischen „Urmustern“ aus der ausge- bauten narrativen Szene nicht nur zwei Gestalten heraus, Mutter und Sohn, sondern streben eine Vertikalisierung der Komposition dieser zweifigurigen Gruppe an, die in der byzantinischen Kunst durch und durch horizontal war (Abb. 10).11 Die von der Literatur als z.B. der Pieta aus Unna nahe stehend bezeichneten italienischen Beispiele (u.a. das Fresko von Sta Chiara, Neapel) sind diejenigen, die diese Kom- position so vertikalisierten, dass ihre kompositionsmäßige Ähnlichkeit mit dem nordeuropäischen diagonal-dynamischen Typus tatsächlich sehr gut lesbar ist. Abb. 10: Byzantinische Pietä/Beweinung, Kreta 15. Jh., Ikonenmuseum Recklinghausen 9 Siehe: G. JÄSZA1, Gotische Skulpturen 1300 - 1450, in: Bildhefte des Westfälischen Landesmu- scums für Kunst und Kulturgeschichte, Nr. 29, Münster 1990, S. 63 ff.; W. KÖRTE, Deutsche Ves- perbilder in Italien, in: Kunstgeschichtliches Jahrbuch der Bibliotheca Herziana, Leipzig 1937, S. 1-138. 10 JÄSZAI (wie Anm. 8), bes. S. 63f. 1 1 KÖRTE (wie Anm. 9), bes. S. 8-18. Siehe auch: G. SWARZENSKI, Italienische Quellen der deut- schen Pieta, in: Festschrift f. Heinrich Wölfflin, Dresden 1935, S. 127-134. 218 Anna Blazajewska
Abb. 11: Glasfenster Königs- felden, 1325 Abb. 12: Buchmalerei (Hs. Yates Thompson, London, Britisch Museum), Anf. 14. Jh. Die Spuren der Einwirkung des italienischen Typus können wir in Nordeuropa bereits früher vorfinden als zum Ende des 14. Jahrhunderts. Ein etwas älteres Beispiel als die Pietä aus Unna, mit deutlichen kompositionsmäßigen Bezügen zur italienischen Tradition, ist die böhmische Skulptur aus Dlouha Ves um 138O.12 Noch frühere Beispiele könnten sein: die Darstellung im Feld des Glasfensters aus 12 In der zahlreichen Literatur wird die Pietä aus Unna gewöhnlich um 1420 datiert, obwohl JASZAI (wie Anm. 8), sie viel früher datiert: um 1380. Ein unbekannter Pietätypus in der Kirche von Osterode/Oströda 219
der Kirche in Königsfelden vor der Mitte des 14. Jahrhunderts (Abb. 11) oder eine Szene in der Buchmalerei (Hs. Yates Thompson, London, Britisch Museum), die auf den Beginn des 14. Jahrhunderts (Abb. 12) datiert wird.13 Sie gehen, chrono- logisch gesehen, unserer Pieta voran und zeugen davon, dass die Inspiration durch den italienischen Typ der szenischen Beweinung früher bestand als man allgemein anzunehmen pflegt. Ob die Pieta aus Osterode also in diese Entwicklung eingefügt werden kann? Es scheint, dass diese Frage generell zu bejahen ist, doch sollte man hierbei ge- wisse recht wichtige Bemerkungen machen, die es meiner Meinung nach erlauben, die Verbindungen zwischen der Osteroder Skulptur und der obengenannten Strö- mung zu präzisieren. Beispiele der italobyzantinischen und italienischen Bewei- nungen und die dadurch angeregten kompositorischen Darstellungen aus Nord- europa lassen die Vermutung zu, dass die Vertikalisierung des Leibes Jesu ein für die späteren Darstellungen typisches Merkmal ist, d.h. die Verwandlung äußerte sich generell in der Abkehr von der horizontalen byzantinischen Bildanlage in Richtung einer solchen, in der die sitzende Maria den niedersinkenden Leib Jesu stützt.14 Unsere Skulptur würde in gewissem Sinne dieser Entwicklung vorausei- len - man vergleiche die zeitgenössischen italienischen und nördlichen Darstel- lungen. Allerdings, wenn wir die italienischen Pietä-Darstellungen (Beweinungen) mit den ihnen entsprechenden konkreten nordeuropäischen Beispielen des diago- nalen Typus zusammenstellen15, so können für unsere Pieta solche eindeutigen Urbilder kaum gefunden werden, obwohl ihr die italienische Herkunft gewisser Details zuzuschreiben ist, wie z.B. das im Verhältnis zur Mitte der 14. Jahrhun- derts kurze Perisonium Jesu (es gab solche in der italobyzantinischen und italieni- schen Malerei)16, das reiche regulär gefaltete Maphorium (auch in der byzantini- schen und italobyzantinischen Tradition bekannt und im Norden in dieser Zeit unter italienischem Einfluss erscheinend)17, oder die in der italienischen Malerei bekannte Geste Mariens, welche die Wunde in Christi Seite berührt (z.B. Giovanni da Milano, Beweinung, um 1365). In unserem zu besprechenden, vor dem Hinter- 13 Zu Königsfelden - vgl. E. Reiners-Ernst, Das freudvolle Vesperbild und die Anfänge der Pietä- Vorstcllung, Leipzig 1939, S. 24; Zu englischen Darstellungen vgl. H. WENZE1, Das Jesuskind an der Hand Mariae auf dem Siegel des Burkard von Winon 1277, in: Festschrift Hans R. Hahnloser, Stuttgart 1961, S. 251-271, hier S. 266. Der Autor suggeriert ihre italienische Herkunft. 14 Dies zeigen die Beispiele: Wandmalerei in Nerez; in Kastoria - Hagia Anargyria; in Paphos und Kustovensis (Zyprus); in Seitenszenen toskanischer Tafelkruzifixe, wie z.B.: Pisa, Sta Marta, 13. Jh.; auf dem Kreuz Enrico di Tedice auch in Pisa; in Pistoia, Dom-Kapitel; in Florenz-Akademie, Nr. 3, usw. 15 Z.B.: Unnaer Pieta, Pieta von Geisenheim und italienische Beispiele: Cecco di Pietro, Mittelteil eines Altars von 1377, Museo Civico zu Pisa; Toskanische Pieta, 14. Jh., Trapani-Museum; Nea- pel, Beweinung-Fresko zu Sta Chiara 14. Jh.; Pieta, Siena, 2 H. 14. Jh., geistlicher Traktat u.a mit dem Christuslebcn, Paris, Bibliotheque Nationale, ms. Ital. 112. Ähnlich auch andere zitierte Bei- spiele: Glasmalerei zu Königsfelden, englische Buchmalerei und italienische: Tatti bei Florenz (Sammlung Bercnsonn). Siehe: SCHWARZENSKI, wie Anm. 11, passim. 16 Vgl. die italienischen Beispiele: Giunta Pisano, Kruzifix di Ramierno, Muzeo Nazionale zu Pisa, Coppo di Marcovaldo, Salerno di Coppo, Kreuzabnahme - Dom zu Pistoia, sienesisches Dipty- chon, um 1250 (jetzt zu Bukarest) u.a. 17 Vgl. die italienischen und tschechischen Beispiele wie: das Verkündigungsrelief auf der Kanzel der S. Bartolomeokirche zu Pistoia - Guido di Como; Madonna mit Kind - Siena, Diptychon, um 1250 (jetzt London, National Gallery), Madonna mit Kind - Vigoroso da Siena (jetzt Perugia- Pinakothek); Madonna mit Kind, um 1345, Most (jetzt Nationalgalerie, Prag) u.a. 220 Anna Blazajewska
grund dieser Entwicklung relativ frühen Werk gibt vor allem die ziemlich untypi- sche Positionierung des Leibes Jesu zu denken. Sie weicht von der natürlichen Anordnung des Leibes in den genannten Beispielen aus dem Norden ab, die der italienischen Tradition entstammen. Maria in der Osteroder Skulptur präsentiert dem Zuschauer den Leib „theatralischer“, indem sie ihn nicht an sich heranzieht, wie dies bei den anderen Pietä-Darstellungen aus dem Norden der Fall ist, die von den Beweinungen herrühren. Vor allem unterschiedlich ist hier die starke Biegung des Kopfes Jesu nach hinten und nicht zur Mutter hin. Darüber hinaus liegt der Leib Jesu bogenförmig, fast in Form einer Parabel. Diese Positionierungsmerkma- le des Leibes scheinen einen anderen Ursprung zu haben als die der Beweinungen. Sie erinnern an die aus den byzantinischen und italobyzantinischen Darstellungen der Kreuzabnahme bekannte Lage des Leibes Jesu (Abb. 13).18 Wir hätten es also in unserem Fall mit dem Phänomen der Anknüpfung an ita- lienische Inspirationen zu tun, die jedoch etwas andere sind und anders ausge- drückt werden. Neben diesen „italienischen“ Merkmalen besitzt die Osteroder Pietä viel von der Tradition der visionären Pietä-Darstellungen aus dem Norden (Abb. 14): den starken Dolorismus, das Zurückwerfen des Kopfes Jesu, wie bei zahlreichen Pietä-Darstellung des abgetreppten Typus, den Thron Mariens. Sie verknüpft also gleichsam zwei Traditionen: die der visionären „Nordpietä“, und der Darstellung mit dem „szenischen“ Ursprung - aber mehr in Richtung der Kreuzabnahme als der Beweinung. Diese „Bühnenhaftigkeit“ wurde dabei zeitlich „gerafft“: Christus behält noch die Lage des vom Kreuz abgenommenen Leich- nams, präsentiert aber schon seine Wunden. Maria stützt ihm noch, doch gleich- zeitig schiebt ihn zum Betrachter hin und (auch gleichzeitig!) fasst sie mit der Hand die Wunde in der Seite. Diese „Raffung“ beeinflusst die Perzeption der Skulptur; sie wirkt auf den Zuschauer ein, rührt stark an dessen Emotionen, so dass ihre Wirkungskraft sich mit der Kraft der „drastischen“ Andachtsbilder ver- gleichen lässt, wie z.B. mit der Pietä Röttgen in Bonn oder mit dem Kruzifix in St. Maria im Kapitol in Köln. Es scheint, dass der Versuch, an die „historische“ (ita- lienische) Fassung des Ereignisses am Kreuz auf dem Kalvarienberg anzuknüpfen, in der Skulptur von Osterode in einer emotionalen Sprache ausgedrückt wurde, die in der Ausdruckskraft den Andachtsbildern des Rheinlands ähnlich ist. Vielleicht ist also die Osteroder Skulptur ein interessantes und frühes Beispiel der nordeuro- päischen Pietä-Darstellungen, wobei der Künstler die Erlebnisse Mariens auf dem Kalvarienberg über die Darstellung des dramatischen Ereignisses auszudrücken anstrebte und nicht der ahistorischen Vision.19 Vielleicht deswegen steht sie ziem- lich allein da, im Vergleich mit der Gruppe der dynamischen (diagonalen) Pietas von der Wende des 15. Jahrhunderts, und ist sie ein früher Versuch der Adaptation der italienischen Vorlagen, der Suche nach neuen Lösungen. 18 Wie z.B.: Wandmalerei zu Nerezi, zu Akwilea (Krypta), an der croci storiate in Sarzana (Dom), Pisa, Pistoia, am Diptychon von Lukka (Ufizzi), die Tafelmalerei: Pietro Rimini - Kreuzabnahme, P. Lorenzetti - Kreuzabnahme (Orsinikapelle), u.a. Es würde sich empfehlen, der Gruppe noch die be- kannte französische Elfenbeinskulptur aus den Jahren um 1260-1280, heute im Ixhivic, hinzuzufügen. 19 Zum Begriff der „visionären Pietä“ als eines für die Kunst Nordeuropas typischen Phänomens, vgl. L. Kalinowski, Geneza piely srcdniowiecznej, in: Pracc Komisji Historii Sztuki, X, 1952, S. 153-260, passim. Ein unbekannter Pietätypus in der Kirche von Osterode/Oströda 221
Abb. 13: Coppo di Marcovaldo, Kathedrale Pistoia, 2. Hälfte 13. Jh. Abb. 14: Pietä Röttgen, Landesmuseum Bonn Es scheint, dass dieses Denkmal ein neues Licht auf die Wandlungen werfen kann, denen der sehr populäre Typus des Andachtsbilds der Pietä unterworfen war. Von diesem Hintergrund ist es kaum möglich, dass eine Skulptur dieser Art für die Pfarrkirche in Dietrichswalde/Gietrzwald bestimmt gewesen ist. Sie wird in den uns bekannten Quellen zu diesem Ort nicht erwähnt. In Dietrichswal- de/Gietrzwakl befindet sich übrigens eine weitere Pietä, von Anfang des 15. Jahr- hunderts, die viel „typischer“, weil horizontal gestaltet ist, und die bis heute vor 222 Anna Blazajewska
Ort verehrt wird.20 Unsere Pietä wurde dort verwahrlost und dem Blick der Gläu- bigen entzogen aufgefunden.21 Vielleicht gelangte sie nach Dietrichswalde später und konnte wegen ihrer eigenwilligen Form keine Konkurrenz zu der hier bereits früher vorhandenen Pietä bilden. Ein Werk mit einer solch individuellen Fassung des Themas, das mit künst- lerischen Ausdrucksmitteln operiert, welche auf Emotionen und Empathie des Zuschauers einwirken sollten, mit nur kleinen Abmessungen, war wohl für indivi- duelle Andachtspraktiken bestimmt. Sie könnte solchen Zwecken in Klostcrkrei- sen gedient haben, denen der Zisterzienserinnen, der Bettelorden (Dominikaner, Franziskaner), wie auch zum privaten Gebrauch kirchlicher Würdenträger - in den Kreisen der Bischöfe oder des Deutschen Ordens. Nach unserem Wissensstand darf man in erster Linie annehmen, dass die Skulptur aus einem der Häuser klösterlicher Gemeinschaften auf dem Gebiet des Ordensstaates stammte: der Zisterzienserinnen (Kulm/Chehnno, Zarnowitz/Zarno- wiec, Königsberg/Krölewicc), der Prämonstratenserinnen (Suckau/Zukowo) oder vielleicht der Bettelorden (Kulm/Chehnno, Thorn/Toruh, Dirschau/Tczcw, Elbing/ Elblqg, Neustadt/Nowe, Braunsberg/Braniewo, Barczcwo/Bartenstein, Danzig/ Gdansk). Dies würde mit der Spiritualität dieser Kreise übereinstimmen und hätte seine Begründung im Vorhandensein geschnitzter Werke mit Andachtscharakter in zahlreichen europäischen Niederlassungen dieser Orden, insbesondere wenn wir die Entstchungszeit der Pietä aus Osterode berücksichtigen - solche Andachts- Darstellungen waren damals noch kein allgemein verbreitetes Phänomen. Diese Klöster aber lagen weit von Gietrzwald entfernt, wo unsere Skulptur auf gefunden wurde. In einen Teil davon hat sich die Ausstattung erhalten - wie z.B. in den ehemaligen Kirchen der Zisterzienserinnen in Chchnno und Zarnowicc sowie der Prämonstratenserinnen in Zukowo. Praktisch aber waren Klöster im Kernland Preußens in dieser Zeit sehr selten. Wenn wir aus den oben genannten Gründen die Möglichkeit zulasscn, dass die Osteroder Pietä aus Ordenskreisen stammt, so hauptsächlich wegen der besonde- ren Auffassung des Opfers Mariens, das mit dem des Sohnes gebracht wurde, und wir können auch annehmen, dass sie ein Denkmal sein kann, das direkt mit den Kreisen des Deutschen Ordens verbunden war. Was könnte davon zeugen? In der Geistigkeit des Deutschen Ordens wurde das Motiv der Passion Christi, auch unter dem Einfluss der Mendikantcnspiritualität, stark hervorgehoben. Die Pietä, eine Darstellung mit mariologischem Charakter, die im Falle der Osteroder Skulptur so deutlich das Opfer Christi hervorhebt, ver- eint in sich zwei charakteristische Merkmale der Ordensspiritualität: Marienvcrch- rung und Passionsfrömmigkeit.22 20 Vgl. M. NOSKOWICZ, Pamiqtka z Gietrzwaldu. Historya wioski, kosciola i cudownego objawienia Najswi^lszcj Maryi Panny w Gietrzwaldzie w roku 1877, Poznan 1918. 21 So schreibt der Provinzialkonservator der Denkmäler der Kunst und der Geschichte in Ostpreußen an den Kapitularvikar zu Frauenburg, D. Spannkrebs, vgl: Archiwum Pahstwowe/ Staatsarchiv zu Oiszlyn: Osterode, Katholische Kirche, Signatur: 367/140. 22 Vgl. Ph. Fünk/L. Junke (Bearb.), Zur Geschichte der Frömmigkeit und Mystik im Ordenslande Preußen, in: Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands 30, II. 89, 1960, S. 3-37; M. Dygo, O kulcie maryjnym w Prusach krzyzackich w XVI -XV w., in: Zapiski Historyczne 52, 1987, S. 5-38; DERS., Mnich i rycerz. Ideologiczne modele postaw w zakonic krzyzackim w Pru- sach, in: Zapiski Historyczne, 55, 1990, Heft 4, S. 7-19; DERS., The political role of cull of the Ein unbekannter Pietatypus in der Kirche von Osterode/Oströda 223
Unabhängig vom Einfluss der Spiritualität der Bettelorden auf die der Angehö- rigen des Deutschen Ordens erwuchs diese Verbindung tatsächlich aus der Kreuz- zugbewegung. Die Vorstellung, ein Staat von Kreuzfahrern zu sein, wurde auf dem Gebiet des Ordensstaates außerordentlich konsequent gepflegt.23 Insbesonde- re hielten die fast während des ganzen Jahrhunderts unternommenen Litauenfahr- ten24 dieses noch aus der Gründungzeit des Ordens stammende Bewusstsein wach. Die Ordensangchörigen lebten so auch noch im 14. Jahrhundert in der Atmosphäre der Kreuzzüge. Dank der lehrhaften Darstellungen, die in der Chronik des Peter von Dusburg ausführlich entfaltet wurden, sahen sic sich als Nachfolger und Nach- ahmer alttcstamcntlicher Vorbilder, und der Märtyrertod ihrer Mitbrüder - nach dem Vorbild der ersten Christen - wurde als ein bedeutendes Merkmal der Heilig- keit dargestellt.25 Im Geiste der Kreuzzüge entstanden Texte, die von Ordensange- hörigen geschrieben werden, und es kreisten um diese Problematik - angefangen im 13. Jahrhundert - die Bildprogramme, das plastische und malerische Dekor der Burgen und ihrer Kapellen, sei es das Tympanon der Burg in Birglau, die plasti- sche Ausstattung der Burgkapelle in Marienburg, die Dekoration der Kapitelle des dortigen Remters oder die Bilder in den Apokalypse-Kommentaren des Ordens - um hier nur die bekanntesten Beispiele zu nennen. Das Werk aus Osterode, obwohl es ganz anders geartet ist als die oben genann- ten repräsentativen, „propagandistischen“ Werke und im Hinblick auf die zu erfül- lende Funktion wie auch auf die Art der bildlichen Darstellung einen intimen Charakter aufweist, scheint auch thematisch mit der durch die Atmosphäre der Kreuzzüge geprägten Spiritualität des Deutschen Ordens verbunden zu sein. Ich denke hier an das besonders oft im Ordensschrifttum, vor allem bei Peter von Dusburg, aufgegriffenc Motiv der Nachfolge Christi. Die Chronik des Peter von Dusburg zeigt den Ritter als imago Christi und propagiert ein vorbildliches Ordenslebcn als Nachfolge, wobei der im Kampf gegen Heiden erlittene Tod als Märtyrertod und damit in besonderer Weise als Erfüllung dieser Idee der Nachfol- ge gedeutet wird.26 Der gewaltsame Tod infolge einer fünffachen Verwundung ad nioduin Christi wird dabei als die wünschenswerteste Todesart betrachtet. Peter von Dusburg beschreibt im 3. Kapitel der Chronik so den Tod von Ordensrittern, die fünf Mal von Pruzzcn verwundet wurden.27 In den tödlichen Wunden spiegelt sich für Peter von Dusburg die mystische Vereinigung mit Christus wider, sie gelten als Stigmata nach dem Vorbild des heiligen Franziskus.28 Peter von Dusburg beschreibt auch Visionen, die offenbar von manchen Or- densrittern erlebt wurden, in denen das Motiv des fünffachverwundeten Christus Virgin Mary in Tcutonic Prussia in the fourieenth and fiftcenth cenluries, in: Journal of Mcdieval History, 15, 1989, S. 63-80. 23 Vgl. J. TRUPINDA, Ideologia kruejatowa w kronicc Piotra z Dusburga, Gdansk 1999, Abschnitt: 2 und 3. Dort auch frühere Literatur. 24 W. PARAVICINI, Die Preußenreisen des europäischen Adels, Bd. 1-2, Sigmaringen 1989. Vgl. Bd. 1,S. 143IT. 25 M. Dygo, Die heiligen Deutschordensritter. Didaktik und Herschaftsideologie im Deutschen Orden in Preußen um 1300, in: Die Spiritualität der Ritterorden im Mittelalter, Torun 1993, S. 165-176, bes. S. 170-171. 26 Dygo (wie Anm. 25), S. 171; DERS. (wie Anm. 22), S. 12 27 Dygo (wie Anm. 25), S. 168, 171; Ders. (wie Anm. 21), S. 14; Trupinda (wie Anm. 23), S. 169 28 Dygo (wie Anm. 25), S. 168; und auch TRUPINDA (wie Anm. 23), S. 169. 224 Anna Blazajewska
vorkommt. Ein solcher Christus soll dem Heinrich de Cunce erschienen sein29, der zuvor mit Machtversprechungen vom Teufel gelockt worden war. Christus soll beim Berühren der Seitenwunde die Worte gesprochen haben: hanc civitatem dabo tibi, si servieris mihi. Die Vision der Mutter Gottes, welche die gefallenen Mitbrüder umarmt und Spuren ihres Märtyrertodes (vidnera et plagas) zeigt, soll wiederum einer der Ordensritter aus Rehden/Radzyh gehabt haben.30 Marian Dygo legt beim Kommentieren dieses Motivs aus der Chronik von Dusburg sogar einen gewissen Zusammenhang der Erlebnisse dieser Art mit dem ikonographischen Typus Schmerzensmann bzw. Pieta nahe31 32. Die genannten Beispiele dafür, wie im Orden das Leiden Christi und seine Wunden sowie Maria als die erste, vollkommenste Nachahmerin verehrt werden, legen nahe, dass sich Spuren dieses Kultes auch im Bereich der bildlichen Darstel- lungen, die für den Bedarf des Ordens geschaffen wurden, zeigen können. Gehört die Osteroder Skulptur also vielleicht zu plastischen Darstellungen, die diesem bildlichen Bedarf entgegenkommen? Der starke Akzent auf der Hervorhebung des gemarterten Leibes Jesu, das Hervorschieben des Leibes durch Maria zum Zweck der Verehrung, wie auch das offensichtliche Zur-Schau-StcIIen seiner Wunden, sind in dieser Skulptur sehr suggestiv. Zweifellos entsprechen sic thematisch voll und ganz dem verbreiteten Kult der Wunden Christi. Es bleiben jedoch Zweifel, die sich aus dem bisherigen Wissensstand in Bezug auf die Funktionsweise derar- tiger Gegenstände im Deutschen Orden ergeben, die der individuellen Andacht dienten. Die Fachliteratur äußert sich kritisch zum Bestehen solch einer Andacht. Zweifellos hängt dies mit der von Ordensrittern vertretenen und von Stefan Kwiatkowski breit ausgeführten traditionellen Spiritualität, der devotio antiqua, zusammen, die dem Bedarf nach Andachtsbildern des neuen Typus, die schon mit den neuen Strömungen der devotio verbunden waren, nicht förderlich war. Könnte also diese Skulptur der privaten Kontemplation eines der Würdenträ- ger im Orden gedient haben? Könnte sie sich in der Kapelle einer der Komturbur- gen unweit von Dietrichswalde/Gictrzwald befunden haben, wie z.B. in Osterode (1341 erhielt die dortige Burg den Status des Komtureisitzes) oder in Christ- burg/Dzierzgori? Sind uns irgendwelche Beispiele bekannt, die uns hellen könn- ten, dieses Problem zu klären? Leider verfügen wir nur über sehr spärliche Infor- mationen, sowohl wenn es um Werke geht, die der gemeinschaftlichen Andacht der Ordensritter dienten - die Inventare der Burgkapellen registrieren Werke die- ses Typs eigentlich gar nicht, noch nicht einmal Retabel - wie auch über Akte ihrer persönlichen Andacht. Dessen ungeachtet schließen Forscher das Bestehen solcher Praktiken nicht aus.33 Aus den Quellen kennen wir inbrünstige Gebete vor Kruzifixen, wie z.B. die des Bruders Glisbcrk in Christburg/Dzierzgori oder des Christburger Komturs Heinrich Stango. Diese Gebete zeugen von mystischem Erleben nach der verbreiteten Art der Vision des hl. Bernhard, bei dem der Ge- 29 Dygo (wie Anm. 25), S. 168; Trupinda (wie Anm. 23), S. 193 f. 30 Dygo (wie Anm. 25), S. 168. 31 Ebd. 32 Vgl. S. Kwiatkowski, Zakon Niemiecki w Prusach a umyslowosc sredniowieczna, Torun 1998. 33 Kwiatkowski (wie Anm. 32), S. 45; Trupinda (wie Anm. 23), S. 168f. Ein unbekannter Pietätypus in der Kirche von Osterode/Ostroda 225
kreuzigten sich belebte und den betenden Ordensbruder segnete bzw. umarmte.34 Einige wenige bildliche Spuren der Spiritualität dieses Typs sind heute verlorene Malereien - bekannt nur von einer Abzeichnung - aus der Burgkapelle in Reh- den/Radzyh Chelminski mit Merkmalen eines Andachtsbildes oder ein im Typus ähnliches Kruzifix - unter einigen anderen gemalten Darstellungen - im Chor der Pfarrkirche zu Kulm/Chelmno aus der Mitte des 14. Jahrhunderts - ich nenne diese Pfarrkirche wegen ihrer direkten Patronats Verknüpfungen mit dem Orden. Andachtsbildcr, die sich auf die Teilnahme Mariens an der erlösenden Passion Christi beziehen, wurden in das mariologische Bildprogramm eines Altaraufsatzes vom Ende des 14. Jahrhunderts eingefügt, der aus der Burgkapelle von Graudenz/ Grudzi^dz stammt. Darstellungen dieser Art dienten - neben ihrer wesentlichen altarmäßigcn, repräsentativen Funktion - auch als einzelne Felder des Altars der individuellen Kontemplation.35 Unbestreitbar der Andacht dienende Darstellungen mit spekulativem Charakter sind die sog. Schrcinmadonnen von der Wende des 15. Jahrhunderts, obwohl eben sic im Ordensland ihren Charakter geringfügig geändert zu haben scheinen, denn sie wurden um ein politisches Motiv „berei- chert“ - um den „schützenden Mantel“, der von Maria ausgebreitet wird36. Obwohl wir also wenigstens einige Beispiele von der Andacht dienenden Dar- stellungen nennen können, die mit dem Deutschen Orden verbunden sind, ist an- zumerken, dass cs deren nicht viele gibt, insbesondere um die Mitte des 14. Jahr- hunderts. Vor diesem Hintergrund erscheint das Beispiel der Osteroder Skulptur als ein was Typus und Funktion anbetrifft einsam da stehendes Werk, obwohl thematisch in dieser Zeit voll berechtigt. Vielleicht ist dies eine einsame Ankündigung des Vordringens einer Spiritualität des neuen Typus in das Ordensland, individueller religiöser Praktiken, die aus dem Westen kommen. Und die Skulptur wäre dann von einer Person aus Ordenskreisen bestellt worden, die diese neue Form der Spiritualität begünstigte - bestellt von außerhalb des Ordensgebietes und hierher importiert, wovon ihre engen Verknüpfungen mit schwäbischen Werkstätten Ess- lingen, Rottweil - zeugen. Vielleicht wurde sic in das Ordensland als Geschenk mitgebracht - in der Ära der Belebung der Kreuzzüge, als die man die Feldzüge gegen die Litauer betrachtete, organisiert von einem herausragenden europäischen Ordensritter, der den mit den Kreuzzügen des Deutschen Ordens verbundenen Kultus der Wunden Christi kannte. 34 Vgl. Hjnk/Junke (wie Anm. 22), S. 4; DYGO (wie Anm. 25), S. 169; TRUPINDA (wie Anm. 23), S. 168-170. 35 A.S. Labuda, Die Spiritualität des Deutschen Ordens und die Kunst. Der Graudenzer Altar als Paradigma, in: Die Spiritualität der Ritterorden im Mittelalter. Ordines Militares - Colloquia To- runensia Historica, VII, 1993, Hg. Z. H. Nowak, S. 45-74. 36 Labuda (wie Anm. 35), S. 50; G. Radler, Der Beitrag des Deutschordenslandes zur Entwicklung der Schreinmadonna (1390-1420), in: Sztuka w kr^gu zakonu krzyzackiego w Prusach i Inflan- lach. Studia Borussico-Ballica Toruniensia Historiae Artium, 2, Torun 1995, hg. v. M. Wozniak. S. 241-274. 226 Anna Bfazajewska
Die „Schönen Madonnen“ auf dem Gebiet des ehemaligen Deutschordensstaates Preußen Ein Beitrag zum Problem der künstlerischen Tradition im späten Mittelalter' Monika Jakubek-Raczkowska Die sogenannten „Schönen Madonnen“ zählen seit langem zu den fesselndsten Themen der Kunstgeschichtsforschung Mitteleuropas, wobei im Mittelpunkt der Diskussionen zu diesem Kreis raffinierter mittelalterlicher Skulpturen der Streit um den „Meister der Schönen Madonnen“ steht. Hervorgerufen wurde der Diskurs 1974 durch die bekannte Veröffentlichung von Karl Heinz Clasen* 1, fortgeführt wurde er mittels einer Reihe kritischer Rezensionen.2 Obwohl cs scheinen mag, dass die Möglichkeiten der Argumentation bereits verbraucht seien, so erweckt der Kreis der Schönen Madonnen doch stets neue Kontroversen, erregt er weiter die Vorstellungskraft der Kunsthistoriker. Man entwickelt immer wieder neue Deutungen von Sinn und Funktion der Skulpturen, konzipiert auf der Grundlage von Stilanalysen.3 Es sind auch einander widersprechende Versuche einer neuen Systematik und Zuschreibung unternommen worden, die einen komplexen Über- i: Die hier dargcstclltc Vcrgleichsstudie im europäischen Kontext ist Ergebnis eines Forschungspro- jekts, das 2007 dank des Stipendienprogramms der/1. Mellon's Foudafion und Fondation Maison des Sciences de 1'Homme in Paris realisiert worden ist. 1 Karl Heinz. CLASEN, Der Meister der Schönen Madonnen. Herkunft, Entfaltung und Umkreis. Berlin/New York 1974. 2 Albert KUTAL, Ein neues Buch über die Skulptur des Schönen Stils, in: Umeni 23 (1975), S. 544- 567. - Rainer KAHSNITZ, Der Meister der Schönen Madonnen. Zu den Thesen von Karl Heinz CLASEN, in: Zeitschrift für Geschichte und Altertum Ermlands 38 (1976), S. 80-86. - Robert SUCKALE, Rezension zu K. H. Clasen, Der Meister, in: Kunstchronik 29/8 (1976), S. 244-255. - Gerhard SCHMIDT, Rezension zu K. H. Clasen, Der Meister, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 41 (1978), S. 61-92. - Andrzej M. Olszewski, Niektdre zagadnienia styki mi^dzynarodowego w Polsce [Einige Fragen des Schönen Stils in Polen}, in: Piotr Skubizewski (Hg.), Sztuka i ideologia XV wieku [Kunst und Ideologie des 15. Jh.]. Warszawa 1978, S. 169-173. - Vgl. auch Bespre- chung der Diskussion bei Zygmunt KRUSZELNICKI, „Pi?kne Madonny“ - problem otwarty [Die „Schönen Madonnen“ - ein offenes Problem], in: Teka Komisji Historii Sztuki 17 (1992), S. 31- 103; Janusz Keblowski, Dwie antytezy w sprawie tzw. Pi^knych Madonn [Zwei Antithesen be- treffs der sogen. Schönen Madonnen|, in: Teresa Hranskowska (Hg.), Sztuka ok. 1400 [Kunst um 1400], Bd. I, Warszawa 1996, S. 165-185. 3 Z.B. Gundolf WINTER, Zur Sinnbestimmung der „Schönen Madonnen“ um 1400, in: Gießener Beiträge für Kunstgeschichte 4, 1983, S. 1-22. - Michael Victor SCHWARZ, Schöne Madonna als komplexe Bildform: Prolegomena, in: Thomas Gaethgens (Hg.), Künstlerischer Austausch. Akten des XXVIII Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte, Berlin 1993, Bd. 2, S. 89-95. - Hans BELTING, Image et culte. Une hisloire de l’image avant Pepoque de Part. Paris 1998, S. 586-589. - Wojciech MARCINKOWSKI, Co Io jest Pi^kna Madonna? [Was ist eine Schöne Madonna?], in: Ma- teusz Kapustka (Hg.), Prawda i twörczosc [Die Wahrheit und die Schöpfung], Wroclaw 1998, S. 39-53. - Jaromir Homolka, Paris - Gmünd - Prag. Die königliche Allerheiligenkapclle auf der Prager Burg, in: Richard Strobel/Anette Siefert/Klaus Jürgen Hermann (Hg.), Parierbauten. Archi- tektur, Skulptur, Restaurierung. Internationales Parier-Symposium, Schwäbisch Gmünd, Stuttgart 2004 (Landesdenkmalamt Baden-Württemberg. Arbcilsheft 13), S. 137-138. Die „Schönen Madonnen“ 2T1
blick über die Kunst um 1400 auf diesem Gebiet verhindern.4 Selbst die wichtigen Abhandlungen, welche die Ausstellungen mitteleuropäischer Kunst im Zeitalter der Luxemburger in New York5 und Prag6 2006 begleiteten, eröffneten nicht nur neue Perspektiven, sondern boten auch Anlass zu neuer Polemik. Vor diesem Hintergrund kann ein vergleichender Blick auf die Schönen Madonnen aus dem Gebiet des ehemaligen Deutschordensstaates zu einer allgemeineren Überlegung zur Kunst um 1400 beitragen, zu einer Reflexion über gegenseitige Beziehungen zwischen verschiedenen Kunstmilieus, zu Quellen typologischer Traditionen und der Art und Weise von deren Verwendung und Umformung. Die Schönen Madonnen, künstlerisches Paradigma der Zeit um 1400, bildeten den Höhepunkt eines Phänomens, das ein Jahrhundert zuvor in der Kultur des Abendlandes geboren worden war: die vollplastische, freistehende Figur im litur- gischen Raum - auf dem Altar oder getrennt von ihm -, im Dienste privater Frömmigkeit, meist Gegenstand inniger Verehrung.7 Andererseits waren sie nicht weit entfernt von einer allmählichen Umwertung dieser Funktion in Kunst und Liturgie Mitteleuropas: In der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts wurden typologisch ähnliche Skulpturen in Flügelaltäre eingestellt; selbst die meisten den Schönen Madonnen wurden so sekundär in liturgische Schreine einbezogen.8 Nach Wojciech Marcinkowski hat die Kirche den eucharistischen Sinn der Schönen Madonnen im Dienste der Geistigen Kommunion9 als zu kühn und zu individuell angesehen, um die Bildwerke in autonomen Zustand, mit einer auto- nomen Rolle im sakralen Raum zu belassen. 4 Als Beispiel können zwei unterschiedliche Zuschreibungsvorschläge der Sternberger Madonna angeführt werden, die in derselben Zeit, in demselben Wissenschaftsmilieu, in zwei verschiedenen Ausstellungskatalogen veröffentlicht worden sind. Vgl.: Ausst.-Kat. Skisk. Perla w koronie czeskicj. Trzy okresy swietnosci w re lac jach artystycznych Slqska i Czech. 1 Schlesien - Perl in der Böhmischen Krone. Drei Prachtperiode in die künstlerischen Zusammenhänge zwischen Schlesien und Böhmen!, hg. von Andrzej Niedzielenko/Vit Vlnas (Legnica, Muzeum Miedzi - Akademia Rycerska/Praha, Närodni galcrie - Valdstejnskä jizdäma). Praha 2006, S. 57-59, Kat.-Nr. 1.2.27 (Ivo HLOBII.), ein Werk des Nachfolgers des Meisters der Thorner Schönen Madonna, 1390-1400. - Ausst.-Kat. Karl IV. Kaiser von Gottes Gnaden. Kunst und Repräsentation des Hauses Luxem- burg 1310-1437, hg. von Jin Fajt unter Mitarbeit von Markus Hörsch und Andrea Langner (Praha, Spräva Prazskeho hradu), München/Berlin 2006, S. 549, Kat.-Nr. 197 (Jin FAJT, Robert SOCK ALB), Prag um 1380-90 (führendes Mitglied der Prager Dombauhütle). 5 Prague. The Crown of Bohemia 1347-1437, Metropolitan Museum of Art - New York, 10 IX 2005-3 I 2006, Kuratorin: Barbara Drake Boehm. - Ausst.-Kat. Prague. The Crown of Bohemia 1347-1437. Fd. by Barbara Drake Boehm and Jin Fajt (New York, Metropolitan Museum of Art), New York 2006. 6 „Karel IV - CTsar z Bozi milosti. Kultura a umenf za vlädy poslednich Lucemburkü 1347-1437“, Prazsky Hrad 16 II -21 V 2006, Kurator: Jin Fajt. - Ausst.-Kat. Prag 2006 (wie Anm. 5). 7 Zur Begriffsbestimmung und Funktion der Andachtsbilder: Wojciech MARCINKOWSKI, Przedsta- wienia dewocyjne jako kategoria sztuki gotyckiej [Die Andachtbilder als eine Kategorie der goti- schen Kunst), Krakow 1994. 8 Über Transformation der Rolle der Schönen Madonnen im kirchlichen Gebrauch: MARCINKOWSKI 1998 (wie Anm. 3), S. 50-51. 9 Zur Sinnbestimmung der Schönen Madonnen als außerliturgische Andachtsbilder, die durch ihre Form und eucharistischen Ideengehalt der sog. Geistigen Kommunion dienen konnten: Marci- nowski 1998, (wie Anm. 2), S. 46-51. - Zur eucharistischen Symbolik auch: Ausst.-Kat. Prag 2006 (wie Anm. 5), S. 550-552, Kal.-Nr. 199: Krumauer Madonna (Jin Fa.IT). 228 Mon ika Jakubek - Raczko wska
Abb. 1 (rechts oben): Thorn/Torun, St. Johannes- kirche, Schöne Madonna, um 1390. Kalkstein, H. 115 cm. Verschollen. Nach: Clasen 1939, Abb. 152. Abb. 2 (links oben): Danzig/Gdahsk, Marienkirche, Schöne Madonna, um 1430. Kunststein, H. 200 cm, Foto: Juliusz Raczkowski Abb. 3 (rechts unten): Danzig/Gdahsk, Marienkirche, Schöne Madonna im Priesterbruderschaftsaltar, um 1400. Kalkstein, H. 113 cm, Foto: Juliusz Raczkowski, siehe Farbtafel 18 Die „Schönen Madonnen" 229
Der Kreis der Schönen Madonnen ist bzw. war in Preußen durch drei bekannte Figuren vertreten: die verschollene Madonna auf der Moseskonsole in der Johan- niskirche in Thorn (Abb. 1), die Madonna im Roscnkranzaltar der Marienkirche zu Danzig (Abb. 2) und die dort im Priestcrbruderschaftsaltar befindliche Marien- figur (Abb. 3). Obwohl die Thorner Madonna das hervorragendste Werk dieser Gruppe war, stehen auch die beiden anderen Bildwerke auf höchstem künstleri- schem Niveau und stellen raffinierte Konzeptionen innerhalb dieses Typus dar. Man weiß nicht, wie viele solcher Darstellungen cs ursprünglich im Ordensland gab - in dieser „Terra Mariae“., in der man eigentlich eine besonders kreative und reiche Ausbildung der Marienikonographie erwarten sollte, bei der indes auffällig ist, dass trotz der gut erforschten Aufgaben, welche die Machtpropaganda des Deutschen Ordens der Maricnverehrung in diesem Gebiet zuwies10, außer den sogen. Schreinmadonnen11 keine regionalen Marientypen entwickelt wurden - die Frage nach Sinn und Genese des lokalen Löwenmadonnentypus ist hierbei noch offen.12 Eine gesamteuropäische Tendenz, die hieratisch-dogmatischen Marien- kultbildcr im Sinne des Naturalismus zu transformieren13, hatte aber auch hier ihre Widerspiegelung und wahrscheinlich ebenso lokale Ausprägung. Nach Marian Dygo wurde diese Tendenz am Ende des 14. Jahrhunderts durch eine spezifische „Rivalität um die Patronin“ zwischen dem Orden und der Bürgerschaft angeregt, die zwei unterschiedliche Auffassungen des Marienkults und der Mariendarstel- lung ergab.14 Aus einer solchen Perspektive gesehen bilden die preußischen Schö- nen Madonnen einen wichtigen Beleg für diesen Prozess. Die noch von Mojmir Frinta aufgcstcllte Hypothese vom ritterlichen Ursprung dieser Bildwerke, die 10 Marian Dygo, O kulcie maryjnym w Prusach Krzyzackich w XIV i XV w. [Über die Marien Ver- ehrung in Preußen im 14. und 15. Jh.], in: Zapiski Historyczne 52, H. 2 (1987), S. 5-36. 1 1 Vgl. Roman ClECHOLEWSKJ, Problcmatyka badawcza pomorskich Madonn szafkowych ]For- schungsprobleme der pommerschen Schreinmadonnen], in: Studia Pelplinskie 8 (1977), S. 127- 157. Gudrun Radler, Die Schreinmadonna, „Vierge Ouvrante“, von den bernhardinischen An- fängen bis zur Frauenmystik im Deutschordensland, 1990. 12 Eine neue Forschungsperspektive für die Sinnbestimmung des Löwenmadonnenkreiscs wurde mit den Studien von Robert Suckale eröffnet. Er verband die Quellen des Typs mit der Dynastiepropa- ganda des Hauses Luxemburg. - Robert SUCKALE, „Löwenmadonna“, ein politischer Bildtyp aus der Zeit Kaiser Karls IV.?, in: Robert Suckale, Das mittelalterliche Bild als Zeitzeuge. Sechs Studien, Berlin 2002, S. 172-184. - Vgl. auch: Ausst.-Kal. Prag 2006 (wie Anm. 5), S. 90, Kat.- Nr. 12: Löwenmadonna aus Lukowo und S. 320-321, Kat.-Nr. 114: Madonna auf dem Löwenthron (Robert SUCKALE). - In diesem Lichte kann der Ursprung der preußischen Löwenmadonnen nicht nur als rein künstlerische Verpflanzung aus Schlesien, sondern auch als Ergebnis einer bewussten Tätigkeil des Ordens gesehen werden. 13 Die Entwicklung des Marienbildes in der gotischen Skulptur des Abendlandes war mit einer allgemeinen Geislesumbildung verbunden, die von den mystischen Strömungen und von der neuen Zisterzienscr-Mariologie beeinflusst wurde. Die ikonographische Umwandlung des hieratischen byzantinischen Modells der Gottesmutter strebte nach einer neuen, intimen Darstellungsweise des mütterlichen Zusammenhangs zwischen Maria und Kind. Als ein entscheidendes Werk gilt die so- gen. Vierge Doree im Südportal des Domes zu Amiens. Zum wirklichen Medium des neuen Ver- ständnisses und seiner Popularisierung wurde aber im Dienste der privaten Andacht geschaffene Plastik: z.B. kleine Elfenbcinskulpturen von der Ende des 13. Jhs. oder vollrunde freistehende Fi- guren im liturgischen Kirchenraum. - Die Schöne Madonnen, mit ihrer lyrischen Zartheit und ih- rer Natürlichkeit, welche die liefe und vielschichtige Symbolik überdecken, können als Krönung dieser Entwicklung eingeschätzl werden. 14 Dygo 1987 (wie Anm. 10), S. 36. 230 Mof i ika Jakubek-Raezko wska
seines Erachtens meist für Ordensburgen gestiftet wurden15, ist bereits längst als überholt anzusehen. Sowohl die private Andacht als auch das Bedürfnis nach der Geistigen Kommunion, welcher die Schönen Madonnen gewiss dienten, waren der Ordensfrömmigkeit nämlich fremd.16 Es ist bemerkenswert, dass Nachklänge der alten Theorie über das Ordensmäzenatentum immer wieder zurückkehren.17 Aller- dings wurde von Dygo überzeugend argumentiert, dass z.B. die Thorner Madonna, geschaffen wohl im bürgerlichen Milieu, ein menschliches Maß des Mütterglücks dem Bild der Herrscherin und Schutzherrin des Ordens gegenüberstellte.18 Die Bemerkungen von Janina Kruszelnicka und Katarzyna Zalewska über die wahr- scheinliche Provenienz der beiden wichtigsten Skulpturen - der Thorner19 und der Danziger20 Schönen Madonna - aus Franziskanerkirchen, ergänzen noch den Interpretationskontext um die Rolle des Bettelordens für die Frömmigkeitsent- wicklung in preußischen Städten. Die genannten wissenschaftlichen Gegenüberstellungen zeugen von der an- dauernden Diskussion über Funktion und Ideengehalt der Schönen Madonnen und sind im Kontext der allgemeinen Erforschung der spätmittelalterlichen Marienve- rehrung zu sehen. Auch vom Gesichtspunkt der Stilforschung aus präsentieren die preußischen Schönen Madonnen eine Gruppe von überregionaler Bedeutung. Die Anwesenheit dieser drei eminenten Bildwerke in den Kirchen von Thorn und Danzig hat dem Deutschordensland eine bedeutende Stelle in der Forschung zum Internationalen Stil gesichert. In regionalen Untersuchungen sind die Schönen Madonnen gar in den Rang symbolischer „Ikonen“ der Kunst um 1400 aufgestie- gen - die Thorner Figur für das ganze Prcußenland, die Figuren aus Danzig zu- mindest für Pommern. Nicht ohne Bedeutung für ihre Höchstbewertung in der ordensländischen Kunst sind die schon verklungenen Thesen von Karl Heinz Clasen, der alle drei Skulpturen in einen Werkstattzusammenhang brachte: Die Thorner Madonna sei, wie er meinte, ein Werk des „Meisters der Schönen Ma- donnen“, eines reisenden Künstler aus dem Westen, der für einige Zeit in Preußen 15 Mojmir FRINTA, A portrait bust by the Master öl’ Beautiful Madonnas, in: The Art Quaterly, Spring 1960, S. 36-50, hier S. 41. - Früher Bernhard SCHMID, Baukunst und bildende Kunst der Ordenszeit, in: Deutsche Staatenbildung und deutsche Kultur im Preußenlande, Königsberg 1931, S. 1 16-150, hier S. 146 und Karl Heinz CLASEN, Die mittelalterliche Bildhauerkunst im Deutsch- ordensland Preußen. Die Bildwerke bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts, Berlin 1939, S. 133, schlu- gen die Herkunft der Thorner Madonna aus der Thorner Burgkapelle vor. 16 Stefan Kwiatkowski, Zakon Niemiecki w Prusach a umyslowosc sredniowieczna. Scholastyczne rozumienie prawa nalury a etyczna i religijna swiadomosc Krzyzaköw do ok. 1420 r. (Der Deutsche Orden in Preußen und das mittelalterliche Geistesleben. Das scholastische Naturver- ständnis und das ethische und religiöse Bewusstsein der Ordensbrüder), Torun 1998, S. 93. 17 Letztens hat Jifi Fajt auf „die Bedeutung von Deutschen Orden für die Verbreitung [...] der Schö- nen Madonnen im Speziellen“ aufgewiesen: Ausst.-Kat. Prag 2006 (wie Anm. 5), S. 417, Kat.-Nr. 13: Der Marienburger Ölberg-Christus (Jifi Fajt). 18 DYGO 1987 (wie Anm. 10), S. 24. 19 Zur Thorner Madonna und ihrer wahrscheinlichen Provenienz aus der Marienkirche in Thorn: Janina KRUSZELNICKA, Dawny oltarz Pi^knej Madonny Torunskiej (Das ehemalige Altarretabel der Thorner Schönen Madonna], in: Teka Komisji Historii Sztuki 4 (1968), S. 5-23. 20 Über die Geschichte der Danziger Madonna und ihre wahrscheinliche Provenienz aus der Dreilal- tigkeitskirche in Danzig: Katarzyna ZALEWSKA, Wieniec rözany Pi^knej Madonny Gdanskiej na tle ikonografii rözahcowej (Der Rosenkranz der Danziger Schönen Madonna auf dem Hintergrund der Rosenkranzikonographie), in: Biuletyn Historii Sztuki 45 (1983), S. 179-182, hier S. 180. Die „Schönen Madonnen“ 231
ansässig war.21 Die Figur des Danziger Rosenkranzaltars solle als Werk seines Schülers und Nachahmers bewertet werden, der lokal über vier Jahrzehnte tätig war und zur Kunstentwicklung in Pommern in der ersten Hälfte des 15. Jahrhun- derts entscheidend beitrug.22 Endlich sei die - meist in der allgemeinen Forschung zur Kunst um 1400 übersehene - Madonna des Priesterbruderschaftsaltars ein Werk desselben Danziger Meisters23, was sogar Albert Kutal - in Fragen der Zu- schreibung sonst sehr vorsichtig - für wahrscheinlich hielt.24 Allerdings ist keine der Skulpturen eine lokale Schöpfung des Ordenslandes, und man kann sie keineswegs miteinander verbinden. Während die Thorner Ma- donna - mit ihrer künstlichen Haltung, der aristokratischen Eleganz des Gestus, den subtilen Gesichtszügen und dem klassizisierenden Adel des Jesusknaben - keine Parallele findet, wird die viel gedrungenere Madonna des Priesterbruder- schaftsaltars, auf ihrem Arm ein schweres Kind haltend, fast zu deren formaler Antithese. Endlich die Danziger Schöne Madonna: Sie erstaunt mit ihrer monu- mentalen Dimensionen und einer in diesem Kunstkreis seltenen Komposition und verbindet in ihrer Form steifen Hieratismus, naturalistische Detailbildung und ornamentale Stilisierung. An der Quelle jener Figuren standen - trotz der allge- meinen Stilsprache - verschiedene künstlerische Traditionen, unterschiedliche Formgebung und Inhalte. Welche Rolle spielten also die Schönen Madonnen in der Kunst des Deutsch- ordenslandes? Hatte ihre Semantik in dieser Region wirklich irgendwelchen loka- len Bezug? Kann man tatsächlich - was seit langem üblich ist - von dem „preu- ßisch-schlesischen“ Typus reden und damit deutlich die ikonographische Kreativi- tät der nördlichen Gebiete betonen? Abb. 4: Thorn/Torun, St. Johanneskirche, Moseskonsole, um 1390. Feinkörniger Kalkstein, H. 84 cm, Foto: Juliusz Raczkowski 2I CLASEN 1939 (wie Anm. 15), S. 132-144. - Karl Heinz Clasen, Der Meister der Schönen Ma- donnen. Herkunft, Entfaltung und Umkreis, Berlin/New York 1974, S. 33-35. 22 Clasen 1939 (wie Anm. 15), S. 144-159 (Der Meister der Danziger Schönen Madonna und sein Umkreis). 23 Ebd., S. 149. 24 Kutal 1975 (wie Anm. 2), S. 558. 232 Monika Jakubek-Raczkowska
Nach der bewegten Phase der Polemik - besonders im Kontext der Thesen Clasens25 - gibt es heute keine Zweifel mehr daran, dass die Schönen Madonnen den Traditionen der böhmischen Kunst erwachsen sind. Man nimmt an, dass die ältesten und originalsten Werke dieses Typenkreises - die Madonnen in Alten- markt26, Pilsen27 und aus Krumau28 - in Prag entstanden. Die Thorner Schöne Madonna, eines der frühesten und dabei reifsten Werke des Schönen Stils in Preu- ßen, bildet in dieser Gruppe eine wirklich bedeutende, typologisch autonome Schöpfung. Lokale Erfahrungen der ordensländischen Skulptur konnten indes nicht zu einem Werk solchen Ranges führen. Unabhängig von Clasens Thesen wurden in der Literatur vielmehr dessen böhmische, parlersche Quellen deutlich betont. Gerhardt Schmidt wies auf die Verwandtschaft der Thorner Figur mit der Sternberger Madonna29 hin, die seines Erachtens als „wenigstens mittelbar von Heinrich Parier inspiriert“30 bestimmt werden müsse. Die beiden Bildwerke zog er zu einer Werkstattgruppe zusammen, die auch die Breslauer Madonna31 umfasste. Jaromir Homolka wollte die Thorner Madonna direkt Peter Parier zuschreiben.32 Ebenfalls gehe der Stil der Moseskonsole (Abb. 4) aus dem Prager Kunstmilieu hervor und sei als Fortentwicklung der Stilvoraussetzungen der parlerschen Premyslidentumben zu verstehen.33 Während die böhmische Herkunft der Thorner Schönen Madonna fraglos er- scheint, wird ihre tatsächliche Rolle in der Kunst des Deutschordenslandes noch diskutiert. Es wird zumeist angenommen, dass die Skulptur vor Ort von einem zugereisten Meister aus Prag ausgeführt worden sei.34 35 Das noch von Clasen zu- sammengestellte (Euvre dieses Künstlers und seines Umkreises in Preußen er- freut sich einer gewissen Popularität und wird immer wieder bereichert. So stellt die Schöne Madonna im Rheinischen Landesmuseum in Bonn36 tatsächlich eine in diesem Kunstkreis seltene, so treue Wiederholung dar, dass sie als Meister- oder zumindest Werkstatt-Replik bestimmt werden kann.37 Es ergibt dies indes noch 25 VgL Anm. 1 und 2. 26 Ausst.-Kat. Prag 2006 (wie Anm. 5), S. 447-448, Kal.-Nr. 142 (Jin Fajt). 27 Ausst.-Kat. Prag 2006 (wie Anm. 5), S. 448, Kat.-Nr. 142 -1 (Jin Fajt). 28 Ausst.-Kat. Prag 2006 (wie Anm. 5), S. 550-553, Kat.-Nr 199 (Jin Fajt). 29 Sternberg, Pfarrkirche. Pläner Kalkstein, H. 84 cm. Sternberg, Röm.-Kath. Pfarramt, Inv.-Nr. I.B 22. 30 Gerhard SCHMIDT, Paralipomena zur Ausstellung „Die Parier und der Schöne Stil“, in: DERS.: Gotische Bildwerke und ihre Meister. Wien/Köln/Weimar 1992, S. 269-312, hier S. 291. 31 Breslau/Wroclaw, St. Maria Magdalena oder St. Elisabethkirche (?). Kunststein, H. 111 cm. Wroclaw, Muzeum Narodowe, Inv.-Nr. 187306. 32 HOMOLKA (wie Anm. 3) 2004, S. 136. 33 KUTAL 1958, S. 116. - Gerhard SCHMIDT, Peter Parier und Heinrich IV. Parier als Bildhauer, in: DERS., Gotische Bildwerke und ihre Meister. Wien/Köln/Weimar 1992, S. 108-228, hier S. 207. Man hat vor allem die Analogien in der Auffassung und Details des Gesichtes von Premysl Otto- kar I nachgewiesen. 34 CLASEN 1939 (wie Anm. 15), S. 132 - SCHMIDT (wie Anm. 30), S. 71. - Ausst.-Kat. Prag 2006 (wie Anm. 5), S. 417-18, Kat.-Nr. 13: Der Marienburger Ölberg-Christus (Jiri Fajt). - Ausst.-Kat. Prag 2006 (wie Anm. 15), S. 449-450, Kat.-Nr 144: Bonner Madonna (Julien CHAPUIS). - Adam S. Labuda, Das Meer im Blick - Expansion nach Norden, in: Ausst.-Kat. Prag 2006 (wie Anm. 5), S. 401-415, hier S. 405-406. 35 CLASEN 1939 (wie Amin. 15), S. 132-191. - Clasen 1974 (wie Anm. 1), S. 33-45, 100-105. 36 Provenienz unbekannt. Kalkstein, H. 118 cm. Bonn, Rheinisches Landesmuseum, Inv.-Nr. 16.058. 37 Letztens zu dem Thema (mit Literaturverzeichnis): Ausst.-Kat. Prag 2006 (wie Anm. 5), S. 449- 450, Kat.-Nr. 144: Bonner Madonna (Julien CHAPUIS). Die „Schönen Madonnen“ 233
keinen Anhaltspunkt für den Entstehungsort beider Werke, da die ursprüngliche Herkunft der Bonner Figur unbekannt ist - sic wurde von Karl Thiewaldt in Schlesien erworben. Zu den eigenen Werken des Meisters in Preußen werden - neben der Thorner Schönen Madonna - der Ölberg-Christus aus Marienburg38, eine Figur der Maria in der Hoffnung39 (Abb. 5) und letztens auch die Ekstase der Maria Magdalena in der Johanniskirche zu Thorn40 (Abb. 6) gezählt. Die These vom Einfluss dieses Meisters auf die Entwicklung der lokalen Kunst wird, Clasen folgend, oft wiederholt41, die „Umkreistheorie“ noch nicht einer näheren Kritik unterworfen. Wie cs scheint, findet aber eine lokale Tätigkeit der Werkstatt der Schönen Madonnen weder in der Homogenität des zugeschriebenen Werkes, noch in der Analyse ihres Nachklangs in Preußen irgendeine Bestätigung. Abb. 5: Thorn/Toruri, Maria in der Hoffnung, um 1390. Kalkstein, H. 42 cm. Gefunden in Papau/ Papowo Biskupie bei Thorn, bis zum Zweiten Weltkrieg im Stadtmuseum in Thorn. Verschollen. Nach: Clasen 1939, Abb. 160 38 Thorn, St. Johanniskirche (?). Pläner Kalkstein, H. 84 cm. Marienburg, Muzeum Zamkowe, Inv.- Nr MZM/Rz/I9. - Die Besprechung der bisheriger Polemik zum Stil und Datierung: Ausst.-Kat. Imagines Potcstatis. Insygnia i znaki wladzy w Krolcstwie Polskim i Zakonie Niemicckim [Imagines Potcstatis. Insignia und Symbole der Macht im Polnischen Königsreich und im Deut- schen Orden], hg. von Janusz Trupinda (Malbork, Muzeum Zamkowe), Malbork 2007, S. 459- 462, Kat.-Nr. IV. 16 (Artur Dobry). Die Figur befand sich im 18. Jh. in der Lorenzkapelle zu Ma- rienburg und wurde am Anfang des 19. Jhs. in die dortige Pfarrkirche St. Johannis gebracht. Diese Aufstellung wird als ein Beleg für ihre Provenienz aus der Marienkirche im Hochschloss betrach- tet: Ausst.-Kat. Prag 2006 (wie Anm. 5), S. 417-18, Kat.-Nr. 13: Der Marienburger Ölberg- Christus (Jin Fajt); LäBUDA 2006 (wie Anm. 34), S. 406. - Es wurde jedoch nachvollziehbar ar- gumentiert, dass sie für die Ölbergskapelle in Johanniskirche in Thorn ausgeführt sein könnte und dort der bürgerlichen Andacht in Rahmen der „devotio moderna“ diente: Artur DOBRY, Rzezba Chrystusa w Ogrojcu ze zbioröw Muzeum Zamkowcgo w Malborku [Die Skulptur Christus am Ölberg aus der Sammlungen des Schlossmuseums in Marienburg], in: Nasza Przeszlosc 80 (1993), S. 108-117, hier S. 120-125. 39 Verschollen (bis zum Zweiten Weltkrieg Thorn, Stadtmuseum). Die Figur kam aus Papau (Papo- wo Biskupie) bei Thorn, wo sie in einem Gutshause im zerbrochenen Zustand aufgefunden wurde: CLASEN 1939 (wie Anm. 15), S. 286, Anm. 125. 40 Thorn, St. Johanniskirche - Altar der hl. Maria Magdalena beim Südpfeiler. Kalkstein und Kunst- stein, 158 x 1 14 cm. 41 Z.B. Labuda 2006 (wie Anm. 34), S. 408: der Meister trug „mit Sicherheit zur Verbreitung des Schönen Stils in Preußen um und nach 1400“ bei. 234 Monika Jakubek-Raczkowska
Abb. 6: Thorn/Torun, St. Johannes- kirche, Ekstase der Maria Magdalena, H. 158 cm, Foto: Juliusz Raczkowski, siehe Farbtafel 19 Als erster Beitrag zur Ablehnung der Theorie von einer vermutlichen Thorner Werkstatt sind die Beobachtungen von Anna Jagodzihska zur Figur Mariä in der Hoffnung42 zu werten, die leider ohne Nachklang in der neuesten Literatur geblie- ben sind. Anhand eines eingehenden Vergleichs dieser kleinen Skulptur mit der Thorner Schönen Madonna, stellte Jagodzihska zwingend die Entstehung beider Skulpturen in einer gemeinsamen Werkstatt in Frage. Gemäß ihrer Auflassung erwachsen die Unterschiede zwischen den beiden Werken aus einem anders gear- teten Verständnis desselben Stils, was Plastizität und Raumgefühl anbetrifft. Nach ihren Forschungsergebnissen ist die Maria in der Hoffnung ebenfalls ein Import- werk aus Prag - ihre elegante Form ist aber als böhmisches Resultat einer künstle- rischen Wanderung zu sehen, die von Wien ihren Ausgang nahm.43 Ebenfalls kann man vorsichtig die gemeinsame Herkunft anderer Skulpturen aus dieser angebli- chen Werkstatt in Zweifel ziehen. Die neue Zuschreibung des Thorner Reliefs der Ekstase der Maria Magdalena44 muss einstweilen offen bleiben. Dieses hervorra- 42 Alina JAGODZINSKA, Maria Dobrej Nadziei - styl i ikonografia rzezby z terenu pahstwa zakonne- go w Prusach [Maria in der Hoffnung - Stil und Ikonographie einer Skulptur aus dein Deutschor- densland Preußen], in: Jozef Poklewski (Hg.), Materialy sesji naukowcj poswi^conej pami^ci prof. Gwidona Chmarzyhskicgo w trzydzieslq rocznic? smierci [Tagungsband des Kolloquiums zur Erinnerung von Professor Gwido Chmarzyhski], Torun 2005, S. 86-95 (Towarzystwo Naukowe w Toruniu. Prace Wydzialu Filologiczno-Filozoficzncgo, t. XXXVII - z. 3: Teka Koniisji Historii Sztuki X). 43 Ebd., S. 92. 44 Fajl und Chapuis hallen diese Skulptur für ein Werk des Meisters: Ausst.-Kat. Prag 2006 (wie Anm. 5), S. 418, Kal.-Nr. 13: Der Marienburger Ölberg-Christus (Jin Fajt) - ebd. 450, Kat.-Nr. 144: Bonner Madonna (Julien CHAPUIS). Die „Schönen Madonnen“ 235
gende Bildwerk wurde schon von Clasen den Arbeiten aus dem Umkreis dieses Meisters zugezählt und dem Meister der Kreuzigung in Kulmsee zugeschrieben. 45 Die Restaurierungsarbeiten im Jahre 1998 haben seine eminente Qualität neu entdeckt und die Zugehörigkeit zum Schönen Stil bestätigt46, doch lassen trotz einer sichtbaren Verwandtschaft mit der Schönen Madonna die festgestellten Un- terschiede zwischen beiden Skulpturen es nicht zu, sie eindeutig einer gemeinsa- men Werkstatt zuzuweisen. Überzeugender wirkt die These von Adam Labuda, dass es ein Werk der Zeit um 1416 sei, geschaffen von einem Künstler, der die Auffassung des Meisters fortführte.47 Es wäre dies jedoch ein für Thorn seltenes, im Kulmerland eher isoliertes Beispiel einer solchen Fortführung, das noch keine Grundlage für die Theorie einer lokalen Meistertätigkeit bildet. Fraglich erscheint auch die von Clasen formulierte Zuschreibung des Marienburger Ölberg-Christus. Die formalen Zusammenhänge zwischen der Stilisierung des Christus und des Moseskopfes sind zwar offensichtlich, doch sollte man bei solchen Stiluniversa- lien äußerste Vorsicht bei der Suche nach Individualismus walten lassen. Ebenso wie die Schöne Madonna steht allerdings auch die Marienburger Skulptur im Ordensland stilistisch isoliert da. Ihre lokale Rezeption ist auf typologische, unsi- cher datierte Holznachahmungen48 begrenzt. Sogar wenn man die gemeinsame Zuschreibung in diesem Fall annehmen würde, widerspräche der Marienburger Christus der Theorie von der lokalen Tätigkeit des Meisters, da er in Pläner Kalk- stein49 ausgeführt wurde. Diese Beobachtung führte die Verfassern des Prager Ausstellungskatalogs zu einer ziemlich komplizierten Schlussfolgerung: Der Öl- berg-Christus sei ein von den Ordensrittern angeregtes Importwerk aus Prag50; die Schöne Madonna sei aber schon in Preußen von demselben Meister geschaffen 45 Clasen 1939 (wie Anm. 15), S. 180. - ähnlich: Jerzy DOMASLOWSKI, Wyposazenie wn^irza [Die Ausstattung], in: Marian Biskup (Hg.), Bazylika katedralna swi^tych Janöw w Toruniu [Die Ka- thedrale St. Johannes des Täufers und Johannes des Evangelisten in Thorn], Torun 2003, S. 109- 237, hier S. 143-144. 46 Im Gegensatz zu alten Prüfständen. - So z. B. Gwido CHARZYNSKI, Sztuka w Toruniu. Zarys dziejöw [Kunst in Thorn. Geschichtliche Übersicht], in: Kazimierz Tymieniecki (Hg.), Dzieje To- runia [Geschichte Thorns], Thorn 1933, S. 471-544, hier S. 506, datierte das Bildwerk erst in die Zeit um 1500 und sah die Analogien in spätgotischen Skulptur Nördlingen und Würzburgs. - In neueren Literatur hat Elzbieta Pilecka die Skulptur als ein Werk des Schönen Stils mit wahrschein- lich fränkischer Herkunft bestimmt: Elzbieta PlLECKA, Kosciöl p.w. Jana Chrzcicicla i sw. Jana Ewangelisly w Toruniu w okresic sredniowiecza jako wizualizacja swiadomosci spolecznej [Die Kirche St. Johannes der Täufer und St. Johannes der Evangelist in Thorn als Visualisierung des Gesellschaftbewusstseins], in: Katarzyna Kluczwajd/Michal Wozniak (Hg.), Dzieje i skarby kosciola swi^tojahskiego w Toruniu [Geschichte und Schätze der St. Johanniskirche zu Thom], Torun 2002, S. 119-176, hier S. 160. 47 Labuda 2006 (wie Anm. 34), S. 408-409. 48 Der Ölberg-Christus aus der St. Jakobskirche zu Thorn mit Zügen einer neuzeitlichen Wiederho- lung (Pelplin, Muzeum Diecezjalne, Inv.-Nr. 13/11/RZ/MDP). - Der Ölberg-Christus aus der Pfarrkirche in Hcilsberg/Lidzbark Wannihski, 1945 verschollen, veröffentlicht bei CLASEN 1939 (wie Anm. 15), S. 319, Kat.-Nr. 196. 49 Ausst.-Kat. Prag 2006 (wie Anm. 5), S. 417 (Jin Fajt). Eine solche Materialverwendung wird als Beweis für die Prager Provenienz betrachtet, so im Falle der Schönen Madonna aus Pilsen und Al- tenmarkt und der hl. Elisabeth aus Thann bei Grosslobming. 50 Ebd. Die Theorie über Thorner Provenienz von DOBRY 1993, S. 107-130, wurde von Fajt überse- hen und von Labuda (nach DOMASLOWSKI 2003 [wie Anm. 45], S. 140) abgelehnt. - Ausst.-Kat. Prag 2006 (wie Anm. 5), S. 418, Kat.-Nr. 13: Der Marienburger Ölberg-Christus (Jifi Fajt). - Labuda 2006 (wie Anm. 34), 406, Anm. 26. 236 Monika Jakubek-Raczkowska
worden, der in 1390er Jahren nach Thorn übersiedelte, wo er eine Werkstatt grün- dete, „die ihm mehr als zwanzig Jahre lang großem Ruhm einbrachte“51. Diese Folgerung ist die Konsequenz der seit langem behaupteten Voraussetzung, dass sich die Tätigkeit des Meisters der Schönen Madonnen mit der lokalen Schöpfung vereinigte, was seine „lokale Nachfolge“52 belegen soll. Die Frage der angeblichen Einwirkung des Meisters auf die heimische Kunst- produktion ist tatsächlich für die regionalen Forschungen viel bedeutender als das schwierige Problem seiner persönlichen Anwesenheit in Preußen. Zu den Na- chahmungen der Thorner Skulptur zählt sicherlich die etwas jüngere Skulptur in der Nikolaikirche zu Stralsund53, die denselben Typus in Holz transponiert. In der nordostdeutschen Holzschnitzerei hatte sie wohl keine Parallele und in dem vor Ort angefertigten Schrein54 wirkt sie recht fremd. Es dürfte sich bei dem hier ver- wirklichten charakteristischen Schönheitsideal nicht um eine hanseatische Um- formung des eleganten Kanons handeln55, sondern um eine Prager Variante56. Ihre Entstehung sollte man also eher mit Böhmen als mit dem Ordensland (Danzig), dem Rheinland oder Lübeck57 in Zusammenhang bringen. Zum Umkreis des Thorner Meisters wurde ebenfalls der Schmerzensmann in der Johanniskirchc zu Thorn gezählt58 - zweifellos ein Werk von hoher Qualität, das noch nicht ausführ- lich analysiert wurde - und auch eine im formalen Konzept unterschiedliche und zudem frühere Figur der hl. Barbara aus Barbarka bei Thorn.59 51 Ausst.-Kat. Prag 2006 (wie Anm. 5), S. 418, Kat.-Nr. 13: Der Marienburger Ölberg-Chrislus (Jin Fajt). 52 SCHMIDT 1978 (wie Anm. 2), S. 91: „... importierte Werke haben in der Regel keine lokale Nach- folge hervorgerufen, so dass zumindest im Ordcnsland mit der längeren persönlichen Anwesenheit des Meisters zu rechnen ist“. 53 Stralsund, Nikolaikirche - Jungealtar. Nussbaumholz, H. 131 cm. 54 Siehe die Arbeit von Burkhard KUNKEL, Die Stralsunder Junge-Madonna als Ebenbild der Schö- nen Madonna von Thorn - Überlegungen zur Herkunft eines Marienbildes aus Stralsunder Pers- pektive, in diesem Band. 55 Hans WENTZEL, Niederdeutsche Madonnen, Hamburg 1940, S. 24-25, sah in dieser Skulptur eine „schöne Madonna in Niederdcutschland formuliert“, und sprach das Jesuskind - nach älterer Lite- ratur - als „plattdeutsch“ und „lübisch“ an. - Ähnlich Nikolaus und Rosemarie ZASKE, Kunst in Hansestädten. Leipzig 1985, S. 169: Sie wiesen auf das „herbe, fast mürrische Gesicht“, das „nicht in eine Umgebung mit luxuriöser Geistlichkeit“ passe, hin. 56 Die besonderen Gesichtszüge (gezwungene Nase, breiter Augenabstand, zurücktretendes Kinn), haben ihre Parallele in einer Madonnenbüste aus den Jahren 1390-1395, die stilistisch mit der Thorner Madonna in Verbindung steht (New York, Metropolitan Museum of Art). - Ausst.-Kat. Prag 2006 (wie Anm. 5), S. 519-520, Kat.-Nr. 181: Tonbüste einer gekrönten Jungfrau (Julien CHAPUIS). 57 Literalurverglcich mit Herkunftsüberpüfung bei Johannes Voss, Die Stralsunder Junge-Madonna. Ein Beitrag zur Entstehung des Relabcls und zur Werkstoffgeschichte in Nordostdeulschland im 15. Jh., in: Hartmut Krohm/Uwe Albrecht/Matthias Weniger (Hg.), Malerei und Skulptur des spä- ten Mittelalters und der frühen Neuzeit in Norddeutschland. Künstlerischer Austausch im Kultur- raum zwischen Nordsee und Baltikum, Berlin 2004, S. 69-72, hier S. 69. 58 Thorn, St. Johanniskirche - auf einer Konsole in St. Barbarakapelle. Kunststein, H. 130 cm. - Die Zuschreibung zum Kreis des Meisters: Clasen 1939 (wie Anm. 15), S. 180: Meister der Kulmscer Kreuzigung, auf dem Vorbild vom Hauptmeister. - Domaslowski 2003 (wie Anm. 45), S. 145. - Ausst.-Kat. Prag 2006 (wie Anm. 5), S. 418 (Jin Fajt). 59 Ursprünglich Thorn, St. Johanniskirche. Kalkstein, H. 87 cm. Pelplin, Muzeum Diecezjalne, Inv.- Nr. 32 / I. - Zur Zuschreibung dem Umkreis des Meisters: Roman ClECHOLWSKI, „Quis ut Deus“. Schätze aus dem Diözesanmuseum Pelplin: Kunst zur Zeit des Deutschen Ordens. Lüneburg 2000, S. 134. - Ausst.-Kat. Prag 2006 (wie Anm. 5), S. 418 (Jin Fajt): geschaffen „zumindest im Kon- takt“ mit dem Meister des Schönen Madonna. - Labuda 2006 (wie Anm. 34), S. 408, hält die Figur Die „Schönen Madonnen“ 237
Seit Clasen ging die ältere Literatur davon aus, dass in Sinne eines lokalen Nachklangs der Tätigkeit des Meisters der Schönen Madonnen die Schöne Madon- na in der Marienkirche als Schöpfung seines angeblichen Schülers in Danzig, eben des sogen. Meisters der Danziger Schönen Madonna anzusprechen sei. Diese Vor- aussetzung hat für lange Zeit die Entwicklung der preußischen Skulptur des Schö- nen Stils in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts verunklärt. Allerdings sind trotz der Zugehörigkeit der Danziger Schönen Madonna zum sogen, „preußisch- schlesischen“ Typus und trotz der scheinbaren Abhängigkeit vom Thorner Modell, die in der Gcwanddrapicrung erkennbar sei, diese beiden Bildwerke einander eher fremd als miteinander verwandt. Die hieratische Komposition der Danziger Figur stellt eine konservative Konzeption des Zusammenhangs zwischen Mutter und Kind dar; als andersartig ist auch die Gcstussymbolik zu interpretieren. Man hat hier auf ein intimes Verhältnis verzichtet - die Aufmerksamkeit der beiden Personen ist völlig auf das Attribut konzentriert. Die Bewegung von Marias linker Hand mit dem Apfel ist nicht entschlossen, wodurch sich hier die anbietendc Geste - wie man sie von der Thorner Figur kennt - zu einer offiziellen Präsentation wandelt. Der Effekt wird noch durch eine steife Pose des Jesusknaben verstärkt, die gegen- über dem Beobachtungsnaturalismus des Kreises der Schönen Madonnen fremd wirkt. In der Danziger Darstellung streckt das Kind nur eine Hand zum Apfel aus - was eher an einen Segensgestus als an ein Kinderspiel erinnert und gegen die ideale innere Einheit von Mutter und Kind spricht. Die Gewanddrapierung, die sich der Bewegung Mariens anpasst, unterstützt dabei die blockhafte Homogenität des Vo- lumens. Anders als im Thorncr Werk dient sie kaum der Zentrierung der Komposi- tion auf den Jesusknaben60, sondern seiner optischen Zuordnung. Sowohl der Gesichtsausdruck der Maria als auch die Gestaltung des Körpers des Jesusknaben, der entgegen der Tradition der Schönen Madonnen teilweise mit einer Draperie umhüllt ist, widerspricht dem lyrischen Schönheitsideal des Internationales Stils. Die Farbgebung der ornamental gezierten Gewänder, die Besonderheiten des Kos- tüms, die über die Brust fallenden, stilisierten Haarlocken, stehen dem für den Schö- nen Madonnen typischen Verzicht auf Details und der kritischen Einstellung zur Mode61 entgegen. Die Danziger Figur ist in Wirklichkeit eine selbständige Schöp- fung, die im Ordensland - ebenso wie die Schöne Madonna aus Thorn - weder eine Tradition hatte, noch dort eine Fortführung erfuhr. Ihre Form wurde auf einer Stilba- sis entwickelt, die in der Region viel fremder war, als die hier von der Mitte des 14. Jh. anwesenden böhmischen Einflüsse. Man kann vermuten, dass der Grundunter- schied zwischen den beiden Schönen Madonnen - aus Thorn und Danzig - nicht auf Typ, Stil oder Werkstatt beruht, sondern auf der unterschiedlichen Beziehung zur französischen Kunsttradition. der hl. Barbara und eine verwandte hl. Elisabeth in der Johanniskirche zu Marienburg für Werke, die den Schönen Madonnenstil entwickeln. - Anders zum böhmischen Ursprung und zur Möglich- keit einer noch früherer Datierung (schon 1385-90): Monika Jakubek-Raczkowska, Rzezba gdahska przclomu XIV i XV wieku (Die Danziger Skulptur um die Wende des 14. zum 15. Jh.], Warszawa 2006, S. 98-103. 60 Zum Kompositionssinn des im Gegensatz zur französischen Tradition des 14. Jhs komplizierten Ealtenkomplexes der Schönen Madonnen, Winter 1983 (wie Anm. 3), S. 2-4. 61 Über die ideologische Rolle des asketischen, fast abstrakten Kostüms im Kreis der Schönen Ma- donnen: Max Hasse, Studien zur Skulptur des ausgehenden 14. Jahrhunderts, in: Städel-Jahrbuch NE 6 (1977), S. 118-120. 238 Monika Jakuhek-Rciczkowska
Hier nun fügen sich diese Ausführungen in die allgemeine Diskussion über die Genese der Schönen Madonnen ein. Obwohl Clasens „Kunstgeschichte als Künst- lergeschichte“ keine Anerkennung unter den mitteleuropäischen Kunsthistorikern gefunden hat62, kehrte die Idee der westlichen Herkunft des Kreises der Schönen Madonnen noch mehrmals zurück. Eine wichtige Rolle hat hierbei die Veröffent- lichung von Robert Didier und Roland Recht63 gespielt, in der neue Sichtweisen entwickelt worden sind. Die beiden Forscher wiesen auf die umfangreichen, aber damals wissenschaftlich vernachlässigten Werke der Pariser Kunst des Hofes Karls V. von Valois als mögliche Inspirationsquellen hin.64 Ihre Überlegungen zum Problem der Schönen Madonnen hatten zwar kaum zum Zweck, die Rolle von Prag bei der Herausbildung des Typs neu zu bestimmen, doch machten die Forscher darauf aufmerksam, dass die Pariser Madonnen der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts als parallele Kunsterscheinung ihre Rezeption auch in den Werken fanden, die allgemein als die „Schönen Madonnen“ angesprochen werden, obwohl sie viel konservativer wirken. Die „echten“ Schönen Madonnen, mit ihren raffi- nierten Kompositionssystem - der neuzeitlichen figura serpentinata nahe stehend - sind jedoch eine böhmische Gruppe (inconstablement bohemiennef5, für die die Pariser Figuren nicht Quelle, sondern Äquivalent66 oder Antithese bilden.67 Die- selbe Forschungsrichtung wurde auch von anderen Autoren aus dem französischen Wissenschaftsmilieu repräsentiert, obwohl das Problem der Kunst um 1400 im internationalen Kontext in der französischen Literatur ziemlich isoliert bleibt. Trotz allgemeiner Anerkennung der Bedeutung der Pariser Tradition für die böh- mische Kunst in der Zeit der Luxemburger bestimmt man üblicherweise die Schö- nen Madonnen als mitteleuropäischen Stilkomplex, zu dem die französischen Madonnen der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts lediglich eine Alternative bilde- ten. Eine solche Meinung vertreten Sophie Guillot de Souduirut68 69, für die die Pariser Skulptur um 1400 gegenüber der mitteleuropäischen als parallel, aber interprete diversement erscheint, oder Elisabeth Antoine, die sie als eine heterogene, auf ande- ren Stilprinzipien als die Schönen Madonnen basierende Gruppe betrachtet. ’ Von anderer Seite behandelt findet die Frage nach dem Ursprung des Stils der Schönen Madonnen auch weit verwegenere Antworten. So schlug Michael Victor Schwarz70 einen Blick auf die Kunsterscheinungen um die Wende des 14. zum 15. 62 Wie oben Anm. 2. 63 Roben DlDlER/RoIand RECHT, Paris, Prague, Cologne et la sculpture de la seconde moitie du XIV siecle. A propos de l’exposition des Parier a Cologne, in: Bulletin Monumental CXXXVIU (1980), S. 173-219. 64 Ihrem Reichtum wurde erst bei Gelegenheit der Pariser Ausstellung Les fastes du Gothique in den Jahren 1981-1982 eine neue Wertschätzung entgegen gebracht. - Ausst.-Kat. Les lasles du Go- thique. Le siecle de Charles V. Com. Fran^oise Baron (Paris, Galeries nationales du Grand Palais), Paris 1981. 65 DiüIER/Recht 1980 (wie Anm. 63), S. 190. 66 Ebd., S. 97. 67 Ebd., S. 195. 68 Sophie GUILLOT DE SUDUIRAUT, Le Flamboyant gothique (1400-1539), in: Georges Duby/ Xavier Barral y Altet/Sophie Guillot de Suiduiraul (Hg.), La sculpture. De l’anliquite au Moycn Age. Du VIII siecle avant J.-C. au XVc siecle, Köln 2006, S. 471-540, hier S. 474-475. 69 Elisabeth ANTOINE, Vierges ä I’Enfant: des Beiles Madonnes? In: Ausst.-Kat. Paris 14(X). Les ans sous Charles VI. Com. Elisabeth Taburet-Delahaye (Paris, Musee du Louvre). Paris 2004, S. 324-325. 70 Michael Viktor Schwarz, Höfische Skulptur im 14. Jahrhundert. Entwicklungsphasen und Ver- milllungswege im Vorfeld des Weichen Stils, Worms 1986 (Manuskript zur Kunstwissenschaft), Die „Schönen Madonnen“ 239
Jahrhundert vom Standpunkt der höfischen Kunst vor, die in höfischen Kreisen entwickelt und dank höfischer Kontakte „sprungweise“ übermittelt wurde. Eine bedeutende Rolle spielt in seiner Konzeption die Kunst des Hofes Sigismunds von Luxemburg in Buda. Das plötzliche Aufkommen des Weichen Stils im Osten ist nach Schwarz als Ergebnis der längere Zeit in Buda zusammenarbeitenden Künst- ler franko-flämischer Ausbildung zu verstehen* 71, die sich - nach Abschluss der Arbeiten für Sigismund - in Europa zerstreuten72. In diesem Lichte wäre die Thorner Schöne Madonna ein Werk eines französischen Bildhauers, „der nach 1396 nicht nach Frankreich heimkehrte“, sich vielmehr, „vielleicht von Gehilfen begleitet, nach Norden gewandt (hätte), wo in den Handelsstädten wie Thom mehr Gewinn zu erhoffen war als in seiner politisch und wirtschaftlich instabil gewor- denen Heimat“.73 Eine solche Möglichkeit von Auswanderungen der französi- schen Künstler wegen der ökonomisch-politischen Krise hat auch Ulrike Hein- richs-Schreiber in ihrer Studie zum Pariser Skulptur der Zeit Karls V. und Karls VI. von Valois vermutet.74 Nach ihrer Meinung könnten die künstlerischen Erfah- rungen von Paris einen Einfluss auf die Prager Dombauhütte Parlers ausgeübt haben. Sie hielt sogar einen unmittelbaren Kontakt von Peter Parier mit dem Werk Claus Sluters für möglich75 und vermutete, dass die Entstehung der Schönen Ma- donnen um 1380 von der zeitgenössischen Pariser Skulptur inspiriert worden sei76. Diese Meinung wurde auch von Agnieszka Laguna-Chevilotte in der Studie ge- teilt77, in der sie auf die französische Herkunft der Haarnadelfalte hinwies. Ihrer Auffassung nach ist die Figur der Madonna einer Verkündigungsgruppe in Ecouis (um 1380) als Vorbild für die Thorner Schönen Madonna zu betrachten, wobei man auch auf analoge Beispiele - wie eine Prophetenfigur in Museum of Fine Arts in Boston - verweisen könne.78 Auch das Faltensystem der Maria in der Hoffnung aus Thorn leitet die Verfasserin von einem französischen Schema ab - wie bei der Statue der Jeanne de Bourbon im Louvre.79 Bd. 1-2. - Vgl. auch die Rezensionen: Marosi, Ernö [Rezension. Schwarz 1986], in: Acta Histo- riae Artium Academiae Scicntiarum Hungaricae 34 (1989), S. 61-64; Wojciech MäRCINKOWSKI, [Rezension. Schwarz 1986], in: Folia Historiac Atrium 27 (1991), S. 147-152. 71 Schwarz 1986 (wie Anm. 70), S. 469-495 [Die Meister der Schönen Madonnen - eine neue Hypothese], 72 In der Werkstatt in Buda sollen nach SCHWARZ 1986 wie Anm. 70 folgende Meister ausgebildet worden sein: der preußische Meister der Thorner Schönen Madonna (S. 469-477), der Meister aus Grosslobming (S. 477-479), der Meister der Madonna aus Krumau (S. 479L), der Meister der Klosterneuburger Madonna und des Vir Dolorum aus St. Michaeliskirche in Wien (S. 480-483). 73 Ebd. 77. 74 Ulrike HEINRICHS-SCHREIBER, Die Bedeutung der französisch-höfischen Bildhauerkunst für den Meister aus Grosslobming, in: Ausst.-Kat. Der Meister von Grosslobming, hg. von Artur Saliger (Wien, Österreichische Galerie - Unteres Belvedere), Wien 1994, S. 9-29, hier S. 16-17. - Ulrike HEINRICHS-SCHREIBER, Vincennes und die höfische Skulptur. Die Bildhauerkunst in Paris 1360- 1420, Berlin 1997, S. 228-229. 75 Heinrichs-Schreiber 1997 (wie Anm. 74), S. 223-225. 76 Ebd. S. 227-228. 77 Agnieszka Laguna-Chevillote, Contribution ä la recherche sur les „Beiles Madones“ et la sculpture fran^aise autour de 1400. Memoire du D.E.A. d’Histoire de 1’Art Medieval (Sous la di- rection de Monsieur D. Russo Professeur en Histoire de 1’Art Medieval). Univer.site de Bour- gogne, Dijon 2001/2002. Masch. Unpubliziert. Ich möchte mich herzlich an dieser Stelle der Auto- rin bedanken, die mir ihre unpublizierte Arbeit freundlich zur Verfügung gestellt hat. 78 Ebd. S. 63-64 und 67-68. 79 Ebd. S. 68. 240 Monika Jakubek-Raczkowska
Alle diese Vorschläge für stilistische Verbindungen sind jedoch mit Vorsicht zu betrachten, wenn man die Verbreitung von Musterbüchern in Europa an der Wende des 14. zum 15. Jh. in Betracht zieht. Der Mangel an eindeutigen schriftli- chen Quellen erschwert sowohl das klare Verständnis der Mechanismen, die einen solch universellen Austausch in dieser Zeit bestimmten, als auch die sichere Be- stimmung der stilistischen Einflussrichtungen. Gleichwohl kann, ohne die Frage der stilistischen Zusammenhänge in der 2. Hälfte des 14. Jahhunderts auszublen- den - vor allem hinsichtlich der kontroversen Beziehung Sluter-Parler80 -, als gesichert gelten, dass die böhmische Kunst in der Zeit Karls IV. von Pariser Vor- bildern inspiriert wurde. Sie war ein Ergebnis des Mäzenatentums eines Kaisers, dessen Reise nach Frankreich und Adaption französischer Kultur gut bekannt sind.81 Spuren der französischen Darstellungstradition sind in vielen bildhaueri- schen Arbeiten des 14. Jahrhunderts zu finden, wie z.B. bei dem Meister der Michle-Madonna. Prag war jedoch ein Zentrum mit einer anderen, „slawischen“ Atmosphäre als Paris und mit einer eigenen Veränderungsdynamik, auf die kein „Vergangenheits-Ballast“ der großen Kathedralskulptur oder höfischen Kunst einwirkte. Ohne eine heimische Tradition fortzusetzen, hat Prag einen originären und erkennbaren Stil geschaffen, fassbar trotz des Universalismus der Zeit um 1400, worauf vor kurzem Gerhard Schmidt82 aufmerksam gemacht hat. Die Ma- donna mit dem Kind aus dem Altstädtischen Rathaus in Prag, in ihrer Herkunft so französisch83, war doch eine im Sinne der Form absolut innovative Schöpfung. Zu ähnlichen Schlüssen führt auch die Überlegung zur Typologie der Schönen Madonnen. Hans Belting interpretierte die Skulpturen nicht nur im Sinne der Formulierung eines neuen Typs, sondern auch als ein Ausdruck einer „Regotisic- rung“, einer Rückkehr zu einem archaischen Ideal, gegen die natürliche, empiri- sche Form des Spätmittelalters.84 Die Ästhetik der Schönen Madonnen, in ihrer Zeit neu, knüpfte zwar an die alte Konzeption der Kunst um 1300 an, schul gleichzeitig ein neues, zeitloses Bildnisideal.85 Als Beispiel kann die Schöne Ma- donna in Sternberg (Abb.7) angeführt werden, da sie ein in diesem Kunstkreis unwiederholbares Werk bildet, das - wie Robert Suckale meint - keine themen- gleichen Vorbilder hat.86 80 Heinrichs-Schreiber 1997 (wie Anm. 74), S. 223-225. 81 Siehe u. a.: Peter KovÄC, Notes on the description of the Sainte-Chapelle in Paris Irom 1378, in: Jin Fajt (Hg.), Court Chapels of the High and Late middle ages and their artiStic dccoration, pro- eeedings from the International Symposium, Praha 2003, S. 162-171, Jin Fajt, Von der Nach- ahmung zu einem neuen Kaiserlichen Stil. Entwicklung und Charakter der hcrrscherlichen Reprä- sentation Karl IV. von Luxemburg, in: Ausst.-Kat. Prag 2006 (wie Anm. 5), S. 41-75, hier S. 42- 44. 82 Gerhard SCHMIDT, Bewegung und Gegenbewegung. Internationale Gotik versus Schöner Stil, in: Ausst.-Kat. Prag 2006 (wie Anm. 5), S. 541-547. 83 Zu diesem Thema vor allem: Robert Didier, Contribution ä l’etude d’un typ de Vierge fran^aise du XIV1’ siede. A propos d’une replique de la Vierge de Poissy ä Herresbach, in: Revue des Archco- logues et historienne d’art de Louvain 3 (1970), S. 49-72, hier S. 70-71. Besprechung der Stilproble- me und Literaturprüfstände: Ausst.-Kat. Prag 2006 (wie Anm. 5), S. 105-107, Kat.-Nr. 30: Stehende Madonna mit Kind vom Altstädter Rathaus im Prag (Markus HÖRSCH). 84 BELTING 1998 (wie Anm. 3), S. 586. 85 Ebd. 86 Robert SlJCKALE, Die Stemberger Schöne Madonna, in: DERS., Stil und Funktion. Ausgcwähltc Schriften zur Kunst des Mittelalters (hg. Peter Schmidt, Gregor Wedekind), München-Berlin 2003, S. 87-101, hier S. 92. Die „Schönen Madonnen" 241
Abb. 7: Sternberg/Sternberk, Pfarrkirche (wahrscheinlich ursprünglich Chorherrenstift), Schöne Madonna, um 1380-90. Kalkstein, H. 84 cm. Nach: Clasen 1974, Abb. 33 In einer subtilen Analyse hat der Forscher auf ihre innovativen Inhalte hinge- wiesen87: In eine entfernte Vision der Passion Christi starrend, trennt Maria ihren Sohn mit einer natürlichen Gebärde von dem Zuschauer ab, als möchte sie den Knaben schützen. Ihre linke Hand sinkt im eucharistisch gemeinten Fleisch ein; die Rechte exponiert das Bein Christi, das für die Aufnahme der Wunden bereit ist. Solche Gesten, und auch der intensive Blick des Kindes, der den Kontakt mit dem Betrachter sucht, drängen nach kontemplativer Compassio. Man kann aber auch erkennen, dass der neue theologische Gehalt einem älteren, französischen Bildschema aufgelegt wurde, in dem u.a. die Anordnung der rhythmischen Falten eine „erneute Rezeption der französischen Skulptur der Zeit des hl. Ludwig aus der Mitte des 13. Jh.“ darstellt.88 Diese Rezeption ist auch in der Zusammenstel- lung der vielfältigen ikonographischen Motive sichtbar. Die besondere Gebärde der Muttergottes, die ihre rechte Hand auf die Brust Jesu legt, kann noch aus der monumentalen Kathcdralcskulptur hergeleitet werden und erfreute sich in der Pariser Elfcnbcinskulptur einer gewissen Popularität.89 Für die französische 87 SUCKALE 2003 (wie Anm. 86), S. 87-97. - Ausst.-Kat. Prag 2006 (wie Anm. 5), S. 549, Kat.-Nr. 197: Die Sternberger Schöne Madonna (Jin Fäjt/Robcn Suckale). 88 Ausst.-Kat. Prag 2006 (wie Anm. 5), S. 549, Kat.-Nr. 197: Die Stemberger Schöne Madonna (Jiri Faj t/Roben Suckale). 89 Wie z. B. die Skulpturen aus der Kirche Amand-lcs-Pas und Kathedrale Saint-Omer in Pas-de- Calais, eine Steinfigur aus Sainl-Germer-de-Fly (in Musee departamenlal de l’Oise, Beauvais) 242 Mon ika Jakubek-Raczkowska
Skulptur typisch ist eine in der Ikonenmalerei verwurzelte, hier zur neuen Gestalt veränderte Gebärde des Jesusknaben, der nach dem Kopftuch Mariens greift. 90 Endlich war auch das Motiv der Fußpräsentation, das bei der Sternberger Figur als ein „Zitat“ aus den Pietä-Darstellungen interpretiert werden kann91, in der franzö- sischen Kunst schon viel früher anwesend. Dort war cs als ein Symbol der Menschwerdung Christi gemeint.92 Die so einzigartige Skulptur in Sternberg war also eine geniale, auf früheren Traditionen gestützte Kompilation, in der die eu- charistische Nacktheit des Kindes und die angsterfüllte Stimmung des Nachsin- nens die wichtigsten Innovationen bildeten. Abb. 8: Thorn/Torun, St. Johanneskirche, Schöne Madonna, um 1390. Kalkstein, H. 115 cm. Verschollen. Nach: Clasen 1974, Abb. 13 Die Schöne Madonna aus Thorn war ein Beispiel für denselben Assimilations- und Transformationsprozess in der böhmischen Schöpfung am Ende des 14. Jahr- hunderts. Das intime Spiel mit dem Apfel - ein für den Madonnen der preußisch- schlesischen Gruppe charakteristisches Merkmal - war tief in der französischen Kunst verwurzelt93, die gleichfalls eine Quelle für das Motiv der Löwenmadonnen oder kleine Elfenbeinstatuetlen im Pariser Louvre (Inv.-Nr. OA 2583, OA 9957). - Fran^oise Baron, La slatuaire inariale dans le departamenl de l’Oise ä la fin du XIII1 et au XIV1 siede, in: Alain Erlande-Brandenburg (Hg.), L’art gothique dans l’Oise et ses environs (XII -XIV1 siede). Architecture civile et religieuse, peinture murale, sculpture. des ans precieux etc. Colloque inter- national ä Beauvais 1991, Beauvais 2001, S. 192. 90 Baron (wie Anm. 89), S. 191-205, hier S. 199. 91 SüCKALE 2003 (wie Anm. 86), S. 94. 92 Seit Ciril von Jerusalem (4. Jh.), der eine dogmatische Symbolik des Körpers Christi entwickelt hat, waren die Füße des Erlösers mit seiner Menschlichkeit verbunden. - Ausst.-Kal. L art aux temps des rois maudits Philippe le Bel et ses fils 1285-1328. Corn. Danielle Gaborit-Chopin (Paris, Galcrie.s nationales du Grand Palais). Paris 1998, S. 136, Kal.-Nr. 81: La Viergc a I Enfant (Franchise Baron); Baron 2001 (wie Anm. 89), S. 200. - Wir finden die Fußpräsentationsgesle in einer Reihe der Elfenbein- und Marmorskulpturen aus dem 13. und 14. Jh. Seine Verwendung konstituiert in der Kunst der Ile-de-France einen selbständiger Madonnen-Typus (z.B.: Madonna aus der St. Lambertuskirche in Varenne-sur-Seine und im Region Oise: die Madonnenstalucn in Höpital General in Senlis, in Talmontiers und Mesnil-en-Thele (l’Oise). - BARON 2001 (wie Anm. 89), S. 200-201. 93 Die Genese einer Spielstimmung in den Mutlergottesdarstellungen ist mit der Vierte Do ree von Amiens zu verbinden. Die intime ikongraphische Auffassung wurde vor allem in der Elfcnbein- Die „Schönen Madonnen1' 243
war, ebenso wie die Anordnung der Jcsusgestalt mit dem nach vorne herausge- schobenen Beinchen. Im Unterschied zur westlichen Tradition, war das Kind ganz nackt und klassisch idealisiert. Auch war das Gesicht Mariens mit einem traurigen Ernst erfüllt, den archaischen, symbolischen Lyrismus der byzantinischen Eleusa atmend, der den Pariser Hofskulpturen so fremd blieb (Abb. 8). Anders als bei der Sternberger Madonna findet hier beim Spiel der Mutter mit dem Kind diese Me- lancholie keine visuelle Begründung. Da diese traurige Stimmung ein für alle Schönen Madonnen charakteristisches Merkmal darstclll, könnte sie als Kompo- nente des Typs bestimmt werden, die ihren Ursprung in der böhmischen Tafelma- lerei des 14. Jahrhunderts hatte. Es soll aber auch betont werden, dass dies nicht nur ein böhmisches Novum war. Den Verzicht auf die manierierte, höfische Stili- sierung des Mienenspiels findet man sowohl in einer Gruppe von Steinstatuen in der Ile-de-France und der Champagne94 als auch in der lothringischen Skulptur, bei der die Trauerstimmung ebenso die Regel war95, deren Bedeutung für die Entwicklung der europäischen Kunst in der neuesten Forschung immer deutlicher betont wird. Im Falle der Schönen Madonna in der Marienkirche zu Danzig, stellt sich die Beziehung zur französische Tradition ganz anders dar: die kreative Paraphrase verändert sich in eine „Regotisierung“. Obwohl man in der älteren Literatur das Werk als eine hanseatische Schöpfung betrachtet hat96, welche „die freie Ostsee- luft“ atmet97, haben Didier und Recht ihre westliche Provenienz betont.98 Die Quelle der oben erwähnten Besonderheit der Skulptur vor dem Hintergrund des Kreises der Schönen Madonnen scheint die Treue gegenüber der französischen Darstellungstra- dition zu sein. Von dort stammt vor allem das bezeichnende Merkmal der Skulptur: die kompakte Komposition, welche die beiden Gestalten einer fließenden C- Bcwcgung einordnet. Die Wurzeln eines solchen Schemas sind in der Pariser Ellcnbeinskulptur zu suchen. Ebenso wie die französischen Madonnen des 13. und 14. Jahrhunderts hält die Danziger Maria ihr unproportional kleines, von natürli- skulptur populär, wo auch das Motiv des Apfelanbietens erschien. Als das berühmteste Beispiel ist die Madonna aus der Sainte-Chapelle (heute im Louvre, Inv.-Nr. OA 57) zu nennen. 94 Z.B. Madonnenskulpturcn im Pariser Louvre (Inv.-Nr. RF2534 und RF1398) aus dem 2. Viertel des 14. Jhs. 95 Josel SCHMOLL GEN. ElSENWERTII, Zur lothringischen Skulptur des 14. Jahrhunderts, in: Ausst.- Kat. Lothringische Skulptur des 14. Jahrhunderts, hg. von Ralph Mecher (Saarbrücken, Saarland- museum), Petersberg 2006, S. 7-16, hier S. 12. 96 Die lübischen Einflüsse sind von Bernhard SCHMID, Die bildende Kunst in Preußen zur Zeit des deutschen Ritterordens, in: Die Provinz Westpreußen in Wort und Bild, 2. Teil - Einzeldarstellun- gen. 2. Aull., Danzig 1915, S. 449-459, hier S. 447, vorgeschlagen. - Pinder sah in der Figur eine Synthese der böhmischen und hanseatischen künstlerischen Voraussetzungen: Wilhelm PINDER, Zur Problem der Schönen Madonnen um 1400, in: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen 44 (1923), D. 147-171 und DERS., Die deutsche Plastik vom ausgehenden Mittelalter bis zum En- de der Renaissance. 1. Teil. Wildpark/Potsdam 1925 (Handbuch der Kunstwissenschaft), S. 240- 241. - Auf nördlichen Charakter des Werkes hat auch Abramowski aufgewiesen: Paul Abra- mowski, Danziger Plastik von der Mitte des 14. Jahrhunderts bis zum Beginn der Renaissance. Diss. Leipzig 1926, S. 49-52. - Adolf FEULNER, Der Meister der Schönen Madonnen, in: Zeit- schrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 10, 1/2 (1943), S. 19-48, hier S. 32, hat die Skulptur als Beispiel der Verbürgerlichung betrachtet. 97 Pinder 1925 (wie Anm. 96), S. 240. 98 Didier/RecHT 1980 (wie Anm. 63), S. 146. - Roland RECHT, I^t sculplure, in: Roland RECHT/ Albert CllATELET, Le monde gothique; Autoinne et renouveau, Paris 1988, S. 75-177, hier S. 103. 244 Mon ika Jakubek-Raezkotvska
chem Gewicht freies Kind hoch auf einem Arm, über ihrem Standbein. Eine west- liche Genese hat auch die Manteldrapierung, dessen Falten sich auf der linken Hüfte Mariens Zusammenlegen und ein Gewandgehänge auf der Seite der Jesusge- stalt bilden, was visuell logischer wirkt als bei der Madonnen aus Sternberg oder Thorn. Eine charakteristisch steife, im Kreis der Schönen Madonnen ohne Parallelen bleibende Anordnung der Gestalt des Jesusknaben, der eine Hand über dem Attribut ausstreckt, die andere dem Körper anlegt und ein gebeugtes Bein über das andere herausschiebt, knüpft typologisch an das häufigste Schema der französischen Ma- donnenfiguren an. Die ostentative Gebärde der linken Hand Christi erinnert dabei an eine besondere Komposition, in deren Maria die Pyxis hält, zu welcher das Kind seine segnende Rechte ausstreckt.99 Von der Pariser Tradition können endlich auch das naturalistisch angeschwollene Gesicht und klobige Gestaltung des Körpers Jesu abgeleitet werden, der - gegen die Ikonographie der Schönen Madonnen - mit dem Gewand umhüllt ist, wodurch der eucharistische Kontext verschwindet. Aus der französischen Tradition geht ebenfalls der Typus des Marienbilds her- vor, mit fallenden langen Haarwellen, die von kleinen Ringbüscheln geziert wer- den.100 Dieses Motiv knüpft an die Schöpfung des Andre Beauncveus an - es ist bei einer Reihe sein Werk nachahmender Madonnenstatuen zu finden.101 Das Schönheitsideal, vom böhmischen Kanon um 1400 ziemlich weit entfernt, ist wiederum im Werk des anderen Pariser Bildhauers, Jean de Marville, zu finden, der auch auf Claus Sluter Einfluss ausgeübt hat102, weshalb die entfernte Ver- wandtschaft zwischen der Danziger Madonna und der Maria im Portal der Kar- thause zu Champmol in Dijon nicht erstaunt. Während seines langen Aufenthalts in Brügge entwickelte Marville eine naturalistische Darstellungsweisc, die in die niederländische Skulptur Eingang fand. Eines der bedeutendsten Beispiele ist die sogen. Sint-Donaas-Madonna aus Brügge aus den 80er Jahren des 14. Jahrhun- derts103, die letztens als eine mit dem früheren Werk Sinters in Dijon verbundene 99 Der Gestus ist als Präfiguration des Opfers Christi und auch als Symbol der Eucharistie zu inter- pretieren. - Diese Variante wurde mit der Mariendarstellung aus der Zisterzienserabtei in Pont- aux-Daincs (Scine-sur-Mamc), 2. Viertel des 14. Jhs., begonnen. - Ausst.-Kat. Paiis 1981 (wie Anm. 64), S. 91-92, Kat.-Nr. 6: La Vierge ä 1’Enfant (Fran^oise Baron). 100 Hasse 1977 (wie Anm. 61), S. 125 sah in der Danziger Maria eine westliche Tradition - ein Typus, der sich in den Niederlanden, in der Sluternachfolge und im Frankreich, setzte. 101 Z.B. die Figur in der St. Georgskirche in Monceau-le-Compte um 1380, betrachtet als Nachlolge- werk der hl. Katharina aus Courtrai. - So DiöIER/Recht 1980 (wie Anm. 63), 199. - Ausst.-Kat. Paris 1981 (wie Anm. 64), 141, Kat.-Nr. 90: La Vierge allaitant 1’Enfant (Fran^oise Baron): die Nachahmung der Madonna aus Cour-Dieu in Rahmen einer Strömung, die sich an die Katharina in Coutrai anknüpft. - Ausst.-Kat. Les princes des fleurs de lys. L’art a la cour de Bourgogne. Le mecenat de Philippe le Hardi et de Jean sans Peur (1364-1419), Com. Stephen N. Fliegel/Sophic Jugie (Dijon, Musee des Beaux Arts/Cleveland, The Cleveland Museum of Art). Paris 2004, S. 313-14, Kat.-Nr. 118: La Vierge allaitant 1’Enfant (Denise BORLEE): „le reflct de la sainte Cathe- rine de Courtrai“. 102 Robert Didier, Claus Sluter. A f occasion de l’exposition au Musce des Arts Änderns de Namurois (26 VI-22 VIII 1993), Namur 1993 (Publication extraordinnaire de la Sociele archcologique de Namur), S. 17. - Fabienne JOUBERT, lllusionisme monumental ä la fin du XIV e siede. Les re- cherches d’Andre Beauncveau et de Claus Sluter ä Dijon, in: Fabienne Joubert/ Danny Sandron (Hg.) ; Pierre, lumicre, couleur. Etudes d’histoire de l’art do Moyen Age ä rhonncur de’Anne Prache, Paris 1999, S. 367-384 (Culture et Civilisation mcdieval XX). 103 Ausst.-Kat. Dijon/Clcveland 2004 (wie Anm. 101), S. 67-68, Kat.-Nr. 20: Vierge a 1’Enfant (Hans Nieuwdoip). Die „Schönen Madonnen“ 245
Arbeit gewertet wurde.104 Für unsere Ausführungen ist besonders wichtig, dass der Stil der Danziger Madonna sich nicht unmittelbar an Frankreich, sondern an den Niederlanden orientiert, wobei die Madonna aus St. Donatian meist als ihre for- melle Vorstufe angenommen wird. Die Skulpturen sind miteinander durch die französische Typologie105 und das Streben nach Naturalismus im Gesicht der Maria und in der Jesusgestalt verbunden. Nach der Meinung von Gerhard Schmidt106 und Robert Didier107, spricht eine solche Verwandtschaft für Zuschrei- bung der Danziger Schönen Madonna an einen Bildhauer, der aus Brügge kam und in Pommern tätig war. Man sollte sich aber bewusst sein, dass die erwähnten Zusammenhänge eher oberflächlich sind. Im Unterschied zur Sint-Donaas- Madonna, ist die Danziger Skulptur von einer ernsten, adligen Würde erfüllt. Viel überzeugendere Analogien findet man in einer nordniedcrländischen Eichenholz- skulptur der Maria mit dem Kinde aus Ankevecn bei Hilversum108 (Abb. 9), die wahrscheinlich in Utrecht um 1430 ausgeführt wurde. Die beiden Bildwerke reali- sieren dasselbe Modell, wenngleich im anderen Maßstab, im verschiedenen Mate- rial und kompositionell spiegelbildlich. Der einzige wichtige Unterschied betrifft die Auffassung des Jesusknabcn. Zudem sind die Madonnen durch gleichartiges Kompositionsschema, kompaktes Volumen, Drapierungssystem mit der kompli- zierten Linie der Hachen Seitenkaskadc, ähnliches Kostüm, Schönheitsideal und manierierte Gebärde der rechten Hand mit feiner Fingcrstellung verbunden. Man kann sic der späten („dürren“) Phase des Schönen Stils zuschrciben, die durch geschlossenen Umriss, Vermehrung und Klcinteiligkeit dünner Falten und graphi- sche Modellierung charakterisiert wird.109 104 Ebd. 105 Typus der Jesusgestalt, die Art wie das Kind gehalten wird, die hcrablällenden Haarwellen, die sparsame Modellierung des Kopftuchs. 106 Schmidt 1978 (wie Anm. 2), 80. 107 Vgl. z.B.: Robert Didier, De H. Cornelius van het Sint-Janshospitaal en de Brugse beeld- houwkunst omstreeks 1400, in: Rond de restauratie van het 14de-eeuwse corneliusbeedl, Brugge 1984, S. 19-52, hier S. 31: S. E. steht die Danziger Madonna stilistisch der Brügger Kunst nahe. Ihr Meister konnte in der Hanse in den Jahren 1410-1420 tätig sein. Die Art und Weise der Wie- derholung des von den Schönen Madonnen überlieferten Komposilionsschemas ist ähnlich, wie im Bokel-Altar (Hannover, Niedersächsische Museum, um 1420). Robert DIDIER, Le style internatio- nal des annces 1400, in: Christian Heck (Hg.), L’art flammande et hollandais. Le siecle des primi- tifs 1380-1520. Paris 2003, S. 477-489, hier S. 477-78. 108 Ankevecn, Pfarrkirche. Eichenholz, H. 125,5 cm. Utrecht, Rijskmuseum Het Catharijnekonvenl, Inv.-Nr. ABM bh 494. Datierung und Zuschreibung: Ausst.-Kat. Late Gothic Sculpture in Bur- gundian Netherlands, hg. von John Steyaert (Ghent, Museum voor Schoonc Künsten). Ghent 1994, S. 290, Inv.-Nr. 81: Standing Virgin and Child (J. Steyaert). - M. van Vlierden/H. L. M. Defoer/H. M. HOITENER-BüUVY, Hout- en sleensculptuur van Museum Catharijncconvenl ca. 1200-1600, Zwolle-Utrecht 2004, S. 84-85. 109 In der Skulptur aus Ankevecn scheint sich die bildhauerische Modellierung viel schärfer zu sein. Das Eichenholz ist aber ein harter Stoff, während der Stein der Danziger Schönen Madonna viel mehr Weichheit und Räumlichkeit verleiht. 246 Monika Jakubek-Raczkowska
Abb. 9: Ankeveen bei Hilversum, Pfarrkirche, Muttergottes mit dem Kind, um 1430. Eichenholz, H. 125,5 cm. Utrecht, Rijksmuseum Het Catharijnekonvent, Inv.-Nr. ABM bh 494. Foto des Museums Abb. 10: Calabazanos, Klarissenkonvent, Muttergottes mit dem Kind, um 1430. Holz, H. 160 cm. Barcelona - Museo Mares, Inv.-Nr. MFMB 1079, Foto: Camilla Gonzales Gou Auffällig ist in diesem Zusammenhang die spiegelbildliche Inversion der Po- sen. Die Platzierung des Jesusknaben auf der rechten Hand der Danziger Maria ist vor dem Hintergrund des ganzen Kreises der Schönen Madonnen außergewöhn- lich.110 Man wollte dies mit der lokalen Überlieferung des Kreises der Löwenma- donnen111 oder mit der alten vorparlerschen Tradition - besonders in Böhmen üblich112 -, erklären. Es ist jedoch zu betonen, dass die Danziger Figur in dieser Hinsicht nicht nur bei den Schönen Madonnen eine Ausnahme bildet. Für die rechtsseitige Platzierung des Jesusknaben können zwar Analogien aufgewiesen werden, wie z.B. französische Maria Lacfcms-Darstellungen oder böhmische Ma- 110 Schmidt 1992/11 (wie Anm. 32), S. 310. 111 Clasen 1939 (wie Anm. 15), S. 146. - Die Anordnung des Kindes auf der rechten Seile von Maria ist recht oft in dem Löwenmadonnenkreis zu rinden. In Preußen verfügen vor allem zwei Skulpturen über diese Komposition, beide stehen am Anfang einer Reihe von lokalen Nachah- mungen - die Löwenmadonna in Liebschau/Lubieszewo und die Thronende Muttergottes mit dem Kind aus Schönsee/Jeziernik (heute Danzig, Muzeum Narodowe). Zu diesem Thema siehe: Jakubek-Raczkowska 2006 (wie Anm. 59), S. 49-57. - Quelle für solche Anordnung könnte die schlesische Skulptur der Muttergottes aus Wimsdorf/Skarbimierz (heule Breslau. Muzeum Na- rodowe) sein. 112 kutal 1975 (wie Anm. 2), S. 558. Die „Schönen Madonnen“ 247
rienfiguren um die Mitte des 14. Jahrhunderts, doch ist diese Komposition insge- samt selten. Die traditionelle Anordnung, bei der sich Maria auf der rechten Seite Christi befindet, wurde auf die Beobachtung des natürlichen Verhalten gestützt und mit den symbolischen Inhalten begründet113, die in der Danziger Auffassung verschwinden. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Danziger Schöne Madonna eine Transposition darstellt, die mit dem Spiegel erreicht wurde114 - zwischen der Skulptur und dem Vorbild sollte also eine Zeichnung stehen. Eine solche Annahme könnte auch erklären, warum die charakteristische Bogen- schwingung des Marienkörpers, den französischen Elfenbeinfiguren so nah, ange- sichts der angeblichen Vorbilder umgekehrt ist. Da die Anordnung der Madonna aus Ankeveen eng an die französische Kunst anknüpft und gleichfalls bewusst Modelle vom Anfang des 15. Jahrhunderts aufgreift, man könnte annehmen, dass in diesem Zusammenhang die Inversion der Schönen Madonna von Danzig als sekundär zu bestimmen ist. Madonna aus Ankeeven stand am Anfang einer Reihe ähnlicher Darstellungen aus den Utrechter Werkstätten, deren künstlerische Einflüsse sich bis nach Spanien erstreckten. Zu den Nachahmungen ihres Typs zählt z.B. die „Virgen del Pimiento“ - eine Holzstatue aus der Klarissenkloster in Calabazanos bei Palenzia115 (Abb. 10), in ihrer majestätischen Würde sehr nah der Danziger Maria verwandt. Die Utrechter Herkunft der Figur aus Calabazanos ist mit den zahlreichen Beziehungen - auch künstlerischer Natur - zwischen den Niederlanden und Spanien im späten Mittelal- ter116 zu erklären. Es sollte nicht übergangen werden, dass die Marienfigur einer Verkündigungsgruppe, von Ewald Vetter mit der Werkstatt des Danziger Meisters in Verbindung gebracht117, in spanische private Sammlungen geriet. 113 Baron 2001 (wie Anm. 89), S. 192. - Das Kind auf der linken Seite (Seite des Heizen) tragend, ist Maria gleichfalls auf der rechten Seite Christi dargestellt (was die Analogien in Marienkrö- nungsbildcrn findet) und kann dabei das Szepter - als Regina Coe//-Attribut - in ihrer Rechten halten. 114 Die Verwendung des Spiegels bei Nachahmung den Skulpturmodeln noch am Anfang des 15. Jhs. wurde von Wirth nachgewiesen. Jean W1RTH, Copie en miroir - copie au miroir? In: Agnes Bos/Xavier Dectot/Jean-Michcl Lcniaud/Philippe Palgnieux (Hg.), Materiam superabat opus. Hommage a Alain Erlande-Brandenburg, Paris 2006, S. 265-277. 115 Calabazanos, Klarissenkloster. Holz, H. 160 cm. Barcelona - Museo Mares, Inv.-Nr. MFMB 1079. Von Steyaert wohl mit Recht in die Jahre vor 1435 r. datiert und als Kopie nach dem Ut- rechter Vorbild anerkannt: Ausst.-Kat. Ghent 1994 (wie Anm. 108), S. 290, Inv.-Nr. 81: Standing Virgin and Child (J. STEYAERT). - Die Skulptur wurde wahrscheinlich zur Gelegenheit der Hoch- zeit von Alvaro de Luna und Juana Pimentcl 1435 gestiftet. - Es fällt auf, dass die spanische For- schung sie viel später (um 1500) datiert, so z. B.: Museo Federico Mares DEULOVOL, Declarado Monumanto Histörico-Arlistico, Catalogo. Barcelona 1979, S. 60, Kat.-Nr. 1.899 (ein spanisches Werk unter niederländischen Einfluss um 1500). - Francesca Espafiol i Benran/Joaqum Yarza Luaces (Hg.), Fons del Musen Frederic Mares, 1. Catäleg d’escultura i pinlura medievals. Barce- lona 1988, Kat.-Nr. 126 (Yarza Luaces): um 1500 als ein Brabanter Import. 116 Die Zusammenhänge zwischen Niederlanden und Spanien wurden letztens z.B. in: Bernardo J. Garcia Garcia (Hg.), Ao modo da Flanders. Disponibilade, inova^äo e mercado da arte (1415- 1580). Actas do Conresso Internacional celebrado em a reitoria da Universidade de Lisboa. Lisboa 2005; Clementina Julia Ara Gil, El problema de la dclitaciön ent re lo flamenco y lo hispänico en la escultura castellana del siglo XV, in: Fernando Chcca/Bernardo J. Garcia Garcia (Hg.), El arte en la corte de los reyes catölicos. Rutas artislisticas a principios de la Edad Modema, Madrid 2005, S. 223-247 beleuchtet. 1 17 Ewald M. VETTER, Die Verkündigungsmaria aus dem Umkreis des Meisters des Danziger Schö- nen Madonna, in: Das Münster 21 (1968), S. 181-190. - Auffallend ist die Verwandtschaft der beiden Werke in Bezug auf Schönheilstypus, Gewanddrapierung und Polychromie mit geritzten 248 Mon ika Jakubek-Raczkowska
Die im Umkreis der Ankeveener Madonna erarbeitete Typologie wurde in den Utrechter Werkstätten noch in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts fortgeführt - einige spätere Werke liefern immer entferntere, aber noch erkennbare Analogien zur Danziger Skulptur. So z.B. realisiert mit den Stilmitteln der Spätgotik eine Madonna mit dem Kind aus den Jahren 1450-1460 in Trier118 dasselbe Komposi- tionsschema, obwohl die französische Ponderation der C-Biegung abgeschwächt wird. Sie setzt den majestätischen Hieratismus der Pose in Verbindung mit einer künstlichen Fingerstellung fort, präsentiert ebenso den Schönheitstypus mit dem vornehmen, aber leicht geschwollenen Gesicht, den gesenkten Augen und den fallenden Haaren. In der erhaltenen ursprünglichen Polychromie kann man das Fassungssystem der Danziger Madonna erkennen. Die charakteristische Majestät, der Manierismus des Gebärdenspiels und ein verwandtes Schönheitsideal wurden in den noch späteren Werken Utrechts bewahrt, z.B. in der Schöpfung von Johan- nes Nude, die die künstlerische Blüte dieses Milieu in der Zeit Adriaen van We- sels vorwegnahm.119 Eine im Louvre aufbewahrte Madonnenstatue120, in Eichen- holz geschnitzt, weist, obwohl in Konzeption und Form abweichend, dasselbe besondere Schönheitsideal auf (vgl. Abb. 11). Abb. 11: Johannes Nude, Muttergottes mit dem Kind, um 1470-80. Eichenholz. Paris, Musee du Louvre, Inv.-Nr. RF 2319. Das Gesicht, Foto: Monika Jakubek- Raczkowska und vergoldeten Verzierungen, obgleich es auch einige Unterschiede gibt, wie Faltenmodellierung (bei der Danzigerin schärfer) und Form der Krone (im spanischen Falle den französischer Kunst nah). Man kann annehmen, dass sie in demselben Werkstattumkreis entstanden, der abei wahi- scheinlich nicht in Danzig, sondern in den Niederlanden tätig war. 118 Trier, St. Matthias. Holz, 132 cm H. Als Attribut bietet die Maria dem Kind eine Weintraube an, wobei die Passionssymbolik zum Hauptthema wurde und der segnende Gestus des Kindes einen li- turgischen Kontext erreicht hat. 119 Ausst.-Kat. Adriaen van Wessel - een Utrechts beeldhouwer uit de late middeleeuwen. Hg. von W. Halsema-Kubes/G. Lemmes/G. de Werd (Amsterdam, Rijsksmuseum). Amsterdam 1980, 22 (De Utrechtse kunst voor Adriaen van Wesel). 120 Musee du Louvre, Inv.-Nr. RF 2319, Utrecht um 1470-80. Stammt aus den Sammlungen von Emil Charles Wauters. Die „Schönen Madonnen“ 249
Es wird allgemein anerkannt, dass niederländische Meister in Preußen arbeite- ten, wie der in Danziger Schriftquellen erwähnte Johannes van der Matten, „bil- dinsnyder aus Flandern“.121 Wenn die Möglichkeit des Imports der Schönen Ma- donna wohl schon wegen deren riesigen Ausmaßen ausscheidet, so verwundert doch, dass sie wahrscheinlich das einzige Werk des Meisters in der Region blieb und sowohl typologisch, als auch stilistisch, keine weitere Fortsetzung fand.122 Es ist kaum eindeutig zu beurteilen, ob der niederländische Meister ein schon ausge- formtes Modell der Utrechter Skulptur hier her brachte oder er es in Danzig - in Verbindung mit dem Thorner Vorbild - ausarbeitete, wie Didier vorschlug. Es gibt aber kaum einen Zweifel daran, dass der Meister westlicher Herkunft war. In Danzig war er wahrscheinlich nicht lange ansässig - ist doch die weitere Entwick- lung der von ihm realisierten Typologie und des Formenkomplexes in den nördli- chen Niederlanden zu beobachten.123 Abb. 12: Danzig/ Gdansk, Priesterbruder- schaftsaltar, um 1480 121 Bernhard SCHMID, Maler und Bildhauer in Preußen von 1350 bis 1450, in: Altpreußische For- schungen 2 (1925), S. 39-52, hier S. 48. 122 Zum CEuvre des Meisers zählte Clasen mit Unrecht folgende Werke: das Vesperbild aus der Rein- holdskapelle, die Muttergottes mit dem Kind aus dem Marienbruderschaftsaltar, die Kreuzigung aus der Elftauscnd-Jungfrauen-Kapelle und den Martinsaltar aus der Danziger Marienkirche, eine hölzerne Christus-Thomas-Gruppe aus der St. Katharinenkirche und eine kleine Georgfigur unbe- kannter Provenienz (beide noch von dem Krieg im Danziger Stadtmuseum, heute Danzig, Muzeum Narodowe). Die Konsequenz einer solchen Zuschreibung war dann die schematische Zuordnung fast der ganzen bildhauerischen Schöpfung in Danzig zum Umkreis des Meisters. Clasen 1939, S. 144- 186. - Die Analyse einziger Skulpturen führt aber zur Ablehnung der ganzen Theorie. 123 Es soll aber erwähnt werden, dass man eine Figur mit nordniederländischcr Herkunft des Typs in der spätgotischen Schnitzerei Preußens findet - eine Madonnenfigur im Altar in Mi^dzylesie Lidzbarskie, die von Kamila WRÖLEWSKA, Pöznogotycka sztuka na Wannii po pokoju toruhskim 1466 roku. Z badah nad sztuki Wannii czasöw Mikolaja Kopernika [Die spätgotische Kunst in Ennland nach dem Thorner Frieden 1466. Aus den Forschungen zum Kunst Ermlands in der Zeit von Nicolaus Copernicus], in: Studia Olsztyhskie 10 (1972), S. 9-79, hier S. 39 mit der Figur von Johannes Nude in Louvre verbunden worden ist (wohl ein weit entfernter Rellex der niederländi- schen Einflüsse). 250 Monika Jakubek-Raczkowska
Die dritte Skulptur in der Gruppe der preußischen Schönen Madonnen vertritt eine ganz anders geartete Auffassung. Sie verzichtet auf den intimen Zusammen- hang und das vertraute Spiel zwischen Maria und Kind und kehrt zur traditionellen Ikonographie des 13. Jahrhunderts zurück: Maria als Königin trägt auf dem linken Arm das Kind, während sie in der rechten Hand wahrscheinlich das Szepter hielt. Diese Präsentationsauffassung erschien um 1400 sowohl in einer jüngeren Gruppe der böhmischen Schönen Madonnen124 als auch in der böhmischen Malerei.125 Formal betrachtet, verrät diese Figur eine stilistische Verwandtschaft mit der älte- ren Gruppe der böhmischen Schönen Madonnen, die von der Figur in Altenmarkt im Pongau um 1380-1393126 ausgeht und in der Madonna aus der Stadtpfarrkirchc, der heutigen Kathedrale St. Bartholomäus zu Pilsen/Plzen vor 1384 ihre voll- kommene Ausprägung findet. Die wichtigsten Argumente für diese Zuordnung sind: ein lyrischer, einigermaßen naiver Gesichtstypus - mit Analogien in den Heiligenbüsten aus Dolnf Vltavice in Südböhmen127 oder im Vesperbild aus Be- nediktinerkloster in Seeon128 -, die Körperproportionen, die Auffassung des dick- lichen, großen Jesusknaben. Es ist unbestritten, dass diese Figur ein Prager Im- portwerk ist. Wie es scheint, stand sie von Anfang an in der Priesterbruderschaft- skapelle der Danziger Marienkirche und darf mit einer Darstellung identifiziert werden, die in den Schriftquellen im Kontext eines Ablasses erwähnt wird.1“7 Es war also wahrscheinlich ein Andachtsbild zur ständigen Verehrung, dem Patrozi- nium der Kapelle und der Bruderschaft entsprechend. Wahrscheinlich während der Renovierung am Ende des 15. Jahrhundert wurde ein neues, bereits spätgotisches Baldachinretabel eben für die Schöne Madonna gestiftet, in dem sie sich auch heute - trotz späterer Translozierungen - befindet130 (Abb. 12). Diese Maßnahme hatte wohl nicht zum Ziel, die Figur ihres autonomen Kultkontextes zu entheben, 124 Die Beispiele dieser Umwandlung in der böhmischen Kunst sind vor allem die Schönen Madon- nen aus Winterberg (Vimperk) und Maria Kulm (Chlum nad Ohfi), von Homolka nach 1400 da- tiert: Ausst.-Kat. Die Parier und der Schöne Stil 1350-1400. Europäische Kunst unter den Luxem- burgern. Hg. von Anton Legncr (Köln, Schnütgen-Museum). Köln 1978, Bd. 2, 691-692 (Jaromii Homolka). Zu späteren Beispielen dieser Variante kann man eine Madonnenligur unbckanntei Provenienz von ca. 1410 (Düsseldorf, Kunstmuseum) und schlesische Madonnenstatuen aus Cie- chowo (um 1410-1420) und Zlotoryja (um 1430) (beide: Wroclaw, Muzeum Narodowe) zählen. 125 Im „Libellus de fuga saeculi“ von Johannes Jentzenstein (Biblioteca Vaticana, Sign. 1122) findet man eine Inzipit-Miniatur (Folio 267) im Weichen Stil, mit einer traditionellen Mariendarstcllung. die stehende Muttergottes mit dem hohen Szepter in der Hand hält das nackte Kind zeremoniell durch den Mantelzipfel. An ihren Seiten befinden sich zwei kniende Engel, die die königlichen In- signien präsentieren. Der Jesusknabe greift zur Mantelbrosche der Maria, was ihre königliche Würde betonen soll. - Die typologischen Merkmale einer Schönen Madonna sind hier mit der älte- ren ikonographischen Tradition verbunden. 126 Ausst.-Kat. Prag 2006/11 (wie Anm. 5), S. 447-448, Kat.-Nr. 142 (Jin FAJT). 127 Heute Frauenbcrg/Hlubokä nad Vltavou, Alsova jihoöeskä galerie, Inv.-Nr. P 18. 128 München, Bayerisches Nationalmuseum, Inv.-Nr. MA 970. - Ausst.-Kat. Prag 2006 wie Anm. 5), S. 429, V.53 (Jin Fajt, Robert SUCKALE): als Prager Werk um 1390-1400 bestimmt. 129 In einem Ablassbrief des Titularbischofs Jakobus von Margarita, der mit der Renovierung und Einweihung der Kapelle im Jahre 1478 zusammenhing, ist die Rede von einem 40-Tage-Ablass für diejenigen, die sich durch ein Gebet vor dem Bilde der Jungfrau Maria oder durch ein anderes frommes Werk um die Kapelle verdient machen: Theodor HIRSCH, Die Oberpfarrkirche von St. Marien in ihren Denkmälern und in ihren Beziehungen zum kirchlichen Leben Danzig überhaupt .... Teil I. Danzig 1843, S. 381-382. 130 Über anderen Hypothesen angesichts der ursprünglichen Zuordnung der Figur siehe: JAKUBEK- Raczkowska 2006 (wie Anm. 59), S. 113-114. Die „Schönen Madonnen" 251
vielmehr ihr eine Umrahmung gemäß ihrem hohen Rang zu verleihen, was auch die in dieser Zeit bereits untypische Form des Retabels erklären könnte. Trotz einer frühen Entstehungszeit wurde diese Skulptur bewusst an das Ende unserer Ausführungen gestellt, denn ihre Rezeption ist eine „Gegenerscheinung“ zu der der Thorner Schönen Madonna. Beide Werke waren wahrscheinlich gleich- zeitige Prager Importstücke, die nach Preußen in Rahmen derselben künstlerischen „Mode“ um 1400 eingeführt wurden - lediglich die Figur aus dem Priesterbruder- schaftsaltar fand aber Eingang in die lokale Kunst. In der preußischen Provinz hat sich eine Reihe typologischer Nachahmungen auf ungleichem künstlerischem Niveau erhalten, die je später ins 15. Jahrhundert datiert und je weiter von Danzig verortet, desto untreuere Nachbildungen darstellen.131 Diese Rezeption war sicher ein Ergebnis von zwei Bedingungen, welche die kleine Danziger Figur von der Thornerin unterschieden: Kult und Ikonographie. Bekanntlich war zu Beginn des 15. Jahrhunderts die alte mittelalterliche Praxis der Nachbildung von Kultobjekten immer noch aktuell. Man hat die Schöne Madonna wohl als Modell gewählt, um damit etwas von ihrer Gnadenkraft zu übernehmen. Ein gutes Beispiel hierfür bildet ein ziemlich mangelhaftes Figürchen in Pogödki, das den Typus wiederholt und das bis heute als Gnadenbild verehrt wird (Abb. 13).132 Andererseits konnte auch der deutliche Inhalt der Darstellung deren Popularität bewirken. Die Danzi- ger Maria der Pricsterbruderschaft ist vor allem als Regina Coeli charakterisiert - die königliche Insignie in ihrer Rechten schwächt den Gedanken an die Neue Eva ab - und entspricht damit der traditionellen Verehrung der Muttergottes als Herr- scherin durch den Deutschen Orden. Sie schreibt sich in die ikonographische Tra- dition ein, die sich im Ordensland von Anfang des 14. Jahrhunderts an ausbildete und bis zum Ende des Mittelalters fortdauerte.133 Es scheint also, dass die Rezep- tion des Typus der Schönen Madonna im Ordensland nicht auf das Streben nach einem neues idealistischen Formengefühl zurückzuführen ist: die Popularität der Marienfigur aus Danzig ist vielmehr eher mit der Kultfunktion und dem augenfäl- ligen Inhalt zu verbinden. 131 Z.B. Figuren aus Wossitz/Osice (Danzig, Muzeum Narodowe), Wapnik (Allenstein/Olsztyn, Kuria Archidiecezji Wanninskicj), Zurawno (Heilsberg/Lidzbark Warm., Muzeum Zamkowe). Vgl. JAKUBEK-RACZKOWSKA 2()06 (wie Anm. 59), S. 117-122. 132 Pogödki, Pfarrkirche St. Petrus und Paulus, in dem Hochaltar. Holzskulptur, 67 cm H. - Eugeniusz STELMAC11, Kult Matki Bozej w pocyslerskiej parafii w Pogödkach (Marienkult in Plärrgemeinde zu Pogödki], in: Siudia Pelplinskie 8 (1977), S. 153-158. 133 Dieselbe Variante (Maria-Königin, auf ihrem linken Arm der Knabe mit den - wie in Danziger Skulptur - gekreuzten Beinchen), aber mit einigen Veränderungen, stellen noch viele spätgotische Marienstaluen dar, wie z. B: Madonna in einer Kapelle zu Waplewo, Anfang des 16. Jh. (mit seg- nenden Gebärde Jesu); eine preußische Madonna um 1500 unbekannter Herkunft in privaten Sammlungen, bei Kamila WrÖBLENSKA, Pöznogotycka snycerka warsztatöw krölewieckich w Prusach [Die spätgotische Schnitzerei aus den Königsberger Werkstätten in Preußen], in: Michal Wozniak (Hg.), Sztuka Prus XIII-XVHI w. Torun 1994, S. 147-177 (Studia Borussico-Baltica To- runensia Historiae Arlium), hier S. 163, reproduziert; Madonna aus Waltersdorf/P^ciszewo, um 1500 (die auf das Szepter als Attribut verzichtet und mit der rechten Hand den Fuß Jesu expo- niert); Madonna in Zuckau/Zukowo (mit Mondsichel als Apokalyptisches Weib charakterisiert und eine ähnliche ikonographische Veränderung wie die Waltersdorfer Figur aufweisend). - Die von der Madonna der Danziger Marienbruderschafl präsentierte Variante wurde noch in die neuzeitli- che Volkskunst transponiert, vgl. Kamila WröBLEWSKA, Dwie gotyckic rzezby i ich ludowe nasladownictwo [Zwei gotische Skulpturen und ihre Volksnachahmungen], in: J. Jasinski (Hg.), Szkice Olsztyhskie, Olszlyn 1967, S. 61-66, hier S. 64-65. 252 Mon ika Jcikubek-Raczkowska
Abb. 13: Pogodki, Pfarrkirche, Muttergottes mit dem Kind, um 1420. Holz, H. 67 cm, Foto: Juliusz Raczkowski Die zahlreichen bildhauerischen Darstellungen der Muttergottes, die im Laufe des zweiten Viertels des 15. Jahrhunderts im Ordcnsland sehr populär wurden, zeichnen sich durch eine wachsende formale Schematisierung der Prinzipien des Schönen Stils und durch die andauernde Popularität des Typus der Schönen Ma- donna mit Ostcnsio-Gcbärde aus134, der noch im spätgotischen Plastik Preußens beobachtet werden kann.135 Für eine solche typologische Auffassung böhmischer Herkunft können aber keine früheren Vorbilder in der Region aufgezeigt werden. Die Genese dieser Variante im Ordcnsland ist schwer zu beurteilen - vielleicht wurde sie durch die Migration böhmischer Künstler während der Hussitenkriegen bewirkt. Als eine im Sinne der Inhalte recht leicht fassbare Darstellung der Mut- tergottes, die den Leib des Erlösers präsentiert, gleichzeitig einen Andachtskontakt mit dem Betrachter suchend - also ganz anders als im Falle der Thorner und Dan- ziger Madonna fand ebenso dieser eindeutig eucharistische Typ seine Rezeption 134 Es sind z. B. die Figuren um 1420-1430 zu erwähnen: aus Obozin/Ijocken (heute Pelplin, Muzeum Diecezjalne); aus Gross-Lichtenau/Lichnowy Wielkie (heute Danzig-Oliva, Arcybiskupie Semina- rium Duchowne); aus Kunzendorf/Koriczewice (Danzig, Muzeum Narodowe); in Pfarrkirchen zu Bärwalde/Neidzwicdzica und Streptch/Strzepcz. 135 Z. B. Figur der Muttergottes mit dem Kind um 1515 aus der Kirche Hl. Leichnam in Elbing (Dan- zig, Muzeum Narodowe, Inv.-Nr. MNG/SD/47/Rz). Die „Schönen Madonnen" 253
in der Provinz. Er war mit einem sehr charakteristischen sozial-historischen Phä- nomen verbunden - der Ausbildung der Volksfrömmigkeit, die in Preußen in den Anfang des 15. Jahrhunderts zu datieren ist und in der die Eucharistie und ein intimer Kontakt mit dem Sacruni eine bedeutende Rolle spielten.136 Erst in diesem Zusammenhang nimmt die neue Art der Maricndarstcllung einen neuen Kontext an, der aber nicht regionale, sondern allgemeine Bedeutung hat. Je später in 15. Jahrhundert, desto weniger bewusst wurden die komplizierten Inhalte und Funk- tionen, die den Ursprung des Kreises der Schönen Madonnen am Ende des 14. Jahrhundert kennzeichneten. Zusammenfassend ergibt sich: Das Ordensland war fähig zur Annahme sowohl der „höfischen Affinität“ der Thorner, als auch des „kühlen Hochadels“ der Dan- ziger Schönen Madonna. Es war dazu fähig, sich von deren „klassischem“ Reiz begeistern zu lassen - und diese Entzückung dauerte noch lange, wovon die Worte von Kanonikus Strzesz in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts zeugen.137 Es bleibt aber unbekannt, ob ihre preußische Existenz mit einem Zufall, mit der Mode oder mit einer bewussten Stiftung zu verbinden ist. Sicherlich funktionierten diese drei Skulpturen in einem besonderen religiösen Klima, im Berührungspunkt der tradi- tionellen Marienverehrung mit der devotio modema. Über die intellektuelle oder ästhetische Ausbildung der Milieus, in denen die Einzelbeispiele existierten, kann man nur Hypothesen anstellen. Das Ordensland hat aber weder bei der Schöpfung, noch bei der Entwicklung des Typus der Schönen Madonnen eine bedeutende Rolle gespielt. Die lokalen Veränderungen der oben erwähnten böhmischen Ostensio-Variante in der provin- ziellen Skulptur um 1420-1430 sind nicht als eine kreative Umformung eines Modells, sondern als Wiederholung einer geläufigen Form zu behandeln. Die drei aus dem Ordcnsland bekannten Schönen Madonnen waren hier eher ein isoliertes Phänomen, dessen tatsächliche Rolle in der Kunst und Frömmigkeit der Terra sanctae Mariae von der heutigen Perspektive schwer zu schätzen (und wertzu- schätzen) bleibt. 136 Stefan KWIATKOWSKI, Klimat religijny w diecezji pomezanskiej u schylku XIV i w pierwszych dziesi^cioleciach XV w. (Die religiöse Atmosphäre in der Diözese Pomesanien am Ende des 14. und in ersten Jahrzehnten des 15. Jhs.), Torun 1990 (Roczniki TNT 84, H. 1), S. 13-34. 137 „... ubi mirae pulchritudinis et artifici supra Ingenium Phidiae ex integro elaborata saxo cernitur statua Virginis beatissimae“. Fragment aus der Besehreibung der Thorner Schönen Madonna in: Visitationes episcopatus Culmensis Andrea Olszowski episcopo anno 1667-1672. - Zitat nach: KRUSZELN1CKA 1968 (wie Anm. 19), S. 10, Anm. 17. 254 Monika Jakubek-Raczkowska
V. Wechselwirkungen und Ausstrahlung
Die Stralsunder Junge-Madonna als Ebenbild der Schönen Madonna von Thorn Überlegungen zur Herkunft und ihrer Beziehung aus Stralsunder Perspektive Burkhard Kunkel Die Städte Thorn und Stralsund verbindet auf den ersten Blick nicht nur der Beginn ihrer Geschichte in den 30er Jahren des 13. Jahrhunderts, ihre Mitglied- schaft im Bund der Hanse - sie gehören auch seit kurzem zum Weltkulturcrbe der UNESCO. Was diese Städte unterscheidet, scheint gravierender: Die räumliche Struktur Thorns an den Ufern der Weichsel als Doppelstadt mit der Burg des Deutschen Ordens auf der einen, die Insellage Stralsunds an der Ostsee auf der anderen Seite sowie ihre unterschiedliche Funktion als Basis für Besiedelung und Christianisierung hier, als reine Handelsniederlassung dort. Und doch besitzen beide Städte eine Gemeinsamkeit, die in der Kunstwissenschaft seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts bis heute für Diskussionen sorgt: Die Rede ist von den Schö- nen Madonnen (Abb. 1 und 2), in Thorn 1945 verschollen und durch eine Nach- bildung ersetzt, in Stralsund dagegen erhalten. Ihre formale Ähnlichkeit ist so evident, dass eine stilistische Verwandtschaft in der Forschung nicht mehr ernsthaft angezweifelt wird. Allerdings fallen prägnante Abweichungen auf: Während die Stralsunderin aus Nussbaumholz besteht, wurde die Thorner Madonna aus Stein hcrgestellt. Und auch im Hinblick auf ihre Funkti- on scheinen, zumindest zeitlich gestaffelt, Verschiedenheiten zu bestehen: Wäh- rend von der Junge-Madonna zunächst kein anderer Funktionszusammenhang überliefert ist, als der zu einem Altarschrcin in St. Nikolai zu Stralsund, sind für die Schöne Thorncr Madonna unterschiedliche Aufstellungsorte bezeugt. Clasen schreibt, dass sie nicht immer an der Nordwand des Chores an St. Johannis stand. Einem Visitationsbericht aus dem Jahr 1671 zufolge bildete die Figur, flankiert von zwei Hciligcngestalten, die Mitte eines Altars, der sich links vom Chorcin- gang befand.1 Zu dieser Anlage gehörte eine hölzerne Predella mit der Darstellung der Wurzel Jesse. Eine Vorstellung ihrer Gestalt bleibt ebenso verschwommen, wie ihr bestimmungsgemäß ursprünglicher Standort. Clasen vermutet ihre Her- kunft aus der 1834 abgebrochenen Dominikanerkirche St. Nikolai oder der Kapel- le des bereits 1454 zerstörten Ordensschlosses. Die künstlerische Arbeit der Ma- donna schreibt er dem „Meister der Schönen Madonnen“ zu, dessen Schaffen sich nach seinen Worten „auf den einsamen Gipfeln einer abendländisch aristokrati- schen Höhenkunst“2 befand. So war es für ihn nur folgerichtig, den Auftrag eines künstlerisch so hoch stehenden Werkes lediglich in der Führungsschicht des Or- 1 K. H. Clasen, Die mittelalterliche Bildhauerkunst im Deutschordensland Preußen, Berlin 1939, S. 133; s. auch A. FeüLNER, Der Meister der Schönen Madonnen, in: Zschr. d. dt. Vcr. f. Kw„ X., 1943, S. 24. 2 Clasen (wie Anm. 1), S. 188. Die Stralsunder Junge-Madonna 257
dens, bei hohen Geistlichen oder allenfalls in dem zu dieser Zeit aufblühenden Bürgertum anzusicdcln? Die Schöne Madonna des so genannten Junge-Altars befindet sich im nördli- chen Chorumgang in St. Nikolai zu Stralsund in einem Schrein auf einem 1993 neu errichteten Altar.3 4 Dieser Schrein ist nur einmal wandelbar. Geöffnet präsen- tiert sich die Schöne Madonna als Hauptfigur, die beidseitig und zweizonig über- einander von vier musizierenden Engeln5 begleitet wird; in den Kastenflügeln waren in zwei Registern übereinander acht Heiligenfiguren angebracht, von denen sich außer ihren Umrissen und Befestigungsspuren nichts erhalten hat. Geschlos- sen wird auf den Außenseiten der Kastcnflügel die Verkündigung an Maria (Abb. 3) gezeigt. An der Unterseite der Flügel nahe am unteren Kastenprofil befindet sich ein Schloss. Damit erhält der verriegelbare Schrein gleichsam Schutz- und Verwahrungsfunktion.6 3 Clasen (wie Anm. 1), S. 188. 4 S. auch Burkhard KUNKEL, Werk und Prozess. Die bildkünstlerische Ausstattung der Stralsunder Kirchen im späten Mittelalter - eine Werkgeschichle, hier Kat. Nr. 35 mit Literatur. Zu einer frü- her zu diesem Retabel gehörenden Predella gibt es keinen Hinweis. Uhseinann erkennt in dem noch 1924 vorhandenen Uniersatz den des Altares der Gewandschneider von 1411 (E. UHSE- mann, Die Stralsunder Nikolaikirche, zweite vermehrte Auflage mit einem erläuternden Füh- rungsplan, Stralsund 1924, S. 49) und bezieht sich auf die Behauptung Hagemeislers, der „den Un- tersatz, dessen Figuren noch leidlich erhalten sind“, für jenen des Gewandschneideraltares hält. W. HAGEMEISTER, Ein Gang durch die Nikolaikirche. Sonderdruck aus der Stralsundischcn Zeitung von 1890, Stralsund 1900, S. 10. 5 Ein Laute spielender Engel rechts unter dem noch erhaltenen existierte noch 1840. Kugler ver- merkt, „(...1 dass zwei Engel bereits fehlen“. F. KUGLER, Pommersche Kunstgeschichte, in: Balti- sche Studien, 8. Jg. Heft 1, Stettin 1840, S. 204; „Von den kleinen Gestalten sind nur noch zwei im Mittelschrcine erhallen“. E. VON HASELBERG, Die Baudenkmäler des Regierungsbezirks Stral- sund, Heft V., Der Stadtkreis Stralsund, Stettin 1902, S. 480; auch bei E. FRÜNDT, Der Junge Altar aus der St. Nikolaikirche zu Stralsund: Ein Beitrag zum Problem der Werkstoffverwendung in der mittelalterlichen Plastik, in: Staatliche Museen zu Berlin, Hg., Forschungen und Berichte, Heft V, Berlin 1962, S. 25-30, Abb.l; G. PlLTZ, Stralsund, Leipzig o. J., S. 81; J. VOSS, Spätgotische Skulpturen aus Nussbaumholz, in Mitteilungen des LID. Arbeitsstelle Schwerin, Nr. 27, 1982, S. 482- 495, hier Abb. S. 483; G. Baier ET AL., Christliche Kunst, Berlin 1982, Abb. S. 370 und Flü- gel 1987, Abb. S. 244. Eine Konstruktion dieses für eine zentrale Hauptfigur mit flankierenden Heiligen geschallenen Schreins mit nach hinten ausgekröpftem Mittelschrein findet sich ebenfalls in Patzig, Middelhagen und Züssow. 6 Vgl. dazu: J. Braun, Der christliche Altar in seiner geschichtlichen Eintwicklung, Bd. II, München 1924, S. 361. „Die Hülle (Flügel] gehört zur Aussage, sie evoziert Vorstellungen von Ecclesia, Jenseits und Paradies“. V. FUCHS, Das Altarensemble. Eine Analyse des Kompositcharakters früh- und hochmiltelalteiiicher Altarausstattung, Diss., Weimar 1999, S. 206. Das Hindurchsehen durch die geschlossenen Flügel deutet Möhlc als ästhetische Ersatzhandlung für das eucharistische Mys- terium. V. Mühle, Wandlungen. Überlegungen zum Zusammenspiel der Außen- und Innenseiten von Flügelretabcln am Beispiel niedersächsischer Werke des frühen 15. Jahrhunderts, in: Lentes, Thomas, Hg., KullBild. Visualität und Religion in der Vormoderne, Bd. I, Berlin 2004, S. 147- 170, hier S. 151. 258 Burkhard Kunkel
Abb. 1: Die Nachbildung der Schönen Madonna auf der Moses-Konsole in St. Johannis zu Thorn und Abb. 2: Schöne Madonna im Mittelschrein eines Wandelretabels in St. Nikolai zu Stralsund, Fotos: Burkhard Kunkel, siehe Farbtafeln 20 und 21 Die Stralsunder Junge-Madonna 259
Abb. 3: Geschlossener Schrein: Verkündigung an Maria, Foto: Burkhard Kunkel Es wird allgemein davon ausgegangen, dass die Stralsunder Schöne Madonna ursprünglich als Einzelfigur geschaffen7 und zu späterer Zeit für den Jungeschen Schrein angepasst wurde.8 Dazu musste der Mittelschrein rückseitig vertieft wer- den (Abb. 4). Am deutlichsten wird diese Tatsache in der Betrachtung der Seiten- ansicht. Um die Plastik an den rückwärtigen, geraden Abschluss des Mittel- schreins anzupassen, hatte man die Neigung des Kopfes9 nach vorn verändert, um nicht einen Teil des Kronenreifs entfernen zu müssen (Abb. 5). Dennoch kam man 7 W.-D. Kunze, Die schöne Madonna von Stralsund, in: Maltcchnik, Jg. 63 und 64, München 1958, S. 40-43; FrÜndt (wie Anm. 5); N. Zaske, Die gotischen Kirchen Stralsunds und ihre Kunstwer- ke, Berlin 1964, S. 134/135; Baier et AL. (wie Anm. 5), S. 398; Voss (wie Anm. 5); Dies belegen auch Spuren vormaliger Enlkernungslechniken durch Einbohrungen von der Standfläche her. Dazu ausführlich A. FÄSSLER, Studien zu Entkernungs- und Aushöhlungstechniken an mittelalterlichen Holzskulpturen, in: Restauratoren Fachverband e.V. und Restauratoren verband Sachsen e.V., Hg., Beiträge zur Erhaltung von Kunstwerken, Heft IX, Berlin 2000, S. 8-23. 8 KUNZE (wie Anm. 7); FRÜNDT (wie Anm. 5); Voss (wie Anm. 5). 9 KUNZE (wie Anm. 7), S. 42; Ähnliche Korrekturen der Köpfe finden sich am Sippenrelief des Hutz-Retabels im Ulmer Münsters, H. Westhoff/G. WEILANDT, Vom Baumstamm zum Bild- werk. Skulpturenschnitzerei in Ulm um 1500, in: Württembergisches Landesmuseum, Hg., Meis- terwerke massenhaft, Stuttgart 1993, S. 245-264, hier S. 261. 260 Burkhard Kunkel
nicht umhin, das Gewand von der Rückseite her zu reduzieren und die Figur rück- seitig auszuhöhlen.10 Abb. 4: Oberer Maßwerkaufsatz von der Rückseite. Darunter das nach hinten ausgekröpfte Fach des Mittelschreins für die Aufnahme der Hauptfigur, Foto: Burkhard Kunkel Abb. 5: Plastische Korrektur am Hals Mariens, Foto: Burkhard Kunkel Dass auch der Schrein eine Vorgeschichte hatte, bevor es zu dieser Umarbei- tung kam, belegen die in der Rückansicht feststellbaren funktionslosen Vernage- lungen und die Aussparung11 (Abb. 6 a, b), etwa für die Aufnahme eines Aufsatz- Kruzifixes im oberen Abschlussbrett. 10 S. dazu FÄSSLER (wie Anm. 7), S. 8-23: KUNZE (wie Anm. 7), S. 42: Im Falle der speziellen Technik des Aushöhlens von Plastiken führten Untersuchungen zu dem Ergebnis, aus ihrer lokalen Streuung eine Art Geografie dieser Werkstaitgewohnhcil abzuleiten und damit zur Provenienzfor- schung beizutragen. P. TÄNGEBERG, Holzskulptur und Altarschrein, München 1986, S. 159-167. 11 Möglicherweise zu einem ursprünglich vorhandenen Kruzifix gehörig. Vgl. auch N. BüSKE/G. Baier, Dorfkirchen der Umdeskirche Greifswald, Berlin 1984, S. 53. Die Stralsunder Junge-Madonna 261
Abb. 6 a, b: Rückseite, Detail des oberen Ab- schlussbrettes. Ohne Funktion: Ausklinkung oben, Vernagelung unten, Anzeichen für eine Zweit- verwendung oder Um- arbeitung des Schreins, Fotos: Burkhard Kunkel Abb. 7: Passmarken an den Flügel-Unterseiten, Foto: Burkhard Kunkel Zaskc vermutet, die Schrcinfiguren seien importiert und dann in jenem vor Ort angefertigten Schrein aufeinander abgestimmt worden. Er geht von einem Haupt- auftragnehmer aus, der das Gesamtwerk in Stralsund zusammen montierte. Aber auch der Import der Kastcnflügel und des Schreins scheint möglich. Hinweise dafür befinden sich an den Unterseiten der Kastenflügel. Es handelt sich um rechts eine und links zwei mit einem Hohleisen eingeschlagcne Markierungen als denk- 262 Burkhard Kunkel
bare Montagehinweisc (Abb. 7).12 Sie belegen möglicherweise eine Montage der Flügel an den Schrein beziehungsweise der Flügel mit einem oberen oder unteren Abschlussbrett, welches dann ähnliche Marken aufgewiesen hätte. Während am Stück keine weiteren Montagezeichen13 entdeckt wurden, muss die Bedeutung dieser Versatzmarken offen bleiben. Denn wenn nach der Ansicht von Johannes Voß Schrein, Flügel, Ornat und Figuren von ein- und demselben Meister gefer- tigt14 wurden, so wären solche Hinweise vielleicht für einen weiteren Meister oder weitere Mitarbeiter einer Werkstatt bestimmt. Abb. 8: Oberer Maßwerkkranz mit den drei wappentragenden Medaillons und dem Wappen des Zweiges der um 1422 von Lübeck nach Stralsund gewanderten Familie Junge, Foto: Burkhard Kunkel Der Kasten findet seinen oberen Abschluss in einem Gesprenge15 mit den Stil- terwappen (Abb. 8). Sie sind oberhalb einer mit Maßwerk ornamentierten und durch zwei gesimsartige Profile gerahmten Zone zwischen geschnitztem Blattwerk und der Inschrift maria ihesus angebracht. Rechts und links der Inschrift befinden sich zwei gleich gestaltete Wappen der Familie Junge; zwischen maria und ihesus 12 Passmarken, ähnlich der am Rother Retabel im Mannheimer Reiss-Museum. S. auch E. KREBS, Der Schrein - mehr als eine Kiste? Konslruktionsmerkmale von Ulmer Retabeln, in: Würliembci- gisches Landesmuseum, Hg., Meisterwerke massenhaft, Stuttgart 1993, S. 265-275, hier, S. 272. 13 Zum Beispiel Figurenbezeichnungen an den Schreinrückwänden wie am Schneideraltar St. Nikolai oder am Passions-Retabcl im Stralsunder Museum. Dazu B. KUNKEL, Spätmittelalterliche Altai- aufsätze Stralsunder Hauptkirchen: Werkgeschichte und Werkprozess - ein Problemaulriss, in. AGO, Bd. 1, F. Bicrmann/M. Schneidcr/T. Terberger, Hg., Pfarrkirchen in den Städten des Hanse- raums, Rahden/Westf. 2006, S. 113-126, hier S. 120/121. 14 J. Voss, Die Stralsunder Junge-Madonna. Bin Beitrag zur Entstehung des Rctabels und zur Werk- stoffgeschichte in Norddeutschland im 15. Jahrhundert, in: H. Krohm/U. Albrecht/ M. Weniger, Hg., Malerei und Skulptur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Künstlerischer Aus- tausch im Kuliurraum zwischen Nordsee und Baltikum, Berlin 2004, S. 69-88, hier S. 75 und 78. 15 „[...] der ursprüngliche Aufsatz mit Maßwerk“, VON HASELBERG (wie Anm. 5), S. 480; Einen ähnlichen Baldachin beobachtet Weinreich auf dem Altar der Schneider in St. Nikolai zu Stral- sund. Weinreich (wie Anm. 4), S. 28; Eine Bekrönung mit drei Wappen und Inschrift befindet sich in Patzig, die Baier in die Milte des 15. Jhs. bzw. im Text in die zweite Hälfte des 15. Jhs. da- tiert. BUSKE/BaiER (wie Anm. 11), S. 53, Abb. S. 134. Die Stralsunder Junge-Madonna 263
ein auf einem formal ähnlichen Wappenschild gemaltes Doppelportrait zweier bärtiger Männer16 mit hoher Kopfbedeckung (Abb. 9). Abb. 9: Mittleres Medaillon: Doppelportrait zweier bärtiger Männer mit Hut, Foto: Burkhard Kunkel Unter Berufung auf diese Wappen wird die Stiftung zumindest aber der Auf- trag des Gesamtwerkes durch die Familie Junge allgemein vorausgesetzt. Und entgegen einigen Zweifeln17 soll dies auch vorerst so angenommen werden. Zaske glaubt bereits in der gesellschaftlich bedeutenden Stellung Albert Junges als Rats- herr und Altermann der Gewandschneider „die Grundlage zu einer solchen Stif- tung“18 zu sehen. Zur Genealogie der nach Stralsund zugewanderten Familie Junge19 hier einige Notizen: Die in Stralsund nachgewiesenen Gebrüder Junge entstammen der Fami- 16 Voß sieht hierin ein ungedeuletes Wappen. J. Voss, Die Schöne. Der Marienaltar der Familie Junge, in: Förderverein St. Nikolai zu Stralsund e.V., Hg., St. Nikolai Stralsund, Heft 12, Stralsund 2006, S. 3/4. 17 Nach der Ansicht Johannes Voß’ bliebe der Anlass für diese Stiftung, an welcher „Albert Junge gewiss maßgeblichen Anteil hatte“ solange fraglich, als das von ihm als Wappen aufgefasste mitt- lere Doppelportrait nicht gedeutet ist (Voss (wie Anm. 14J, S. 7.). Der diese Wappen aufweisende Blattkamm ist jedoch, wie schon festgestcllt wurde, erst nachträglich montiert worden; darüber hi- naus besteht die Möglichkeit einer späteren Übermalung der Wappenschilder Wappen wurden be- kanntlich als Besitzzeichen aufgetragen und dem aktuellen Besitzer entsprechend aktualisiert: Bei- spielsweise am Stundenbuch des Duc du Berry, in Familicnkapellen in Florenz oder an einheimi- schen mittelalterlichen Grabstcllen, freundlicher Hinweis von Prof. Dr. Matthias Müller, Mainz. 18 Zaske (wie Anm. 7), S. 134; s. auch J. Voss, Ncbenallärc sind keine Nebensache, in: Wenn Räume singen. St. Nikolai zu Stralsund, P. F. Lange, Hg., Stralsund 2001, S. 137-141, hier S. 139; s. auch A. Grewolls, Die Kapellen in norddeutschen Kirchen im Mittelalter. Architektur und Funktion, Diss., Kiel 1999, S. 326. 19 Genealogische Angaben zur Familie Junge teilte freundlicherweise Dr. Ulrich Simon, Archiv der Hansestadt Lübeck mit; A. T. KRUSE, Urkundliche Nachrichten, Register der Altermänner des Gewandhauses in Stralsund, in Sundische Studien, Stralsund 1892; H. BERGHAUS, Bearb., Land- buch von Neuvorpommern und der Insel Rügen, Bd. II, der Greifswalder Kreis, Stralsund 1868, S. 501, Nr. 4; H. SPRUTH, Pommern-Familien in Drucken und Handschriften, Neustadt a. d. Aisch 1963, S. 312. 264 Burkhard Kunkel
lie des Lübecker Ratsherren und Mitglieds der Zirkelkompanie Tiedemann Junge, von dem bekannt ist, dass er seine Stadt im Jahr 1416 auf den in Lübeck im selben Jahre abgehaltenen Hansetagen vertrat. Tidemann war mit Catharina, der Witwe Konrads von Urden, verheiratet. Mit ihr hatte er vier Kinder: Albert, Everhard, Jürgen und Diedrich, die in den Urkunden durchweg mit der Jahreszahl 1422 in Verbindung20 21 stehen. Dieses Datum gilt wohl für den Termin, an welchem die Söhne die Stadt Lübeck verließen und in Richtung Osten aufbrachen. Vier Jahre später ist Albert in Stralsund Altermann der einflussreichen Gewandschneidergil- de ’, 1432 Ratsherr, Provisor zum Heiligen Geist und Camerarius.22 Er stirbt 1446. Der Bruder Jürgen Junge tritt mit einer unrühmlichen Nachricht in Erscheinung: Wegen Mordes an seiner Ehefrau wird er im Jahr 1456 aus der Stadt vorvestet.23 Obwohl es schwierig ist, die Lebensdaten auch auf die künstlerische Vollen- dung der Schönen Madonna oder des Schreins zu beziehen - die Montage des Gesamtwerkes mit der Anbringung der zwei Wappen und dem Doppelportrait zweier Männer im Gesprenge könnte zumindest mit einer gemeinsamen Stiftungs- absicht der Gebrüder erklärt werden. So macht der Blick auf das Gesamtwerk (Abb. 10) nicht nur auf eine Verbin- dung zur vermeintlichen Stiftung der Familie Junge aufmerksam, es verwundert vor allem die scheinbare Eigenständigkeit seiner Einzelkompartimente - der Schrein wurde einige Dekaden später als die Schöne Madonna gefertigt. Vor die- sem Hintergrund stellt sich die Frage nach ihrer früheren Aufgabe genauso wie nach ihrer Herkunft; nicht nur im Hinblick auf ihre Besitzverhältnisse, sondern auch auf die Werkstatt. Überlegungen zur Provenienz des Werkes werden mit einer Fülle an Literatur und damit unterschiedlichen Aussagen angeboten. Als sich Elisabeth Niesel in den 1950er Jahren mit der Plastik des Mittelalters zwischen Recknitz und Oder be- schäftigte, stellte sie in Bezug auf die Schöne Madonna im Junge-Altar der Stral- sunder Nikolaikirche fest, dass „schon so vieles und von so berufener Seite ge- sagt“ worden sei, dass sie dem nichts mehr hinzuzufügen habe.24 Auch jüngst, gerade nachdem die Junge-Madonna während der großen Parier-Ausstellung in Köln25 große Beachtung fand, fragt Johannes Voß, ob überhaupt noch etwas Neues beizutragen sei.26 Tatsächlich blieb die Frage nach ihrer Herkunft und der Stellung der so genannten Junge-Madonna im Kreise der Schönen Madonnen des Weichen Stils bislang offen. 20 Freundliche Mitteilung und Literalurhinweis zur Genealogie der Familie Junge von Dr. Ulrich Simon, Hansestadt Lübeck, Archiv; S. auch das Junge-Wappen in der Abb. auf der Titelseite. 21 Kruse (wie Anm. 19). 22 S. auch Berghaus (wie Anm. 19), S. 501, Nr. 4; Bei Spruth der Hinweis auf Dinnies, Nachrichten die Ratspersonen der Stadt betreffend, Bd. VI Stammtafel XX, SPRUTH (wie Anm. 19), S. 312. 23 O. FRANCKE, Das Verfestungsbuch der Stadl Stralsund, Halle 1875, S. 85, Nr. 680; M. Paul, Sundische und Lübische Kunst, Diss., Greifswald 1914, S. 47. 24 E. Niesel, Die Holzplastik in Pommern zwischen Recknitz und Oder von 1350 bis 1530, Dipl., Leipzig 1958, MS, S. 12. 25 E. Fründt, Spätgotische Plastik in Mecklenburg [Vorpommern], Dresden 1963; E. Frundt, O. T. [Zur Junge-Madonna], in: A. Legner, Hg., Die Parier und der schöne Stil, Bd. II, Köln 1978; VOSS (wie Anm. 5), VOSS (wie Anm. 18). 26 Voss (wie Anm. 18), S. 72. Die Stralsunder Junge-Madonna 265
1 Abb. 10: Der Junge-Altar, Foto: Burkhard Kunkel Bereits seit dem beginnenden 20. Jahrhundert hatte sich die Forschung intensiv mit stilistischen Beziehungen der Schönen Madonnen beschäftigt. Es stellte sich heraus, dass der Weiche Stil in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts allgemein von den großen Zentren der höfischen Kultur: Böhmen, Österreich und Burgund ausging27, von wo aus er sich nach Norden und Nordosten über das gesamte Reichsgebiet verbreitete. Pinder erkennt eine Stilbewegung von Südosten nach Norden28. In seiner Übersicht der verschiedenen Gruppen Schöner Madonnen“ 27 G. Piltz, Deutsche Bildhauerkunst, Berlin 1962, S. 190; „In der ausgeprägten Abneigung gegen alle dramatischen Effekte tat sich eine Denkweise kund, wie sic nur in der Luft des Hofes entste- hen und gedeihen konnte“. G. PlLTZ 1961, Die Kunst Norddeutschlands, Dresden 1961, S. 40. 28 „Ist dieser Weg übrigens nicht weit natürlicher als der früher angenommene vom Mittclrhein her“? W. PINDER, Zum Problem der „Schönen Madonnen“ um 1400, in: L. Bruhns, Hg., Wilhelm PIN- DER, Gesammelte /Aufsätze aus den Jahren 1905-1935, Leipzig 1938, S. 91-120, hier, S. 109. 266 Burkhard Kunkel
leitet er aus den stilgeschichtlichen Quellen, der böhmischen Malerei, der west- lich-burgundischen und der nordfranzösischen Plastik die großen Stilgruppen her: Aus dem südböhmischen entwickelt sich der Salzburger Typus, aus dem Breslauer der nordische, der von ihm so bezeichneten „Ostseekunst“.29 30 So wird die Feststel- lung Pinders, dass die Breslauer Schöne Madonna von derselben Hand stammt wie die Thorner31, zum Ausgangspunkt weiterer Vergleiche (Abb. 11). Abb. 11: Schöne Madonna aus Thorn links, nach Schmid 1915; Schöne Madonna, so genannte Junge-Madonna aus Stralsund rechts, Foto: Burkhard Kunkel Einen Zusammenhang mit Lübeck und dem Rheingebiet, in der Frage nach der Provenienz der Junge-Madonna, sicht Max Paul schon 1914.32 Er prägt den Not- 29 PINDER (wie Anm. 28), S. 114. 30 „Wie schlagend ist der Unterschied der Madonna in Thorn, der Stralsunder Madonna zu all ihren böhmisch-schlesischen Schwestern“. G. F. HARTLAUB. Die Schöne Maria zu Lübeck und ihr Kreis, in: L. Roselius/V. C. Habicht, Hg., Niedersächsische Kunst, Bd. VIII und IX, Bremen 1924, S. 17. 31 S. Cl.ASEN (wie Anm. 1), S. 189. 32 „Die Junge-Madonna stammt aus Lübeck“. Paul (wie /\nm. 23), S. 93. Die Stralsunder Junge-Madonna 267
namen „Meister der Junge-Madonna“33 und charakterisiert seine Persönlichkeit mit „westfälischer Stammesart“, der vielleicht am Mittelrhein gelernt oder gear- beitet hatte.34 Pinder dagegen beurteilt das Antlitz der Schönen Madonna in Stral- sund als „echt plattdeutsch“, glaubt aber, dass „alle übrigen Formen geradezu abgeschrieben“ seien. Er schreibt, es habe „der Schnitzer [der Junge-Madonna] die Holdheit der Thornerin ins Norddeutsche übersetzt“35 (Abb. 12). Paatz wiederum benennt den Lübecker Lettnermeister als den Schöpfer der Junge-Madonna.36 Dem folgt Niesel 1954, die aber Bedenken äußert und erstmals die Frage nach der Verwendung von Nussbaumholz aufwirft, was bekanntlich in Lübeck zur Herstel- lung christlichen Bildwerks verboten war.37 Sie erkennt außerdem Unterschiede in der plastischen Umsetzung von Stein- und Holzskulpturen und macht auf den verschiedenen Charakter der beiden Materialien aufmerksam.38 Auch FrÜndt fällt die beweglichere Haltung, der lieblichere Ausdruck der Werke aus Stein auf, die im Ausdruck weicher und in den Konturen eleganter und von größerer Qualität sind.39 Obwohl böhmische Stileinflüsse nun in der Kunst Lübecks noch um die Mitte des 15. Jahrhunderts gesehen werden40, stellt Fründt in ihrer Arbeit „Zur Meck- lenburgischen Plastik von 1400 bis zum Ausgang des Mittelalters“ eine weitere Verbreitungsrichtung des Weichen Stils fest: Nach ihrer Ansicht erscheint er, am Ende des 14. Jahrhunderts aus Burgund kommend, zuerst am Niederrhein und gelangte ab dem ersten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts von dort aus über Westfa- len nach Lübeck.41 Sie vergleicht mit der Maastrichter Madonna42 (Abb. 13) und greift die Vermutung Clasens nach einer gemeinsamen Werkstatt, wenigstens aber dem engeren Umkreis43 auf. 33 Paul (wie Anm. 23), S. 65; „Die Vorstellung von dem Künstler als Genie hat so sehr von der Kunstgcschichlsschreibung Besitz ergriffen, dass selbst dort, wo Namen fehlen, anonyme Meister angenommen werden“. C. LICHTE, Meisterwerke massenhaft ... - Zum Problem der Händeschei- dung in der Wcckmann-Werkstatl, in: Würtlcmbergisches Landesmuseum Stuttgart, Hg., Meister- werke Massenhaft. Die Bildhauerwerkstatt des Nikolaus Weckmann und die Malerei um 1500 in Ulm, Stuttgart 1993, S. 19-28, hier S. 19; Zum Sclbstverständnis des spälmittelalterlichen Küns- tlers s. auch J. TRIPPS, Das handelnde Bildwerk in der Gotik. Forschungen zu den Bedeulungsge- schichten und der Funktion des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Hoch- und Spätgo- tik, Berlin 1998, S. 201-219. 34 Harilaub verbindet jene Stilistik mit der der Lübecker Leltnerfiguren und auch Paatz bescheinigt 1929 ihre Verwandtschalt. W. Paatz, Die Lübecker Steinskulplur der ersten Hälfte des 15. Jahr- hunderts, in: Staatsarchiv zu Lübeck, Hg., Veröffentlichungen zur Geschichte der Freien und Han- sestadt Lübeck, Bd. IX, Lübeck 1929, S. 82; Weise vergleicht die Gewandbehandlung dagegen mit der der Rclieffiguren des bronzenen Taufkesscls im Lübecker Dom. G. WEISE, Mittelalterliche Bildwerke des Kaiser-Friedrich-Museums und ihre nächsten Verwandten, Reutlingen 1924, S. 42. 35 W. Pinder, Die Deutsche Plastik vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende der Renaissance, Erster Teil, in: A. E. Brinckmann, Hg., Handbuch der Kunstwissenschaft, Wildpark-Potsdam 1924, S. 239. 36 Paai z (wie Anm. 34), S. 44 ff. 37 S. auch M. Baxandall, Die Kunst der Bildschnitzer, München 1985, S. 38ff; J. VON BONSDORFF, Kunslproduklion und Kunstvcrbreilung im Ostseeraum des Spätmitlelalters, Helsinki 1993, S. 58f. 38 Niesel (wie Anm. 24), S. 12. 39 FRÜNDT (wie Anm. 5), S. 27. 40 Weise (wie Anm. 34), S. 41. 41 E. FRÜNDT, Mecklenburgische Plastik von 1400 bis zum Ausgang des Mittelalters, Diss., Rostock 1954, MS, S. 19. 42 Maastrichter Madonna von St. Servatius, FRÜNDT (wie Anm. 5), S. 28. 43 CLASEN (wie Anm. 1), S. 189/190. 268 Burkhard Kunkel
Abb. 12: Antlitz der Schönen Madonna aus Thorn links, nach Legner 1978, Bd. II, S. 517, der Junge-Madonna rechts, Foto: Burkhard Kunkel Abb. 13: Schöne Madonna aus Maastricht, nach Fründt 1962, Abb. 4, S. 29 Abb. 14: Schöne Madonna aus Bonn, nach Feulner 1943, Abb. 1, S. 24. Abb. 15: Schöne Madonna aus Breslau, nach Feulner 1943, Abb. 7, S. 33 Problematisch bei Überlegungen zur Provenienz ist, dass die frühere For- schung die Stralsunder Schöne Madonna und ihren Schrein mitunter in einem Zusammenhang sieht und damit die Besonderheiten der Flügclaußcnseilcn des Stralsunder Junge-Altars auf die Provenienz der Madonna bezieht (Abb. 3). Paul sieht in der gemalten Verkündigung eine Herkunft des Gesamtwerkes aus Lübeck Die Stralsunder Junge-Madonna 269
bestätigt. Es sei unverkennbar, schreibt er, dass unsere Jungfrau Maria dem lübi- schcn Frauentypus entspricht. Er führt die Stralsunder Bilder auf Einflüsse Meister Franckes zurück.44 Stange dagegen erkennt in der schönlinig gemalten Verkündi- gung45 einen Lübecker Schüler des Konrad von Soest46. Auch Fründt sieht die Flügelmalercien stilistisch in der Lübecker Tradition und schließt daraus, dass der ganze Schrein dort angefertigt sei.47 Allerdings trennt sie die Untersuchung des Schreins von der Hauptfigur und verweist erneut auf die Verwandtschaft der Jun- ge-Madonna mit der Thorner Madonna. Die technologischen Befunde zum Schnitzmaterial veranlassen sic, wiederum in Richtung Niederrhein zu schauen.48 Sie führt damit die These Clasens weiter, der die Meinung vertritt, der Hauptver- treter dieser Gruppe, der niederrheinische „Meister der schönen Madonnen“, habe mit der Madonna aus Bonn (Abb. 14) sein Früh werk geschaffen und sei dann nach Osten gewandert.49 Damit ist der von Pinder beschriebene Weg aus Richtung Breslau aber noch nicht widerlegt, begreift er doch die Thornerin, das unangefoch- tene Vorbild der Junge-Madonna, als Exportwerk Breslaus (Abb. 15).50 Jüngere Forschungen weisen direkt nach Stralsund: Einen Vergleich der Jun- ge-Madonna zum Olav-Schrein (Abb. 16), dem Kreuztragenden Christus und zu den Figuren im Aufsatz des Hochaltars St. Nikolai in Stralsund schlägt Detlef Witt vor und stellt ihre stilistische Nähe in den Raum.51 Er begründet seine Thesen vorerst mit dem Verweis auf die früheren Arbeiten Schneiders52 und Wentzels53 und auf die Materialfrage. 44 Mit der stilistischen Vergleichbarkeit der Einflüsse Franckes, die erst für die Zeil nach der Vollen- dung seines Thomasallares 1424 gellen, gelangt M. Paul zu einer Datierung der Malerei zwischen dem Anfang der 30er Jahre und der Mitte des 15. Jhs. Paul (wie Anm. 23), S. 50-54. 45 DrilHO, Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler, Die Bezirke Neubrandenburg, Rostock, .Schwerin, Berlin 1968, S. 383, hier ohne Zuschreibung. 46 A. Stange, Deutsche Malerei der Gotik, Bd. 111, Berlin 1938, S. 203. Bereits 1924 beklagt Wor- ringer, es würden sich die Stimmen mehren, die ihn, ,J...| sei es in Dortmund, sei es in Lüneburg, ja sei es in Lübeck ansässig oder wenigstens vorübergehend wirksam glauben“ und wirft an dieser Stelle die Frage nach allgemeinem Zeilstil oder Persönlichkeitsstil auf. W. WORRINGER, Die An- fänge der Tafelmalerei, Leipzig 1924, S. 202. S. auch TANGEBERG (wie Anm. 10), S. 144, Anm. 261. 47 Fründt (wie Anm. 25), S. 539. 48 FRÜNDT (wie Anm. 25), S. 541. 49 FRÜNDT (wie Anm. 5), S. 28. 50 PINDER (wie Anm. 28), S. 109. Auch Ullmann bestätigt die Verbreitung der Thorner Madonna mit dem Ursprung Böhmen nach Norden, nach Schlesien und dem Deutschordensland. E. ULLMANN, Hg., Geschichte der Deutschen Kunst 1350-1470, Leipzig 1981, S. 157. 51 D. WHT, Stralsunder Malerei und Plastik um 1500, Magisterarbeit, Greifswald 1998, MS, S. 15. 52 E. SCHNEIDER, Schnitzaltäre des 15. und des frühen 16. Jahrhunderts in Pommern, Diss., Kiel, 1914, S. 11. 53 H. Wentzel, Olav fra Stralsund, in: Kunst og Kultur, Jg. XX, Heft 1, Oslo 1936, S. 17 ff. 270 Burkhard Kunkel
Abb. 16: Werkmaterial: Skulptur Nussbaum - Schrein Eiche: Olav- Schrein, (nach V. Herre, St. Nikolai Stralsund, Heft 11, 2005, S. 2) Abb. 17: Vorkommen von Nuss- baum- skulpturen nach Fründt 1962, S. 30 Die Stralsunder Junge-Madonna 271
Die Verwendung von Nussbaumholz54 zur Herstellung der Hauptfigur rückt in der Literatur immer wieder in den Mittelpunkt des Interesses: Die Identifizierung des Schnitzmaterials der Junge-Madonna55 überraschte, war doch ihr Schnitzwerk in der Kunstwissenschaft lange Zeit für Eichenholz gehalten worden. Edith Fründt nahm diese Erkenntnis zum Anlass, erstmals in diesem Zusammenhang die Frage nach der Verwendung bestimmter Hölzer in einem kunstgeographischen Kontext zu diskutieren56 (Abb. 17). Sie beobachtet ein vermehrtes Vorkommen von Skulp- turen aus Nussbaumholz am Niederrhein und stellt eine graphische Übersicht zur Verbreitung der wichtigsten Holzarten in der Plastik des 15. Jahrhunderts zur Verfügung.57 Dagegen wird bei Voß die Materialwahl des Schnitzers zum unab- dingbaren Entscheidungskriterium des Herstellungsortes.58 Auch Tängeberg be- wertet das Werkmaterial des Junge-Altarschreins im Vergleich mit dem aus Skäll- vik (Abb. 18) ähnlich hoch, indem er die nussbaumene Hauptfigur in dem eiche- nen Schrein in gewisser Weise für vergleichbar hält.59 Abb. 18: Werkmaterial: Skulptur Nussbaum - Schrein Eiche: Marienschrein in Skällvik, Schweden, nach Tängeberg 1986, Abb. 103, S. 148 Die für die Aufnahme einer Vollplastik geänderte Konstruktion des Stralsun- der Schreins in Form eines so genannten Viereraltares vergleicht Voß mit den Beispielen aus Middelhagen und Patzig auf Rügen (Abb. 19).60 Er sieht darin einen Beleg, dass seiner Ansicht nach auch der Schrein in einer Stralsunder 54 Kunze (wie Anm. 7), S. 40; Fründt (wie Anm. 5), S. 25; Voss (wie Anm. 5), S. 482; Tängeberg (wie Anm. 10), S. 148. 55 Kunze (wie Anm. 7); s. auch Fründt (wie Anm. 25), S. 539. 56 Fründt (wie Anm. 5). 57 Fründt (wie Anm. 5), S. 30, Abb. 5. 58 „Das macht Stralsund als Fntstchungsort wahrscheinlich“. VOSS (wie Anm. 5), S. 492. 59 TÄNGEBERG (wie Anm. 10), S. 148, Fußn. 269. 60 Voss (wie Anm. 18), S. 86. 272 Burkhard Kunkel
Schreinerwerkstatt gefertigt worden war.61 62 Zur Provenienz der Junge-Madonna bietet er zwei Hypothesen an: „1. Die Junge-Madonna wurde in Thorn geschaffen und nach Stralsund importiert [...]. 2. Ein in Danzig und Thorn geprägter Bild- hauer hat die Figur in Stralsund angefertigt Voß begründet dies mit der Verwendung von Nussbaumholz für die Hauptfigur und mit der Hypothese, die Konstruktion des so genannten Viereraltars sei in Schlesien und im Ordensland entwickelt worden.63 Mit der Einschränkung, dass in Danzig im Mittelalter kein Nussbaumholz verarbeitet worden sei, korrigiert er später dahin, dass nur noch Thorn für die Herkunft des Meisters der Junge-Madonna in Frage komme, der danach weiter nach Lübeck zog, um dann die weiblichen Büsten des dortigen Jakobikirchaltars zu schaffen.64 Abb. 19: Aufbau in Form eines so genannten „Viereraltars“: Mittel- schrein des Margareten-Retabels in Patzig auf Rügen, Foto: Burkhard Kunkel Die Voß’sehen Thesen polarisieren. Sie kommen zwar der Erkenntnis Pinders nahe, es habe der Südosten auch nach Norden gewirkt, die früher angenommene Stilverbreitung vom Mittelrhein65 verliert dafür an Boden. 61 Voss (wie Anm. 18), S. 75. 1993 wurde aueh für Ulmer Retabel der Versuch einer Gruppierung auf Grund des Vergleichs der Häufigkeit von Konstruktionsmerkmalcn unternommen. S. auch KRIiBS (wie Anm. 12), S. 274. 62 Voss (wie Anm. 18), S. 141. 63 Diese sieht Pinder jedoch in der Nachfolge des Stralsunder Werkes, s. auch PINDER (wie Anm. 28), S. 114. 64 Voß nimmt an, dass auch die Engelfiguren des Junge-Retabels von seiner Hand stammen. Voss (wie Anm. 18), S. 72. 65 PlNDI-R (wie Anm. 28), S. 109. Die Stralsunder Junge-Madonna 273
Vor dem Hintergrund einer reichen wie zerklüfteten Forschungslage zur Pro- venienz der Junge-Madonna bleibt cs weiterhin schwierig, eine Antwort auf die Frage nach ihrer Herkunft zu finden. Die bekannte Ansicht, der Meister der Schö- nen Madonna habe während seiner Wanderschaft nach den großen Kunstzentren Norddeutschlands seine Eindrücke auf seiner Station Stralsund in dem Werk der hier geschaffenen Junge-Madonna umgesetzt66, fokussiert dabei Verbreitungsrich- tungen der Kunst am Ende des 14. und beginnenden des 15. Jahrhunderts. Bekanntlich existierten bereits um 1370 bedeutende Wege, über die beispiels- weise die Lübecker Münze ihren Silberbedarf67 deckte: Nämlich aus Böhmen über Stralsund in Richtung Lübeck. Auch die für den Kupfcrhandcl privilegierte Han- delsstraße von Kaschau nach Breslau und dann auf der Oder nach Stettin bietet sich als Vergleich an.68 Von diesem Weg abzuweichen ist angesichts der Gravita- tion der großen Hütten Schlesiens und Österreichs kaum denkbar. Dass dem Meister der Junge-Madonna die Thorner und die Breslauer Madonna bekannt gewesen sein müssen, ist nicht zu übersehen. Dass sie ebenso, wie ihre steinernen Vorbilder sogar in einer der Bauhütten entstand69, ist ebenfalls möglich. Auf die besondere Nähe von Holz- und Steinbildhauerwcrkstätten weist Hubert Wilm hin. Er schreibt: „Nur die ganz großen Meister der spätgotischen Schnitzerei haben gleichzeitig auch in Stein gearbeitet“.70 Auch Hans Huth bestätigt, dass zwischen Hütte und Zunft schon immer „gewisse Zusammenhänge“ bestanden, wobei sich handwerkliche und Werkstattgewohnheiten auch „überpflanzt“ ha- ben.71 Demnach dürfte der Gedanke an einen großen Bildhauer, der Stein- und Holzbildwerkc fertigen konnte, nicht ganz verfehlt sein. Wenn nun aber die Ver- wendung von Nussbaumholz tatsächlich nur dort üblich war, wo vermehrt Nuss- baumskulpturcn nachgewiesen wurden, bliebe auch der zweite Weg aus Richtung Niederrhein7“, den südlichen Niederlanden bis nach Köln - einem Zentrum mitte- lalterlicher Hütten - in Betracht. Vor diesem Hintergrund kann durchaus ein Zusammenhang auch in der Prove- nienzlrage der Flügelmalercien des Gesamtwerkes gesehen werden. Stange stellt in Bezug auf die Verkündigung des Junge-Schreins zwar Anklänge an eine Vor- bildhaftigkeit des Conrad von Soest, zumindest aber Reflexe eines Zeitstils73 fest. Dies bedeutet nichts anderes, als dass die Ausführung der Malerei sich modernem Zeitgeschmack entsprechend an westlichen Vorbildern orientierte. 66 Voss (wie Anm. 18), S. 141. 67 F. Rorig, Wirtschaftskräfte im Mittelalter, Weimar 1959, S. 301. 68 S. auch E IRSIGLER, Hansischer Kupferhandel im 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhun- derts, in: Hansische Geschichlsblätter, 97. Jahrgang, Köln, Wien 1979, S. 15- 35, hier S. 20. 69 ULLMANN (wie Anm. 50), S. 158. 70 H. WiLM, Die gotische llolzfigur, ihr Wesen und ihre Technik, Leipzig 1923, S. 31. 71 H. 11U l II, Künstler und Werkstatt der Spätgotik, Darmstadt 1977, S. 40/41. 72 F'RÜNDT (wie Anm. 5), S. 30, grafische Übersicht; FrÜND'I' (wie Anm. 25), S. 541; s. auch P. LANGEN, Zur Werkgeschichte und technologischen Entwicklung der Kölner Holzskulpturen 1400- 1540, in: Karrenbrock, R., Bearb., Die Holzskulpturen des Mittelalters 11, 1, Museum Schnütgen, Köln 2001, S. 81-120, hier S. 86/87. 73 Letzteres mag eine Erklärung im Vergleich der Verkündigung des Schreins mit der an der Tür der nördlichen Chorschranke in St. Nikolai finden. Spiegelvcrkehrt ist hier fast wörtlich von den Flü- gelaußensciten abgeschrieben worden. 274 Burkhard Kunkel
Insgesamt zeichnet sich also das Stralsunder Werk nicht nur in der besonderen Prominenz seiner Hauptfigur, sondern auch in der hohen Qualität seiner Einzelbc- standteile aus. Die Betrachtung des Jungeschen Marienschrcins gewinnt nun eine Bedeutung, die mit der Geschichte der Thorner Schönen Madonna in ihrem Status als Haupt- figur auf einem Altar vergleichbar wird und zwar so, wie sie in dem Visitationsbe- richt von 1617 beschrieben wurde74, obwohl in beiden Fällen nach der früheren Funktion dieser Schönen und zu ihrer Zeit wohl weiten Kreisen bekannten Ma- donnen zu fragen bliebe: Waren sie etwa, lange bevor sie in den Kontext eines Altaraufsatzcs montiert wurden, als Einzelbildwerk an exponierter Stelle in einer Breslauer oder Thorner hier, in einer Lübecker oder Stralsunder Kirche dort be- reits vorhanden? Über die ursprüngliche Funktion der Schönen Madonnen beteuert Hans Bel- ting 1990 nur wenig zu wissen. Er führt aber ein interessantes Beispiel an: Ein wohl vollplastischcs Marienbild, das in der Liebfrauenkirchc in Frankfurt a. M. auf einer steinernen Säule stand, dem ein Ablass übertragen und später mit Reli- quien ausgestattet wurde75. Hatte die Stralsunder Madonna einst eine ähnliche Aufgabe als frei stehendes Marienbild76 und wie erklärt sich mit ihrer Einfassung in einen Schrein der Zusammenhang zum Thorner Werk? Bestand ihr Wert dem- nach nicht allein in ihrer Ästhetik, sondern vielmehr in ihrer Authentizität, deren Echtheit und „Kultbcrcchtigung“77 in das Konzept ihrer Auftraggeber passte? Wenn nun Max Paul eine Stiftung des Stralsunder Werkes im Jahr 1456 als Sühne für die Mordtat des Jürgen Junge an seiner Ehefrau78 vermutet, so wird das Doppelportrait im mittleren Medaillon vielleicht erklärlich, wodurch Albert sei- nem Bruder Jürgen, der infolge seiner Verfestung keinen Zugang zur Stadt hatte, mit der Stiftung des Schreins zu einer kollektiv wirksamen Sühne verhalf. Gleichwohl kann auch das Eintrittsdatum der Gebrüder in das Stralsunder Ge- meinwesen 1422 oder das Todesdatum Albert Junges 1446 für die Anfertigung des Werkes herangezogen werden: Ihre gemeinsame Stiftung des Schreins mit offensichtlicher Memoriafunktion, in welchem ein bedeutendes Marienbild gewis- sermaßen als ranghohe Antiquität präsentiert wird, entzieht sich zwar im Hinblick auf Bildprogramm, Konstruktion und Verwahrungsfunktion zunächst einem weiter greifenden liturgischen Bezug zu einem bestimmten Altar - für die Auftraggeber mag aber gerade erst mit der Einfassung dieses Marienbildes in ihren Schrein die Voraussetzung gegeben, für standesgemäße Repräsentation und ein ansehnliches Scclgcrät gesorgt zu haben. 74 S. Anm. 1. 75 H. Belting, Bild und Kult, München 1990, S. 487. 76 Belting (wie Anm. 75), S. 487. „Die Devolionsselbsländigkeit war doch für viele andere Schönen Madonnen charakteristisch“. Freundliche Mitteilung und Hinweis auf Wojciech MARCINKOWSKI, Co to jest Piekna Madonna? In: Mateusza Kapustki, Hg., Prawda i twörczosc Wroclaw 1998, S. 39-53, von Dr. M. Jakubek-Raczkowska, Instytul Zabytkoznawstwa i Konserwatorstwa Uniwersytct Mikolaja Kopernika, Torun. 77 B. Decker, Kultbild und Altarbild im Spätmittelalter, in: Siebenmorgen, H., Hg., Ora pro nobis. Bildzeugnisse spätmittelalterlicher Heiligenverehrung, Vortragsreihe des Badischen Landesmu- seums, Karlsruhe 1994, S. 55-87, hier, S. 75. 78 Francke (wie Anm. 23), S. 85, Nr. 680; Paul (wie Anm. 23), S. 47. Die Stralsunder Junge-Madonna 275
Doch ungeachtet dessen, ob die Junges einen bereits vollendeten oder auch schon genutzten Schrein für die Aufnahme ihres Marienbildes erworben hatten, der nur noch mit ihrem Wappen und der Inschrift zu ergänzen war; Tradition, Ansehen und politisches Streben der aus Lübeck stammenden Familie wird in einem Werk zum Ausdruck gebracht, das sich in der Exklusivität nicht nur seiner Hauptfigur, sondern auch der Ausführung des Gesamtwerkes auszeichnete, so dass die Herkunft der Schönen Madonna um 1400 nicht allein, sondern ebenso wie der Auftrag des Schreins verständlicherweise auf eine Werkstatt weist, die sich an den Leistungen der großen Kunstzentren orientierte. In welcher Beziehung die Thorner Schöne Madonna zur Intention der Auftrag- geber der Junge-Madonna gerade auch vor dem Hintergrund einer späteren Ein- fassung stand, lässt sich abschließend zwar nicht mit letzter Sicherheit beschrei- ben, der Hinweis auf ihre Auftraggeber in Thorn scheint der Ansicht Clasens aber Recht zu geben, eine hohe Persönlichkeit des Ordens, des Klerus oder des aufstre- benden Bürgertums79 für den Erwerb dieses Werkes verantwortlich zu machen. Eignete sich eine Muttergottes jener Prominenz in ihrer religiösen und politischen Zeichenhaftigkeit doch nicht nur im Rahmen einer mächtigen Stadt im wend- ischen Quartier der Hanse als Mittel zur Selbstdarstellung80; auch in Thorn im Ordensstaat Preußen wird sie ebenso als Emblem gesellschaftlichen Selbstver- ständnisses von einer führenden Persönlichkeit, einer kirchlichen oder korporati- ven Institution81 verwendet worden sein. Schließlich bleibt weiter Forschungsbedarf: Zum einen sind Beziehungen ein- zelner Familien der Oberschicht Lübecks und Stralsunds zum Ordensland Preußen im Hinblick auf den Transfer von Kunst in der Zeit um 1400 noch nicht untersucht worden, was zumindest den Fundzusammenhang einer Schönen Madonna in Stral- sund weiter erhellen würde. Denn, angesichts der Vorbildwirkung des Thorner Werkes für die Auftraggeber in Lübeck oder Stralsund, werden wieder Probleme, wie die Wanderung von Meistern, die Verbreitung von Stileinflüssen, technologi- schen Innovationen oder von Kunsterzeugnissen von Belang, womit sich wohl nicht nur der Handel, sondern auch der Austausch von Kultur zwischen den Han- sestädten im wendischen Quartier und dem Ordensstaat Preussen, als Beleg all- gemeiner Verfügbarkeit hoch stehender Kunst weiter aufklären wird. Vielleicht werden auf diesem Wege aber auch regionale Nachfolgecrscheinungen wie die Konstruktion des so genannten „Viereraltars“, die im Schrein der Junge-Madonna zur Verwendung kommt, erst verständlich. Zum anderen wäre überhaupt eine umfassende Untersuchung der Schöne- Madonnen-Schreinc wertvoll. Die bekannten späteren Beispiele aus Danzig82 zeigen ja zumindest funktional einen Zusammenhang mit dem Stralsunder Werk. Der um 1470 tätige Lübecker oder Rostocker Maler des Retabels der Danziger 79 Clasen (wie Anm. I), S. 188. 80 S. HESS, Sicherung der Rechtskontinuität oder die Macht der Gewohnheit. Marienbilder im nach- reformatorischen Basel, in: Ganz, David, Henkel, Georg, Hg., Rahmen-Diskurse. Kultbildcr im konfessionellen Zeitalter, Bd. II, Berlin 2004, S. 331-358, hier S. 331 ff. 81 BEI .TING (wie Anm. 75), S. 496; auch DECKER (wie Anm. 77), S. 74/75. 82 Deren Schöne Madonna im Mittelschrcin war „von Anfang an als Andachtsbild ohne Altarschrein gedacht und als autonomes wundertätiges Kultbild“ verehrt worden. Freundliche Hinweis von Dr. M. Jakubek-Raczkowska, Instytut Zabytkoznawstwa i Konserwatorstwa Uniwcrsytet Mikolaja Köpernika, Torun. 276 Burkhard Kunkel
Priesterbruderschaft83 bestätigt erneut aktuellen Zeitstil mit dem wachsenden nie- derländischen Einfluss in der zweiten Jahrhunderthälfte im südlichen und östli- chen Ostseeraum. Für den Fall aber, dass die Danziger Stücke einem Trend fol- gen, der auf die frühe Umgestaltung des Thorner Altares zurückgeht, so erweist sich der so genannte Junge-Altar in Stralsund als ein erstes erhaltenes Zeugnis für eine spätere Einfassung einer Schönen Madonna des Weichen Stils in einen Reta- bel-Schrein. 83 S. Luken, Die Verkündigung an Maria im 15. und frühen 16. Jahrhundert, in: Carsten-Peter Wamckc/Gerd Unverfehrt, Hg., Rekonstruktion der Künste, Bd. 2, Göttingen 2000, S. 102. Die Stralsunder Junge-Madonna 277
Die hl. Elisabeth als das Bild einer neuen Maria Die „Hauptkirche“ des Deutschen Ordens in Marburg und ihre künstlerische Ausgestaltung zu einem Ort konkurrierender Heiligenkulte Matthias Müller Auf den ersten Blick mag cs sonderbar erscheinen, in einem Tagungsband zur Marienvcrehrung im Deutschordcnsland einen Beitrag über die Marien- und Eli- sabelhverchrung in der Marburger Elisabethkirche (Abb. 1) vorzufinden.1 Doch bei näherem Hinsehen erweist sich diese Themenwahl keineswegs als abwegig. Immerhin war Marburg eine der bedeutendsten Kommenden des Deutschen Or- dens und für wenige Jahre sogar Mittelpunkt bedeutender politischer Vorgänge, die das Marburger Haus des Deutschen Ordens ins Zentrum der strategischen Überlegungen des Deutschen Ordens in Europa rückten.2 Noch vor der Verlegung des Hochmeistersitzes auf die Marienburg in Ostpreußen sorgte die außergewöhn- liche Allianz aus Deutschem Orden, thüringischem Landgrafen- und staufischem Kaiserhaus dafür, dass über dem Grab der heiligen Elisabeth die wichtigste Kirche des Deutschen Ordens errichtet wurde. Diese Kirche, üblicherweise als „Elisa- bethkirche“ bezeichnet, galt das ganze Mittelalter hindurch und darüber hinaus bis in die Neuzeit als eine „Hauptkirche“ des Deutschen Ordens.3 Diesen Status verlor die Marburger Elisabethkirche erst 1809, als Napoleon nach der Besetzung des Rheinlands, Hessens und Westfalens auch die Dcutschordcnsnicderlassung in Marburg aufhob. Doch bis zu dieser historischen Zäsur und diesem schmerzlichen Verlust wurde der Elisabethkirche als herausragendem Zeugnis für die politische und religiöse Geschichte des Deutschen Ordens und als Architekturdcnkmal kon- tinuierliche Aufmerksamkeit geschenkt. Stiftungen für den Erhalt des Bauwerks und seiner Ausstattung erfolgten nicht nur von den Dcutschordcnshcrrcn in Mar- burg bzw. Hessen, sondern ebenso auf Anweisung der Hochmeister von der Ma- rienburg aus. Ein sprechendes Beispiel aus den Jahrzehnten vor der Besetzung 1 Der vorliegende Beitrag bildet zugleich die Grundlage für meinen Aufsatz Simililudo Mariae. Die bildhafte Ausgestaltung der Marburger Elisabethkirche zum locus sanctus der Marien- und Elisa- bethverehrung, in: Thomas Frank/Michael MatheusASabine Reichert (Hg.), Wege zum Heil. Pilger und heilige Orte an Mosel und Rhein (im Druck). 2 Siehe hierzu und zum Folgenden immer noch grundlegend Udo Arnold/1 leinz Liebing (Hg.), Elisabeth, der Deutsche Orden und ihre Kirche. Festschrift zur 700jährigen Wiederkehr der Weihe der Elisabethkirche Marburg 1983 (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, Bd. 18), Marburg 1983, sowie Matthias WERNER, Die Heilige Elisabeth und die Anfänge des Deutschen Ordens in Marburg, in: Erhärt Detlmcring/Rudolf Grenz (Hg.), Marburger Geschichte. Rückblick auf die Stadtgeschichtc in Einzelbeiträgen, 2. Aull. Marburg 1982, S. 121-164. 3 So findet sich eine Erläuterung der Bedeutung der Elisabethkirche als einer „Hauptkirche“ des Deutschen Ordens auch in einem Brief des der Marburger Ordcnsballei-Kanzlei angehörigen Grä- len von Isenburg vom 14. September 1768, der von der Restaurierung der mittelalterlichen Glas- fensler handelt: „... weil ohnstritlig Unserer St. Elisabethkirche zu Marburg eine Hauptkirche unse- res Großen Ordens ist...“ (Staatsarchiv Marburg, 10611/63, Pak. 12, zit. nach Bierschenk, wie Anm. 4, S. 45). Die hl. Elisabeth als das Bild einer neuen Maria 279
durch Napoleon ist die kostspielige Restaurierung der mittelalterlichen Glasfenster der Elisabethkirche auf Anordnung des damals amtierenden Hochmeisters. Diese Instandhaltungsmaßnahme erfolgte in den Jahren 1767 bis 1770.4 Nicht zu verges- sen ist aber auch jene Reliquie der hl. Elisabeth, die 1401 im Treßlerbuch der Marienburg verzeichnet wurde und die in ihrer Materialität auch die physische Präsenz Elisabeths auf dem preußischen Hochmeisterschloss bezeugte.5 Damit wird schlaglichtartig deutlich, welchen besonderen Rang die Elisabethkirche auch noch für die auf der fernen Marienburg residierende Deutschordensregierung besaß und die Kirche im fernen Marburg einen festen Ort im Bewusstsein des Deutschen Ordens einnahm. Abb. 1: Marburg, Elisabethkirche, Ansicht von Südwesten (Alle Abbildungen dieses Beitrags Bildarchiv des Instituts für Kunstgeschichte der Universität Mainz und des Verfassers) 4 Monika BiriRSCHI-NK, Glasmalereien der Elisabethkirche in Marburg. Die figürlichen Fenster um 1240, Berlin 1991, S. 42-47. 5 Udo ARNOLD, Elisabeth und Georg als Pfarrpatrone im Deutschordensland Preußen. Zum Selbst- versländnis des Deutschen Ordens, in: Arnold/Liebing (wie Anm. 2), S. 173, Anm. 57. 280 Matthias Müller
Anlass für diese außergewöhnliche Wertschätzung der Marburger Elisabeth- kirche war nicht nur ihre außergewöhnliche, vom Stauferkaiser Friedrich II. per- sönlich mitgeprägte Entstehungsgeschichte,6 sondern ebenso die Verbindung und Ausübung zweier Traditionsstränge religiösen Gedächtnisses und kultischer Praxis an diesem Ort: die Verehrung der hl. Elisabeth und die Verehrung der Gottesmut- ter Maria. Nur in Marburg, am Ort der Grabesstätte der hl. Elisabeth, sah sich der Deutsche Orden vor die Aufgabe gestellt, die alte, seit Jahrhunderten tradierte Praxis der Marienverehrung mit der noch jungen, erst in ihren Anfängen stecken- den Praxis der Elisabeth Verehrung zu verbinden. Während Maria seit seiner Grün- dung in Jerusalem die Schutzpatronin des Deutschen Ordens war, erhielt Elisabeth diese Aufgabe erst unmittelbar nach ihrer Heiligsprechung im Jahr 1235 zugewie- sen. Im selben Jahr, 1235, erfolgte auch die Grundsteinlegung für den Bau der Elisabethkirche. Das Datum war der 15. August, der Tag der Himmelfahrt Ma- riens. Mit der Wahl dieses hohen Marienfeiertages stellte der Deutsche Orden seine Marburger Kirche unter den Schutz seiner Hauptpatronin. Diese enge Ver- bindung zwischen Maria und der neuen Deutschordenskirche kommt auch im Weihetitel zum Ausdruck: Ecclesia Sanctae Mariae bzw. Ecclesia Beatae Virginis Mariae lautet die offzielle Bezeichnung in der Weiheurkunde von 1283.7 Abb. 2: Marburg, Elisabeth- kirche, Tympanon des Hauptportals Ist die Marburger Elisabethkirche damit in Wirklichkeit eine Marienkirche? Vom kirchenrechtlichen Standpunkt aus beurteilt, müssen wir diese Frage eindeu- tig bejahen. Die Elisabethkirche ist ganz ohne Zweifel eine Marienkirche, deren Patrozinium jedem Besucher unübersehbar bereits am Hauptportal vor Augen gestellt wird: Im Tympanon (Abb. 2) aus den 1280er Jahren erscheint in Form 6 Zur Milwirkung Kaiser Friedrichs II. siehe Helmut BeüMANN, Friedrich II. und die heilige Elisa- beth. Zum Besuch des Kaisers in Marburg am 1. Mai 1236, in: Sankt Elisabeth. Fürstin, Dienerin, Heilige, Sigmaringen 1981, S. 151-166. 7 Arthur Wyss, Hessisches Urkundenbuch, Abt.l, Urkundenbuch der Ordensballei Hessen, Bd.l, 1207-1299, Leipzig 1879, Nr. 418, Nr. 649. Die hl. Elisabeth als das Bild einer neuen Maria 281
einer Standfigur eine Madonna, die ihr Kind den Gläubigen als Heiland der Welt präsentiert, während zwei Engel demutsvoll Kronen darreichen. Die Gestaltung des Hintergrundes dieser Szene mit einem Rosenhag auf der rechten und Wein- laub auf der linken Seite unterstreicht zusätzlich die mariologische und christolo- gischc Thematik des Hauptportals. Abb. 3: Marburg, Elisabethkirche, Hauptportal Abb. 4: Marburg, Elisabethkiche, Inneres nach Osten 282 Matthias Müller
Mit Hilfe der schmiedeeisernen Kreuze auf den ebenfalls aus den 1280er Jah- ren stammenden Türflügeln (Abb. 3), die sich unmittelbar unterhalb der Madon- nenfigur im Tympanonfeld befinden, wird zudem das spirituelle Bündnis zwi- schen der Königin des Himmels und dem Deutschen Orden sichtbar gemacht. Betreten wir das Kircheninnere (Abb. 4) und gehen bis in den Ostchor, um dort vor den 1290 geweihten Hochaltar (Abb. 5) zu treten, werden wir wiederum Maria mit ihrem Kind und zwei flankierenden Engel als Hauptmotiv in der zentralen Nische des Altars begegnen. Wenden aufmerksame Kirchenbesucher dann noch ihren Blick nach oben ins Gewölbe, werden sie im mittleren Gewölbefeld des Mittelschiffes einen Schlussstein (Abb. 6) erkennen, dessen figürlicher Schmuck eine Marienkrönung zeigt: Christus setzt Maria die Krone aufs Haupt und zeichnet sie dadurch als Regina coeli, als Königin des Himmels aus. Anfang, Ende und auch der Mittelpunkt der Hauptachse der Elisabethkirche sind also mit den Bild- nissen der Hauptpatronin des Deutschen Ordens besetzt, womit zugleich die Inbe- sitznahme und Kontrolle der Elisabethkirche durch den Deutschen Orden ange- zeigt wird. Doch können wir daraus im Umkehrschluss folgern, dass die Funktion einer Marienkirche diejenige der Funktion einer Elisabethkirche überlagert und die Verehrung der Gottesmutter Maria die Verehrung Elisabeths, der Mutter der Armen und Bedürftigen, dominiert? Wollte der Deutsche Orden gar das Gedäch- tnis an Elisabeth mit der Herausstellung seiner Hauptpatronin Maria verdrängen? Abb. 5: Marburg, Elisabethkirche, Hochaltar 8 Diese Auffassung vertreten Uwe GEESE, Die hl. Elisabeth im Kräftefeld zweier konkurrierender Mächte. Zur Ausstattungsphase der Elisabethkirche zwischen 1280 und 1290, in: Kal. 700 Jahre Elisabethkirche in Marburg 1283-1983, Marburg 1983, Bd.l, S. 55-67, sowie Andreas KÖSTLER, Die Ausstattung der Marburger Elisabethkirche. Zur Ästhctisierung des Kultraums im Mittelalter, Berlin 1995, S. 59f. Die hl. Elisabeth als das Bild einer neuen Maria 283
Abb. 6: Marburg, Elisabethkirche, Schlussstein im mittleren Gewölbe- feld des Mittelschiffs Auf den ersten Blick scheint diese Vermutung nicht abwegig zu sein, passt doch das militärische Engagement des Ordens in den Kreuzzügen des Heiligen Landes aber auch im Baltikum, in Livland oder in West- und Ostpreußen für mo- derne Betrachter nicht so recht zum Anspruch Elisabeths von Thüringen, aller höfischen Macht und Pracht zu entsagen und sich in radikaler Zuspitzung nur noch in den Dienst der kranken, hungernden und obdachlosen Menschen zu stellen. Ein Ritterorden, so auch die weit verbreitete Ansicht in Teilen der historischen wie kunsthistorischen Forschung, eignet sich nicht zum Hospitalsorden und musste das Gedächtnis an die hl. Elisabeth fast zwangsläufig für sich selbst als weniger bedeutend ansehen. Udo Arnold gebührt das Verdienst, bereits vor längerer Zeit dieses polarisierende und polemisierende Urteil einer differenzierenden Revision unterzogen zu haben und dabei vor allem auf das durchaus lebendige Selbstver- ständnis des Deutschen Ordens als eines Hospitalordens hinzuweisen.9 Dieses bis in die Gründungszeit des Ordens im Heiligen Land zurückreichende Selbstver- ständnis wurde zwar - auch dies hat Udo Arnold wiederholt aufgezeigt - unter den Bedingungen der Unterwerfung und Beherrschung Preußens vor allem im Deutschordensland durch das Ideal des glorreich kämpfenden und unter dem Schutz Mariens und des hl. Georgs auch glorreich siegenden Ritters überlagert, ohne die ursprüngliche Identität dabei jedoch vollkommen vergessen zu machen. Dies gilt besonders für die Situation außerhalb Preußens im Reich, wo auch die Elisabcthpatrozinien der vom Deutschen Orden betriebenen Hospitäler sehr zahl- reich waren. Ist schon die historische Wirklichkeit komplex, so stellt sich die Situation in der Marburger Elisabethkirche mit Blick auf das besondere Verhältnis zwischen Maria und Elisabeth noch wesentlich vielschichtiger und letztlich auch anspruchs- voller dar. Nehmen wir die Elisabethkirche und ihre künstlerische Ausstattung als Ganzes, so haben wir nicht nur eine besondere Form der Topographie von zwei religiösen, am selben Ort praktizierten Kulten vor Augen, sondern auch die Histo- riographie dieser beiden, am selben Ort verankerten Kulttraditionen. In der Archi- 9 ARNOLD (wie Anm. 5). Siehe darüber hinaus eine Auswahl an wichtigen Aufsätzen in der Fest- schrift: Udo Arnold, Deutscher Orden und Preußenland. Ausgewählte Aufsätze anläßlich des 65. Geburtstages, hg. von Bernhart Jähnig u.a., Marburg 2005. 284 Matthias Müller
tektur und der bildlichen Ausstattung sind diese Kulttraditionen gewissermaßen in ein räumliches, begehbares, an die Binnentopographie des sakralen Ortes rückge- bundenes Bild überführt worden, dessen Form allerdings nicht konstant blieb, sondern sich über die Zeiten immer wieder verändert hat. Diesem in der Architek- tur und Ausstattung der Elisabethkirche manifesten Bild der Marien- und Elisa- bethverehrung und seinen Wandlungen möchte ich im Folgenden nachgehen und dabei ein anderes, noch von der jüngeren Forschung gezeichnetes Bild zu korrigie- ren versuchen. Auf diesem von der Forschung gezeichneten Bild wird Maria als die Triumphierende und Elisabeth als die zwischen den Interessen der politischen Institutionen aufgeriebene und der unmittelbaren Volksfrömmigkeit entzogene Heilige gezeigt10, eine Sichtweise, die weder der historischen Realität entspricht noch der Realität, die sich aus der Aussagekraft der architektonischen und bild- künstlerischen Zeugnisse in der Elisabethkirche selbst ergibt. Für die Konturen des zu zeichnenden neuen Bildes möchte ich mich im We- sentlichen auf folgende Gegenstände bzw. Gegenstandskomplexe beschränken: die Architektur der Elisabethkirche, das Grabmal der hl. Elisabeth, ihren Reliqui- enschrein, den Hochaltar und das Elisabethfenster. Im Mittelpunkt wird dabei die Gestaltung der Architektur stehen, da sie den Raum für die Verehrungsstätten Elisabeths und Marias bildet und die Positionen der loca sancta, der heiligen Stät- ten definiert. Anhand der genannten Gegenstände bzw. Gegenstandskomplexe soll versucht werden, weniger die Polarität als vielmehr die Integrationskraft der Ma- rien- und Elisabethverehrung in der bedeutendsten Kirche des Deutschen Ordens zu thematisieren. Das integrative Moment ergibt sich dabei bezeichnenderweise aus der grundsätzlich vorhandenen Konkurrenz beider Verehrungskulte, deren Praxis am Ort der Marburger Deutschordensniedcrlassung durchaus nicht unpro- blematisch war. Während Maria noch eindeutig der Sphäre des Deutschen Ordens zuzurechnen war, konnte Elisabeth nicht exklusiv die zweite wichtige Patronin des Ordens werden. Da sie zudem ungarische Königstochter, thüringische Landgraf in und Großmutter des ersten hessischen Landgrafen gewesen war, musste sie zu- gleich die Aufgabe einer Hausheiligen dreier mächtiger europäischer Dynastien erfüllen. In gewisser Weise konkurrieren in der Marburger Elisabethkirche über die Verehrungskulte für Maria und Elisabeth zugleich mehrere herrschaftliche Institutionen miteinander, von denen der Deutsche Orden und das hessische Land- grafenhaus die am Ort entscheidenden Instanzen waren. Diese Konkurrenz be- stand prinzipiell von Anfang an, seit dem Jahr 1235, dem Jahr der Heiligspre- chung Elisabeths und der Grundsteinlegung für die Marburger Dcutschordcnskir- che, und erfuhr im Laufe der Jahrhunderte bis zur Reformationszeit noch manchen Wandel. Dennoch, so meine ich, kann man auch anhand der Architektur und der Ausstattung bzw. - konkreter - anhand der künstlerischen Gestaltung des Gebäu- des wie der Ausstattung der Elisabethkirche erkennen, wie sehr diesen verschie- denen politischen Institutionen im hohen und späten Mittelalter trotz aller Konkur- renz daran gelegen war, in den bildlichen Erscheinungsformen eher das Verbin- dende als das Trennende des Marien- und Elisabcthkultes hcrauszustcllen. Wenn die hl. Elisabeth dabei schließlich in die Formen der Marienverehrung integriert wird, ja geradezu als Abbild Mariens erscheint, so kann man, wie es Andreas 10 Siehe hierzu die Literaturangaben in Anm. 8. Die hl. Elisabeth als das Bild einer neuen Maria 285
Köstlcr getan hat11, darin aus heutiger Sicht die Orthodoxicrung und Hieratisie- rung oder gar Verfremdung des ursprünglich volkstümlichen Elisabethbildes er- kennen, doch würde man mit dieser Sichtweise den religiösen, spirituellen Gehalt des Vorgangs nachhaltig verkennen. Abb. 7: Marburg, Elisabethkirche, Grundriss mit Einzeichnung des Vorgängerbaus Der Gedanke der Integration des Elisabethkultes in den Kult der Marienvereh- rung und damit die Subordination der Position Elisabeths unter diejenige Mariens hat bereits den Planungsprozess des Neubaus der Elisabethkirche bestimmt und darf somit als ein Leitgedanke gelten, der vom ersten Augenblick an die Gesamt- gcstaltung der neuen Dcutschordcnskirche in Marburg geprägt hat. Dies belegt in aller Deutlichkeit der Umgang der Baumeister mit dem Vorgängerbau der Elisa- bethkirche (Abb. 7).12 Im nordöstlichen Bereich des Baugeländes der heutigen 11 Kostlrr (wie Anm. 8). 12 Zur Baugeschichte der Elisabethkirche und ihres Vorgängerbaus siehe meine zusainmenfassende Darstellung: Matthias MuiJ.kR. Der zweitürmige Westbau der Marburger Elisabethkirche. Die Vollendung der Grabcskirchc einer „königlichen Frau“. Baugeschichte, Vorbilder, Bedeutung 286 Matthias Müller
Elisabethkirche stand ursprünglich die 1232, ein Jahr nach Elisabeths Tod, von ihrem Beichtvater Konrad von Marburg vollendete erste Grabeskirche. Sie bildete wiederum den Ersatz für die von Elisabeth und ihrem Beichtvater zuvor ab 1228 erbaute Hospitalskapelle, vor deren Hauptaltar Elisabeth nach ihrem frühen Tod zunächst ihre erste Ruhestätte fand. Die von Konrad von Marburg erbaute Grabes- kirche, deren Patrozinium dem von Elisabeth hochverehrten Franz von Assisi galt, wurde nun im Verlauf der Bauarbeiten für die neue, große Deutschordenskirchc restlos abgebrochen. Daraus wollte die Forschung bislang nahezu einhellig schlie- ßen, dass der Deutsche Orden mit dem Abbruch der dem hl. Franziskus geweihten Grabeskirche in besonderer Weise das Gedächtnis an den Armutsheiligen und die auch Elisabeth nachhaltig inspirierende Franziskanerbewegung auslöschen woll- te.13 An die Stelle der schlichten und kleinen ersten Grabeskirche wäre die mäch- tige, der Jungfrau Maria geweihte Deutschordenskirchc getreten und hätte durch ihre Präsenz zugleich nachhaltig die Erinnerung an das Armutsideal sowohl der Franziskaner als auch Elisabeths von Thüringen verdrängt. Wer so denkt, hat nicht ganz unrecht, doch trügt ihn dennoch der erste Augen- schein und verhindert eine historisch angemessene Bewertung des Vorgangs. Eine genaue Analyse des Grundrisses der neuen Elisabethkirche und der Zuordnung der kleinen ersten Grabeskirche Elisabeths zu diesem Neubau vermag denn auch eine überraschende Erkenntnis zu liefern: Die nördliche Langhausmauer und die nörd- liche Konche der Ostpartie der Elisabethkirche wurden in den Baugrund so ein- gemessen, dass wesentliche Bereiche der kleinen Vorgängerkirche in der räumli- chen bzw. architektonischen Disposition des großen Neubaus weiterhin aufgeho- ben bleiben. So befindet sich das Portal im nördlichen Seitenschiff der Elisabeth- kirchc exakt an jener Stelle, an der sich das Eingangsportal in die erste Grabeskir- che Elisabeths befand. Noch deutlicher wird dieses Bemühen um die topographi- sche Integration der alten Verehrungsstätte Elisabeths in der Nordkonchc: Hier verläuft der Radius der Konchenaußenmaucr nicht nur teilweise im Bereich der Außenmauer des Vorgängerbaus, sondern befindet sich die nordwestliche Gewöl- berippe der Konche exakt in jener Position, die im Vorgängerbau der Triumphbo- gen vor der Grabstätte Elisabeths eingenommen hatte. Mit großer arithmetischer und geometrischer Sorgfalt wurde auf diese Weise der zentrale Bereich der Elisa- bcthverchrung in der ersten Grabeskirche in die Nordkonchc der neuen Deutsch- ordenskirche eingemessen. Mit welcher Absicht? Sollte in der geometrisch-arithmetischen Disposition der Nordostpartien der neuen Deutschordenskirchc tatsächlich bewusst die alte Grabeskirche Elisabeths präsent gehalten werden? Oder ging es den Baumeistern nicht doch eher um die Lösung einer bautechnischen bzw. bauorganisatorischen Aufgabe, nämlich die (Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur Bd. 60), Marburg 1997, S. 65-72, sowie - mit kleineren Ergänzungen - Matthias MÜLLER, Die Elisabethkirche in Marburg (Deutscher Kunstverlag-Kunstführer Nr. 296/1, 13., völlig neu bearbeitete Aull.), Bcrlin/München 2001 (überarbeitete englische Ausgabe [DKV An Guide No. 296] Berlin/München 2007). Siehe darüber hinaus die grundsätzlich bedenkenswerten, in ihren inhaltlichen Implikationen vom Verfasser je- doch nicht immer geteilten Überlegungen von Gerd STRICKIIAUSEN, Die Elisabethkirche in Mar- burg - Kirche des Deutschen Ordens, in: Forschungen zu Burgen und Schlössern, Bd. 6 (2001), S. 139-156. 13 Siehe z.B. Kal. 700 Jahre Elisabethkirche in Marburg 1283-1983, Marburg 1983, Bd. 1, sowie KÖSTLER (wie Anm. 8). Die hl. Elisabeth als das Bild einer neuen Maria 287
möglichst lange Schonung des Altbaus während der Neubauarbeiten, um trotz Baustellenbetrieb immer noch die Zugänglichkeit zur Grabstätte der hl. Elisabeth zu ermöglichen? Bei näherer Betrachtung können wir feststellen, dass das Eine das Andere nicht ausschließt und sich beim Neubau der Elisabethkirche der As- pekt der Memoria in logischer Weise mit dem Aspekt guter Bauorganisation er- gänzt. Beide Aspekte, der der Memoria wie der der Bauorganisation, besitzen ihr gemeinsames ideelles, kulturgeschichtliches Fundament in dem Bedürfnis, nicht nur die Reliquien der hl. Elisabeth, sondern zugleich auch den Ort ihres Begräb- nisses, der zugleich auch der Ort der ersten Wunder gewesen ist, in den Neubau zu translozieren. Mit diesem Bedürfnis, mit den eigentlichen Reliquien der Heiligen zugleich auch den architektonischen Ort ihrer Beisetzung und ihrer wundertätigen Wirkkraft ebenfalls wie Reliquien in den Neubau zu überführen, standen die Baumeister der Elisabethkirche und der Deutsche Orden als Auftraggeber in einer jahrhundertealten Tradition, die jedoch erst in jüngster Zeit von der Architektur- forschung in ihrer Tragweite erkannt wird.14 Ob beim Neubau der Abteikirche von St.-Denis, in der die Überreste des Hl. Dionysius verehrt wurden, beim Neubau der Kathedrale von Canterbury, in denen die Gebeine des hl. Thomas Beckett aufbewahrt werden, oder beim Neubau des Veitsdoms in Prag, zu dessen kostbars- ten Reliquien die Gebeine des hl. Wenzel gehören - immer bemühen sich die Baumeister und Bauherren darum, die zentralen, mit dem Reliquienkult verbunde- nen Teile oder Bereiche der altehrwürdigen Vorgängerkirchen in die Neubauten zu integrieren. Während man in St.-Denis oder in Canterbury sogar große Teile der Bausubstanz der Vorgängerbauten - ungeachtet der damit verbundenen tech- nischen Probleme - weiterverwendet, verzichtet man in Prag auf die sichtbare Konservierung alter Bausubstanz, um dafür den seit Jahrhunderten tradierten Ort der Wenzelskapelle beizubehalten und mit einer neuen, von Matthias von Arras und Peter Parier konzipierten Kapelle zu umbauen. Aul ähnliche Weise geht man auch beim Neubau der Elisabethkirche vor. Die alte Grabeskirche verschwindet zwar vollständig, doch dafür markiert das Nord- portal der neuen Elisabethkirche exakt die Stelle des alten Hauptportals und die nordwestliche Gewölberippe ebenso exakt den Ort des alten Triumphbogens vor der Grabstätte der hl. Elisabeth (Abb. 7). Diese Grabstätte (Abb. 8) wiederum bleibt in ihrer Örtlichkeit unverändert15, wird jedoch wegen des um 1,92 Meter höheren Bodenniveaus der neuen Kirche deutlich angehoben.16 14 Siche hierzu Stephan ALBRECHT, Die Inszenierung der Vergangenheit im Mittelalter. Die Klöster von Glastonbury und Saint-Denis (Kunstwissenschaftliche Studien, Bd. 104), München/Berlin 2003; Michael Schmidt, Rcvcrcnlia und Magnificentia. Historizität in der Architektur Süd- deutschlands, Österreichs und Böhmens vom 14. bis 17. Jahrhundert, Regensburg 1999; Matthias MÜLLER, Farbe und Gedächtnis. Zur memorativen Funktion mittelalterlicher Materialästhetik in der Backsteinarchitektur des südlichen Ostseeraums, in: Ernst Badstübncr/Gcrhard Eiiner/Ernst Gicrlich/Matthia.s Müller (Hg.), Licht und Farbe in der mittelalterlichen Backsteinarchitektur des südlichen Ostsceraums (Studien zur Backsteinarchitektur, Bd. 7), Berlin 2005, S. 212-280. 15 Hierauf hat auch bereits Joan A. Holladay hingcwicscn: Dies., Die Elisabethkirche als Begräbnis- stätte. Anfänge, in: Elisabeth, der Deutsche Orden und ihre Kirche. Festschrift zur 700jährigen Wiederkehr der Weihe der Elisabethkirche Marburg 1983, hg. von Udo Arnold/Heinz Licbing (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, Bd. 18), Marburg 1983, S. 325. 16 Friedrich KÜCH, Zur Geschichte der Reliquien der heiligen Elisabeth, in: Zeitschrift für Kirchen- geschichte 45, NF 8 (1926), S. 198-207, hier: S. 199. 288 Matthias Muller
Abb. 8: Marburg, Elisabethkirche, Grabmal der hl. Elisabeth im Nordchor Auch die alte achsiale Ausrichtung der Grabstätte wird in der neuen Kirche beibchalten, um die Authentizität des alten Ortes zu bewahren. Die Achsenaus- richtung folgt dabei nicht so sehr der alten Grabeskirche, in der das Grabmal be- reits aus der Achse gerückt plaziert war, als vielmehr der ersten architektonischen Umhüllung des Elisabethgrabes überhaupt, und das war die noch unter Elisabeth selbst errichtete Kapelle ihres Marburger Hospitals.17 Im Chor dieser Kapelle hatte 17 Zum baulichen Bestand dieses Hospitals und seiner Kapelle siehe K. MESCHEDE, Das Franziskus- Hospital der hl. Elisabeth als Keimzelle des Marburger Deutschhauses, in: Acht Jahrhunderte Deutscher Orden. Festschrift für Marian Turnier (Quellen und Studien zur Geschichte des Deut- schen Ordens, Bd. 1), Marburg 1967, S. 89-120. Zur ablehnenden Diskussion einer anderen, weiter nördlich gelegenen Position der Hospitalskapclle (dann identisch mit der späteren sog. Firmanei- kapelle) siehe Werner, Die Heilige Elisabeth und die Anfänge des Deutschen Ordens in Marburg (wie Anm. 2), S. 131, Anm. 58. Die hl. Elisabeth als das Bild einer neuen Maria 289
Elisabeths Beichtvater, Konrad von Marburg, zunächst die noch nicht kanonisierte Elisabeth nach ihrem Tode bestatten lassen, so dass noch das heutige Grabmal in der Elisabethkirche mit seiner Ausrichtung die ursprüngliche Lage des Chors von Elisabeths Hospitalskapellc reflektiert. Hatte bereits Konrad von Marburg beim Neubau der ersten Grabeskirche Elisabeths18 die Position des künftigen Heiligen- grabes respektiert und dafür eine Abweichung des Grabes von der Achse der neu- en Kirche in Kauf genommen, so achtete auch der Deutsche Orden diese sinnfälli- ge Tradition. Indem er darüber hinaus bei den Planungen in der beschriebenen Weise zusätzlich die Position der von Konrad von Marburg erbauten ersten Gra- beskirchc berücksichtigt, kommt es beim Neubau der Elisabethkirche zu einer doppelten Achsenverschiebung: Einerseits führt die tradierte Positionierung des Elisabcthgrabes in der neuen Kirche zu unschönen Achsen Verschiebungen und andererseits wird auch die Achse der neuen Kirche selbst wesentlich nach Süden verschoben. An das in der Elisabethkirche aufgegebene ursprüngliche Franziskus-Patrozi- nium der ersten Grabeskirche Elisabeths - übrigens das älteste Franziskus-Patrozi- nium nördlich der Alpen - könnte im Übrigen das berühmte und weiter unten noch zu thematisierende Elisabethfenstcr erinnert haben. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit saß dieses Fenster ursprünglich im Nordchor, in unmittelbarer Nähe zum Elisabethgrab, und zeigte dort - wie heute auch - den Betrachtern im abschließenden Rundmedaillon eine Szene, in der der hl. Franziskus von Christus die Krone des Lebens überreicht bekommt.19 Inwieweit darüber hinaus - wie Mo- nika Bicrschenk akribisch nachzuweisen versucht hat20 - sogar Reste der alten Verglasung des Vorgängerbaus in den Neubau übertragen wurden und den Memo- rialwert der Verehrungsstätte der hl. Elisabeth dadurch zusätzlich gesteigert hät- ten, kann hier nicht weiter diskutiert werden. Abb. 9: Köln, St. Maria im Kapitol, Grundriss 18 MliSC'lll’Dli (wie Anm. 17), S. 1061T. 19 Siehe hierzu BlliRSCIIliNK (wie Anm. 4), S. 167. 20 BlliRSCHIiNK (wie Anm. 4), S. 1391T. 290 Matthias Müller
Abb. 10: Bethlehem, Geburtskirche Christi, Grundriss Die bis hierhin beschriebene architektonische Neufassung des zentralen Ge- dächtnisortes an die hl. Elisabeth wird nun in eine Grundrissform (Abb. 7) einge- schrieben, die nach dem Verständnis mittelalterlicher Architekturrezipienten von einer ganz besonderen Zeichenhaftigkeit war.21 Den Grundriss der Marburger Eli- sabethkirche bildet ein dreischiffiges Langhaus, an das im Osten eine mächtige Anlage aus drei kleeblattartig angeordneten Chören, eine sog. Dreikonchenanlage, angefügt wurde. Eine solche Grundrissform zeichnete in der damaligen christli- chen Welt eine Reihe prominenter Marienkirchen aus, darunter auch die Kölner Kirche St. Maria im Kapitol (Abb. 9), deren unmittelbares Vorbild wiederum die Geburtskirche Jesu in Bethlehem (Abb. 10) war. Auch die Geburtskirche Jesu war Maria geweiht und verkörpert bis heute die größte und wichtigste Marienkirche im Heiligen Land. Von daher wird der Deutsche Orden in Marburg kaum zufällig seiner neuen Hauptkirche den markanten Grundriss der berühmten Marienkirche in Bethlehem verliehen haben, sondern vielmehr die Zeichenhaftigkeit der Drei- konchenanlage mit anschließendem Langhaus sehr bewusst als Ausdruck für die Identität des Deutschen Ordens verstanden haben. Als eines während der Kreuz- züge im Heiligen Land gegründeten und unter dem Schutz Mariens stehenden Hospitalorden nahm er das Vorbild der Bethlehemer Geburtskirche sogar so ernst, dass für den Neubau der Elisabethkirche die Grund maße der Geburtskirche Jesu zum Maßstab erhoben wurden.22 Deutlich wird also, dass beim Bau der Marburger Deutschordenskirche nicht nur das Hauptpatrozinium, sondern auch die Grund- form sowie die Grundmaße der Kirche auf Maria als Hauptpatronin des Ordens verweisen. Die Marburger Elisabethkirche ist demnach auch in ihrer äußeren Form eine Marienkirche. Wenn in diese architektonische, auf Maria verweisende Großform nun die Grunddisposition der alten Grabeskirche der hl. Elisabeth ein- geschrieben wird (Abb. 7), dann kommt dieser Vorgang dem symbolischen Akt einer Ummantelung bzw. Umhüllung der Verehrungsstätte Elisabeths durch die 21 Zum Folgenden siehe Friedrich Wachtsmuth, Der Grundriß der Elisabethkirche in Marburg, in: Hessenland, Jg. 41, H. 7, Marburg 1930, S. 201-206 (Wachtsmuth klugen Beobachtungen wider- sprach - allerdings nicht überzeugend - Werner MEYER-BARKHAUSEN, Zum Grundrißproblem der Marburger Elisabethkirche, in: Hesscnland, Jg. 41, 1930, H. 12, S. 367-371); Leonhard HELTEN, Der Grundriß der Elisabethkirche in Marburg, in: Hessische Heimat, NF, 35. Jg., 1985, Heft 4, S. 175-182; MÜLLER (wie Anm. 12); Marlin KITSCHENBERG, Die Kleeblattanlagc von St. Maria im Kapitol zu Köln (36. Veröff. d. Abt. Architektur d. Kunsthist. Inst. d. Univ, zu Köln), Köln 1990. 22 WACHTSMUTH (wie Anm. 21). Die hl. Elisabeth als das Bild einer neuen Maria 291
neue Marienkirche gleich. Da nach mittelalterlichem Verständnis in der Zeichen- haftigkeit der architektonischen Form eines traditionsreichen religiösen Ortes immer auch die Traditionskraft des Ortes lebendig gehalten wird23, bedeutet die Ummantelung der Grabesstätte Elisabeths durch die Grundrissform der bedeu- tendsten Marienkirche des Heiligen Landes in letzter Konsequenz, dass die Hauptpatronin des Deutschen Ordens, Maria, die neue Dcutschordenspatronin Eli- sabeth in ihren ,Schutzmantel‘ gehüllt hat. Im Medium der Architektur und ihrer spezifischen Bildsprache wird so die alte Wirkens- und Grabesstätte der hl. Elisa- beth überformt und auf der symbolischen Ebene mit dem weit entfernt im Heiligen Land liegenden Ort der Geburtskirche Jesu und der dort praktizierten Marienve- rehrung verbunden. Wir sollten diesen im Medium der Architektur vollzogenen Vorgang einer Verknüpfung verschiedener Kulttraditionen und Kultorte - hier derjenige Elisa- beths, dort derjenige Mariens - als Teil eines größeren, übergreifenden Themas verstehen. Gegenstand dieses Themas ist die Definition der Position Elisabeths als zweiter Patronin des Deutschen Ordens im Verhältnis zur Position Mariens als Hauptpatronin.24 Die Architektur der Marburger Elisabethkirche sollte hierbei den äußeren Rahmen - oder besser gesagt: die äußere, körperliche Hülle - bilden, in deren räumlichen Grenzen sich die Topographie der locci sancta, der heiligen Memorialstätten, entfalten konnte. Die Metapher der körperlichen Hülle für das Kirchengebäude ist übrigens kein kunsthistorischer Terminus, sondern ein Begriff aus der mittelalterlichen Architekturexegese. So verwendet Abt Suger von St.- Denis die Bezeichnung „corpus ecclesiae“, um das Gebäude seiner altehrwürdigen Abteikirche sowohl als materiellen Leib der Gemeinde Christi als auch als mate- riellen Leib für die im Kirchengebäude aufbewahrten Reliquien der Heiligen zu charakterisieren.25 Darüber hinaus bildet das Kirchengebäude für Abt Suger auch den Leib der Abtei von St.-Denis als einer kirchlichen Institution, deren Geschich- te sich in den Spuren der baulichen Veränderungen und Überformungen wie an einem gealterten Körper ablcsen lassen.26 Doch nicht nur die Alterungsspuren lassen den Baukörper einer Kirche zum Spiegel ihrer Geschichte als Teil der über- greifenden Hcilsgeschichtc werden, sondern auch die konkrete architektonische Form des Baukörpers ,erzählt4 auf bildhafte Weise von der Geschichte des heili- gen Ortes, den das Kirchengebäude umhüllt. In Marburg, am Ort der Grabstätte der hl. Elisabeth, erzählt die Architektur der neuen Deutschordenskirchc die Ge- 23 Beispiele hierfür wären die oben genannten Kirchen von St.-Denis, Canterbury oder Prag. Dieses allgemeingültige Denkinodell und seine architektonischen Konsequenzen wird derzeit in einem größeren Forschungsprojekl des Verfassers im Forschungsschwerpunkt „Historische Kulturwis- senschaften“ der Universität Mainz untersucht. In diesem Rahmen befasst sich auch die beim Ver- fasser entstehende Dissertation von Dipl.-Ing. Hauke Horn (Mainz) mit der Bedeutung der „Tradi- tio loci“ in der mittelalterlichen Sakralarchitektur und ihrer Ausstattung. 24 Mit diesen und den nachfolgenden Überlegungen zum Grundkonzept von Architektur und Ausstat- tung der Marburger Elisabethkirche werden im übrigen aus kunsthistorischer Perspektive recht gut die bereits vor vielen Jahren von Matthias WERNER (wie Anm. 2) gezogenen historischen Schluss- folgerungen gestützt, nach denen es nicht zuletzt in Marburg vornehmliches Anliegen des Deut- schen Ordens war, die Bedeutung von Elisabeth als der neben Maria zweiten Patronin des Deut- schen Ordens zu definieren. 25 Abt Suger, De administralione, Z. 22, Z. 733 (in der Ausgabe von Andreas SPEER/Günthcr BlNDING, Abt Suger von Saint-Denis, Darmstadt 2000, S. 258, S. 320). 26 Hierzu ausführlich ALBRECHT (wie Anm. 14). 292 Matthias Müller
schichte von der Übernahme des Elisabethkultes durch den Deutschen Orden und die Verortung der neuen Ordensheiligen im religiösen Kosmos des Deutschen Ordens auf der einen und des thüringischen und hessischen Landgrafenhauses auf der anderen Seite. Abb. 11: Marburg, Elisabethkirche, Elisabeth- fenster im Ostchor Die hl. Elisabeth als das Bild einer neuen Maria 293
Diese von der Architektur vorgegebene Rahmenhandlung einer Geschichte, in deren Verlauf die hl. Elisabeth einerseits immer stärker an Maria angenähert wird, andererseits aber auch zunehmend ihre Integrationskraft für den Ausgleich der politischen Interessen des Deutschen Ordens und des thüringischen bzw. hessi- schen Landgrafenhauses unter Beweis stellen musste, findet ihre Fortsetzung nun in der Ausstattung der Elisabethkirche. Aus der Vielzahl der Ausstattungsstücke greife ich hier nur vier heraus: das Elisabethfenster, den Reliquienschrein, den Hochaltar und das Grabmal. Wenden wir uns zunächst dem Elisabethfenster (Abb. 11) zu. Es befindet sich heute im Ostchor der Elisabethkirche, doch ist mit hoher Wahrscheinlichkeit als sein ursprünglicher Ort der Nordchor zu rekonstruieren, in dem sich auch das Grabmal Elisabeths befindet.27 Das kostbare, um 1240 entstandene Fenster besitzt die Form eines Doppelllanzettfensters mit bekrönendem Rundpass. In diese Struk- tur wurden nun zwei Bahnen mit Medaillonbildern eingepasst, die von dem gro- ßen Glasbild des Rundpasses überlangen werden.Sie stellen - in Anlehnung an die traditionellen Darstellungsschcmata mittelalterlicher Typologie - den Szenen aus dem Leben Elisabeths jeweils eine Szene gegenüber, in denen Elisabeth - nun- mehr auch durch einen Nimbus ausgezeichnet - als personifizierte Caritas die sechs Werke der Barmherzigkeit ausführt.28 Immer schon hat die Forschung irri- tiert, dass sich in der rechten Bahn der Medaillonbilder außer den Szenen aus der Vita der hl. Elisabeth auch eine Szene aus dem Leben Mariens befindet. Diese Szene sitzt ganz unten in der rechten Bahn (Abb. 12) und markiert damit merk- würdigerweise auch noch den Anfang der Erzählung des Glasfensters. Für eine Erklärung dieser Merkwürdigkeit wurden verschiedene Lösungsansätze vorge- schlagen, deren gemeinsamer Grundtenor die Annahme bildet, dass es sich bei dem Marienbild um eine nachträgliche Zutat handeln müsse. Die Marienscheibe sei erst nachträglich in das Elisabethfenster eingefügt worden, könne aus einem verloren gegangenen Christusfenster stammen und ersetze wiederum eine eben- falls verloren gegangene Szene des Elisabethfensters.29 Die Meinung, dass die Marienscheibe aus einem anderen Kontext stammt, ist durchaus nachvollziehbar. Denn bei näherem Hinsehen handelt es sich bei dieser Scheibe um ein opus mix- tum, eine Zusammenfügung unterschiedlicher Teile, deren Hauptelement ein run- des, auch stilistisch abweichendes Glasbild mit der Geburt Christi bildet. Dieser komposite Charakter der Marienscheibe ist innerhalb des ansonsten vollkommen einheitlich gestalteten Elisabethfensters in der Tat einzigartig und kann nur da- durch erklärt werden, dass ein bereits vorhandenes, wenig älteres Glasbild mit der Geburt Christi in das neue Elisabethfenster eingesetzt wurde. Woher das ältere 27 Zur Rekonstruktion des Anbringungsorles und zur kunsthistorischen Einordnung siehe BlER- SCIIENK (wie Anm. 4), S. 1671’., S. 182ff. 28 Auf die typologische Strukturierung hat erstmals Rüdiger Becksmann hingewiesen: DERS., Raum, Licht und Barbe, in: Die Zeit der Staufer, Ausst.-Kat., Stuttgart 1977, Bd. V, S. 126. In Erweite- rung von Becksmann Sichtweise schlägt Wolfgang Kemp vor, die bildlich-narrative Struktur des Elisabethfensters als „binnentypologisch“ zu bezeichnen: „Zwei Stränge ein und derselben historia werden parallelisiert, ohne im einzelnen horizontal verknüpft zu werden; die Besonderheit dieser Kombination besieht darin, daß einer der beiden Stränge [d.i. der Strang mit den Werken der Barmherzigkeit, Anm. M.M.] schon in sich typologisch motiviert ist“ (Wolfgang KEMP, Sermo corporeus. Die Erzählung der mittelalterlichen Glasfcnster, München 1987, S. 109). 29 BlERSCIIENK (wie Anm. 4), S. 168f„ S. 195f. 294 Matthias Müller
Marienglasbild stammt und wann es eingefügt wurde, kann hier nicht weiter dis- kutiert werden. Entscheidend ist der - zeitlich noch ungeklärte - Vorgang der Translatio eines älteren Marienbildes in das neue Fenster mit der Vita der hl. Eli- sabeth. Ich möchte Vorschlägen, diesen Vorgang ähnlich zu bewerten, wie dies bei der Architektur beobachtet werden konnte, wo die kleine Grabeskirche der hl. Elisabeth in die große Marienkirche des Deutschen Ordens integriert wurde. Beim Fenster geschieht es nun aber in umgekehrter Richtung: eine Marienscheibc wird - bereits im Mittelalter oder erst in der Frühen Neuzeit? - in das neue, große Eli- sabethfenster eingefügt. Abb. 13: Marburg, Elisa- bethkirche, Elisabeth- fenster, Abschließendes Rundmedaillon, siehe Farbtafel 22 Abb. 14: Marburg, Elisa- bethkirche, Elisabeth- fenster, Sterbeszene Elisa- beths,siehe Farbtafel 23 Die hl. Elisabeth als das Bild einer neuen Maria 295
Doch in Wirklichkeit handelt es sich auch hier um die Einfügung der hl. Elisa- beth in die kosmische Welt der Himmelskönigin Maria. So vermag die genaue Analyse der Erzählstruktur des Elisabethfensters zu zeigen, dass die Marienschei- be bei ihrer Transferierung auch inhaltlich mit viel Bedacht an den Anfang der Medaillonabfolge gesetzt wurde.30 Ihre wesentliche neue Aufgabe ist die Einbet- tung der Vita Elisabeths in die eschatologischc Funktion Mariens als tabernacu- lum Dei und Regina Coeli, d.h. als Körper für die Inkarnation Gottes und als Kö- nigin des Himmels und Fürsprecherin der Menschen beim Jüngsten Gericht. Die- ser Aspekt des Elisabethfensters wird geradezu sinnbildlich in dem großen, ab- schließenden Rundfenstcr (Abb. 13) oberhalb der Lanzettbahnen sichtbar: Dort kniet Elisabeth unterhalb der bekrönten Maria, die ihr als Gnadenerweis die Krone des ewigen Lebens aufs Haupt setzt. Als Pendant dieser Szene fungiert links da- von die Krönung des hl. Franziskus - des wichtigsten Vorbildes Elisabeths in ihrer Armenfürsorge - durch Christus. Das Wirken Elisabeths auf Erden wie im Him- mel wird im Elisabethfenster somit in theologischer Perspektive als Similitudo Mariae, als Verähnlichung Elisabeths nach dem Vorbild Mariens definiert und damit das bereits mehr oder weniger etablierte Bild von Franziskus als alter Chris- tus um das weibliche Gegenbild der hl. Elisabeth als altera Maria ergänzt. Beson- ders deutlich tritt dieser Gedanke in einer weiteren Bildklammer zu Tage, die nun ausschließlich die rechte Lanzettbahn betrifft und sich aus der Marienscheibe mit der Geburt Christi (Abb. 12) und der obersten Scheibe der rechten Lanzettbahn mit dem Tod Elisabeths (Abb. 14) ergibt. Allein schon der kompositorische Entwurf beider Szenen, die beide Male eine Liegefigur auf einem Bett zeigen, signalisiert das korrespondierende Verhältnis zwischen der Szene von Christi Geburt und dem Tod der Elisabeth. Elisabeth erscheint dabei nicht nur als Typus der Gottesmutter Maria, sondern wird im Me- dium der beiden miteinander korrespondierenden Glasbilder zugleich auch als Sterbende charakterisiert, deren früher Tod in der Nachfolge Christi steht. Als besondere Pointe der Marienscheibe darf dabei die Gestaltung der Krippe Jesu gelten: Sie wurde bei näherem Hinsehen als Kirchengebäude geformt, dessen Struktur eine mehrschiffige Basilika abbildct. Wir müssen nicht spekulieren, um in diesem Kirchengebäude die konstantinischc Geburtsbasilika Jesu in Bethlehem zu erkennen,31 die ja, wie wir wissen, die bedeutendste Marienkirche im Heiligen Land war. Mit dieser erst auf den zweiten Blick zu erkennenden bildnerischen Form wird damit gleich zu Beginn des Elisabethfensters nicht nur Maria allge- mein, sondern in besonderer Weise Maria als Patronin des Deutschen Ordens ins Bild gesetzt und in dieser Funktion auch zur Schutzpatronin der hl. Elisabeth er- klärt. Die Schutzfunktion des Deutschen Ordens gegenüber dem hcilsgeschichtli- chcn Erbe Elisabeths von Thüringen kommt überdies in jener Szene des Fensters zum Ausdruck, in dem - entgegen der historischen Wirklichkeit - zwei Deutsch- ordensritter der thüringischen Landgräfin Elisabeth die sterblichen Überreste ihres während des Kreuzzugs verstorbenen Gemahls überbringen (Abb. 15). 30 Diese Besonderheit übersieht auch KEMP (wie Anm. 28) bei der kurzen Besprechung des Elisa- bethfensters im Rahmen seiner grundlegenden Studie zur Erzähl weise mittelalterlicher Glasfens- ter. 31 Diese Identifizierung hat auch schon HELTEN (wie Anm. 21), vorgeschlagen. 296 Matthias Müller
Abb. 15: Marburg, Elisa- bethkirche, Elisabeth- fenster, Überbringung der Nachricht vom Tode des Gemahls Elisabeths Abb. 16: Marburg, Elisa- bethkirche, Reliquien- schrein der hl. Elisabeth In der Funktion einer Schutzpatronin für Elisabeth erscheint Maria auch im Bildprogramm des Rcliquienschreins der hl. Elisabeth (Abb. 16), dessen Anferti- gung in einer rheinischen Goldschmiedcwerkstatt - vielleicht sogar dieselbe, die den Aachener Marienschrein fabrizierte - parallel zur Herstellung des Elisabeth- fcnsters erfolgte.32 Spätestens 1249 waren die aufwendigen Treibarbeiten des Schreines aus vergoldeten Silber- und Kupferblechen vollendet. Auf den Dach- schrägen des hausartigen, das Himmlische Jerusalem symbolisierenden Schreines blicken wir auf einzeln gerahmte Szenen, die teilweise bis in die Details der Kom- position den Medaillonschciben des Elisabethfenstcrs entsprechen. Wie im Fenster 32 Zur kunsthistorischen Bedeutung des Elisabethschreins siehe immer noch grundlegend Elisabeth D1NKLER-VON SCHUBERT, Der Schrein der hl. Elisabeth zu Marburg. Studien zur Schrein- Ikonographie, Marburg 1964. Die hl. Elisabeth als das Bild einer neuen Maria 297
beginnt auch beim Schrein die Bildfolge der eigentlichen Elisabeth-Vita mit dem Kreuzzugsgelübde von Elisabeths Gemahl Ludwig IV. von Thüringen und der von Deutschordensrittern überbrachten Nachricht von seinem Tod. Auf diese Weise ergibt sich ein hochkomplexer theologischer und politischer Sinngehalt, der das unterschiedliche Handeln des thüringischen Fürstenpaares als dennoch gemeinsa- men heilsgeschichtlichen Weg in der Nachfolge Christi interpretiert.33 Dem Deut- schen Orden wäre in der Aussage der Schreinreliefs aber die Aufgabe zugekom- men, als legitimer Erbe und Bewahrer der Elisabethreliquien für die angemessene Pflege dieses religiös-politischen Vermächtnisses zu sorgen. Dass hier die Sphäre des Religiösen unverkennbar aber aus der Perspektive des Deutschen Ordens auch unauflösbar mit der Sphäre der Politik vermischt wird, ist unübersehbar. Denn mit der Übertragung des Hospitals der hl. Elisabeth auf den Deutschen Orden und mit dem Auftrag der Familie Elisabeths und des staufischcn Kaiserhauses, die Memo- ria der neuen Heiligen in Marburg auszuüben, erfuhr der Deutsche Orden eine herausragende Aufwertung seiner politischen wie geistlichen Macht. Mit der Heil- tumskraft der Hl. Elisabeth erhält der Deutsche Orden zusätzlich zum eschatolo- gisch gewichtigen Patronat der Gottesmutter Maria eine kaum zu überschätzende Stärkung seines spirituellen Fundamentes.34 Abb. 17: Elisabethkirche, Reliquienschrein der hl. Elisabeth, Standfigur Elisabeths an der Giebelseite 33 Zum komplexen theologischen Programm siehe DINK1.ER-VON SCHUBERT (wie Anm. 32), S. 84- 104. 34 Siehe hierzu auch WERNER (wie Anm. 2), sowie Arnold (wie Anm. 5). 298 Matthias Müller
Abb. 18: Köln- Deutz, St. Heribert- Kirche, Reliquien- schrein des hl. Heribert Im Bildprogramm des Elisabethschreins kommt dieser Aspekt noch an anderer Stelle zum Ausdruck. Denn stärker noch als im Elisabethfenster wird im Bildpro- gramm des Reliquienschreines die hl. Elisabeth sowohl in ihrer imitatio Christi bzw. Christoformitas, d.h. der Annäherung an die Gestalt Christi, als auch ihrer Sünilitudo Mariae, d.h. der Annäherung an die Gestalt Mariens, dargestellt. In dieses Konzept gehören sowohl die Schlussszene auf den Dachschrägen, in der Elisabeth nach dem Vorbild Christi den Hilfsbedürftigen die Füße wäscht, als auch die Figuren an den Stirn- und Längsseiten: Sie präsentieren Elisabeth als stehende, auf die Heilige Schrift hinweisende Heilige (Abb. 17), die der thronen- den und zugleich segnenden Muttergottes gegenübergestellt wird, sowie die zwölf thronenden Apostel entlang der Seitenwände. In der Mitte der Apostclreihe befan- den sich ursprünglich zwei Christusdarstellungen: auf der einen Seile der Gekreu- zigte (seit 1806 verloren) und auf der anderen Seite der segnende Weltcnherrscher, der glücklicherweise bis heute in situ erhalten geblieben ist. Die Notwendigkeit, die stehende Elisabethfigur in Gedanken sowohl der thronenden Maria als auch dem einerseits am Kreuz und andererseits auf dem Thron des Wcltenherrschers gezeigten Christus gegenüberzustellen, ergibt sich aus der ikonographischen Tra- dition, in die das Bildkonzept des Marburger Elisabethschreins hincingcstellt wurde. Nach denkbaren anderen Vorbildern finden wir es in dieser pointierten Form erstmals am berühmten, zwischen 1160 und 1170 angefertigten Schrein für den hl. Heribert (Abb. 18) in der Heribert-Kirche von Köln-Deutz ausgeführt.35 An diesem Schrein wird der 1147 heiliggesprochene Kölner Erzbischof und Kanz- ler Ottos III., Heribert, als thronender Bischof in der Nachfolge der an den Längs- seiten thronenden Apostel präsentiert, der sich zugleich dem Segen der auf der gegenüberliegenden Schmalseite erscheinenden thronenden Maria mit Christus- 35 Zur Ikonographie des Heribert-Schreins siehe zuletzt Susanne WITTEKIND. Heiligenviten und Reliquienschmuck im 12. Jahrhundert. Eine Studie zum Deulzer Heribertschrein, in: Wallraf- Richartz-Jahrbuch, 59 (1998), S. 7-28. Die hl. Elisabeth als das Bild einer neuen Maria 299
kind unterwirft. In einer vergleichbaren Konstellation wird auch die Gestalt des heiliggesprochenen Karls des Großen am Aachener Karlsschrein (1190-1215) (Abb. 19) präsentiert.36 Auch hier müssen wir die beiden Schmalseiten des Schreines als aufeinanderbezogene Gegenüberstellungen der dort angebrachten Figuren auffassen und mit Hilfe unserer Vorstellungskraft das narrative Konzept der oppositionell gedachten Giebelschmalseiten zur Entfaltung bringen. Abb. 19: Aachen, Dom, Karls- schrein, Giebel- seite mit Figur Karls des Großen Beim Marburger Schrein steht Elisabeth als Heilige somit vor dem Thron der Gottesmutter Maria und des Weltenherrschers Christus. Noch in der Mitte des 14. Jahrhunderts sollte an dieses programmatische Konzept, bei dem Elisabeths Le- bensweg als imitatio Christi und als Similitudo Mariae interpretiert wurde, ange- knüpft werden und in einer klugen bildlichen Synthese nicht nur Maria, sondern auch Elisabeth als Schutzpatronin des Deutschen Ordens zur Darstellung gelan- gen. Diese bildliche Synthese, die zugleich die verschiedenen Stränge der Marien- und Elisabethverehrung innerhalb des räumlichen Kontextes der Elisabethkirche zusammenführt, ereignete sich am Grabmal der hl. Elisabeth (Abb. 8) im Nord- chor. Dort wurde - so verrät der stilistische Befund - um 1350 ein Relief an der Grabtumba angebracht, dessen Szenerie nach dem strengen Ordnungsmuster von Altarantependien oder Retabeln gestaltet wurde: Das Relief (Abb. 20) zeigt uns nach dem Muster des Marientodes die Aufnahme der sterbenden Elisabeth in den Himmel und den Empfang ihrer Seele durch Christus und Maria. Ihnen assistiert eine Reihe von Heiligen sowie - unmittelbar neben Maria als Schutzpatronin stehend - ein Hochmeister des Deutschen Ordens. Seine auf Elisabeths Totenbett angebrachte Titulatur weist ihn als Landgraf Konrad von Thüringen und Gründer des Marburger Dcutschordenshauses aus. Offenkundig handelt es sich hier um ein Stifterbild für die Memoria des 1240 verstorbenen Schwagers der Heiligen, in des- 36 Zum liturgisch-zeremoniellen Kontext des Bildprogramms des Aachener Karls- und auch Marien- schreins siehe Lisa Victoria Ciresi, Of Offerings and Kings. The Shrine of the Three Kings in Co- logne and the Aachen Karlsschrein and Marienschrein in Coronalion Ritual, in: Bruno REUDEN- BACII/Gia Toussaint (Hrsg.), Reliquiare im Mittelalter, Berlin 2005, S. 165-185. 300 Matthias Müller
sen Person sich das Bündnis des thüringischen und seit 1248 bzw. 1264 hessi- schen Landgrafenhauses mit dem Deutschen Orden manifestierte. Auf die dynasti- schen, memorialen Aspekte der Reliefdarstellung weisen im Übrigen auch das ungarische und das thüringische bzw. hessische Wappen hin: Sie prangen an der Vorderseite von Elisabeths Totenbett, zu dessen Füßen die Abbilder notleidender, um Hilfe flehender Menschen die Bedürfnisse der Pilger widerspiegeln. Abb. 20: Marburg, Elisabethkirche, Relief an der Grabtumba der hl. Elisabeth Vieles spricht dafür, in diesem Bildwerk eine gemeinsame Stiftung von herr- schaftlichen Elisabethpilgern zu sehen, die 1357 aus Böhmen und Ungarn kom- mend, die Marburger Elisabethkirche besuchten. Bei den Pilgern handelte es sich um Kaiser Karl IV. und die ungarische Königinmutter Elisabeth, die mit ihrem Gefolge zu einigen herausragenden Pilgerstätten im Reich reisten.37 Bei ihrem Besuch in Marburg stand aber nicht nur - wie Peter Wörster darlegen konnte - die religiöse Verehrung der hl. Elisabeth auf dem Programm, sondern auch die Er- neuerung bzw. Bekräftigung des politischen Bündnisses zwischen dem Kaiserhaus unter Karl. IV. und dem Deutschen Orden. Dieses seit der Gründungszeit des Ordens bestehende Bündnis manifestiert sich in besonderer Weise nun zum einen in der Gestalt des Hochmeisters und Landgrafen Konrads von Thüringen und zum anderen in der Gestalt der hl. Elisabeth selbst. Während Konrad von Thüringen als „Freund“ Kaiser Friedrichs II. galt, bezeichnete Kaiser Friedrich II. höchstpersön- lich in einer Rede am Grab der hl. Elisabeth von Thüringen diese als Schutzheilige des Kaiserhauses.38 An diese unvergessene Tradition hätten nun Kaiser Karl IV. und der Deutsche Orden angeknüpft, wenn sic an Elisabeths Grabtumba ein Relief anbringen ließen, auf dem Elisabeth im Augenblick ihres Todes begleitet wird durch ihren Schwager, Konrad von Thüringen, und Maria. Auf geschickte Weise 37 Zum möglichen Zusammenhang mit dem Besuch Kaiser Karls IV. und der ungarischen Königin- mutter siehe Peter WÖRSTER, Überlegungen zur Pilgerfahrt Kaiser Karls IV. nach Marburg 1357, in: Kat. 700 Jahre Elisabethkirche in Marburg 1283-1983, Bd. 7: St. Elisabeth - Kult, Kirche, Konfessionen, Marburg 1983, S. 27-34. 38 Klaus J. Heimisch, Kaiser Friedrich II. in Briefen und Berichten seiner Zeil, Darmstadt 1968, S. 297f.
wird Maria in dieser Szenerie derart positioniert, dass sie gemeinsam mit der Ge- stalt Christi die Mitte des Reliefs markiert. Die geometrische, eigentliche Mitte bleibt dabei unbesetzt, da die Mittelachse exakt zwischen Christus und Maria hindurch verläuft. Mit dieser Komposition ist es dem Deutschen Orden effektvoll gelungen, Maria als seine Hauptpatronin zusammen mit Christus als Hauptakteu- rin des Geschehens der Aufnahme Elisabeths in den Himmel in Szene zu setzen und das Sterben Elisabeths als eines auf Christus und Maria hin ausgerichteten Vorgangs zu thematisieren. Im Medium dieses Bildreliefs formuliert der Deutsche Orden im späten Mittelalter nochmals prononciert seinen Anspruch, dass die Wirksamkeit der Hciltumskraft Elisabeths von Thüringen von der Fürsprache Mariens und die Verwaltung dieses Heiltums von der Institution des Deutschen Ordens abhängig sein sollten. 302 Matthias M
Die Neumark als Teil der „Terra sanctae Mariae“ Überlegungen zu künstlerischen Wechelwirkungen Peter Knüvener Einleitung Im Jahr 1402 erwarb der Deutsche Orden einen Landstrich von Markgraf Si- gismund, dem Sohn Karls IV., über den er über ein halbes Jahrhundert verfügen sollte. Es handelt sich um die Neumark, oder die Terra Transoderana, also die östlich der Oder gelegenen Gebiete der Mark Brandenburg.1 Die Neumark ist ein langgestrecktes, weit in den Norden hinaufreichendes und pfeilartig in Pommern hineinstoßendes Gebiet, das in seiner Gestalt ein Ergebnis der Expansion Bran- denburgs unter den Askaniern darstellt. Dabei ging es u. a. darum, die Verbindung des märkischen Kernlandcs zur See herzustellen. Der Markgraf verfolgte vorüber- gehend sogar das Ziel, den Einflussbereich bis nach Danzig auszuweiten. Diesen Ambitionen schob der Hochmeister des Deutschen Ordens, der sich durch die heranwachsende Territorial macht des Binnenlandes bedroht sah, aber verständli- cherweise einen Riegel vor. Zu den wichtigsten Städten der nördlichen Neumark gehörten Chojna/Königsberg, Gorzöw Wielkopolski/Landsberg (Warthe), Chosz- czno/Arnswalde, Drawsko Pomorskie/Dramburg und Swidwin/Schivelbein; z.T. waren es landesherrliche Gründungen. Die Städte waren besonders im Spätmittclalter wohlhabend - in die Zeit der Übernahme fällt beispielsweise die Blütezeit Königsbergs mit dem monumentalen Neubau der Marienkirche, der bekanntermaßen von Hinrik Brunsberg aus Stettin bewerkstelligt wurde.2 Der Deutsche Orden erwarb also kein verarmtes Territo- rium mit notleidenden Städten. Dennoch unterschied sich die Neumark im Aulbau und im Stand der Entwicklung ganz deutlich vom Ordensland - eine Tatsache, die der Orden unterschätzte und die dazu führte, dass er wohl nie richtig Fuß lassen konnte. Im Vergleich zu den Städten des Ordenslandes hatten die neumärkischen Städte zahlreiche Privilegien vom Landesherrn erworben und einen gewissen Grad an Freiheit erreicht. Dieser Prozess geht auf das 14. Jahrhundert zurück, als nach dem Tod des letzten Markgrafen aus askanischem Haus 1320 ein Machtvakuum entstand, das durch die wittclsbachischcn Markgrafen nur ungenügend aufgefan- gen wurde. In diese Zeit fällt der Verkauf zahlreicher Privilegien an die Städte. Zwar hat Kaiser Karl IV., der als Markgraf folgte, versucht, dieser Erosion der landesherrlichen Macht Einhalt zu gebieten und das Land neu zu ordnen, doch war seine fünfjährige Regierungszeit 1373-1378 letztlich zu kurz, um dauerhaft Erfolg zu haben. Unter der nachfolgenden Herrschaft zunächst unter Johann von Görlitz, der die Neumark erbte, und dann unter Sigismund kehrten die chaotischen Zustän- 1 Allerdings erwarb der Orden nur den nördlichen Teil des Gebietes, das sich südlich anschließende Land Sternberg blieb märkisch. 2 Ernst BäDSTÜBNLR, Berlin und Königsberg in der Neumark - Stationen des Heinrich Brunsberg, in: Ernst Badstübner und Dirk Schumann (Hg.), Hallenumgangschöre in der Mark Brandenburg (= Studien zur Backsteinarchiteklur 1), Berlin 2000, S. 276-306. Die Neumark als Teil der „Terra sanctae Mariae“ 303
de des 14. Jahrhunderts schnell zurück. Dies dürfte auch dem Deutschen Orden nicht verborgen geblieben sein, was die Frage aufwirft, warum er das Land für die nicht unbeträchtliche Summe von 63.000 ungarischen Gulden kaufte. Möglicherweise war einer der Gründe die keilartig vorgeschobene Lage der Neu- mark, die dem Deutschen Orden, der eine Landbrücke zum Reich herzustellen suchte, entgegenkam. Unter diesem Gesichtspunkt, der von den Historikern immer wieder hervorgehoben wird, spielt also der Landerwerb an sich nur eine unter- geordnete Rolle, was das Vorgehen des Ordens auch zu bestätigen scheint. Ande- rerseits musste der Orden verhindern, dass die Neumark möglicherweise von an- deren konkurrierenden Mächten der Region - etwa von Polen - erworben wurde. Der Deutsche Orden begann nach dem Erwerb des Landes schnell mit der Konso- lidierung der Landesherrschaft und stieß dabei auf den Widerstand der Städte. Sichtbares Zeichen war die Errichtung von zwei Ordensschlössern in Arnswalde und Landsberg, was jedoch erst am Ende der Herrschaft geschah, nämlich ab 1445 in Arnswalde und in Landsberg etwas früher. Andere, zum Teil ältere Burgen gab es in Driesen, Küstrin und Schivclbein. Über das Aussehen der neu errichteten Anlagen ist wenig bekannt, jedoch geht die Forschung davon aus, dass sie eher den Charakter von Verwaltungssitzen und Kontrollburgen hatten.3 In Arnswalde wurde die Burg im Hinblick auf die aufsässige Bevölkerung errichtet. Sic wurde nach dem Verkauf der Mark 1455 von dieser auch schnellstmöglich abgerissen. Die Landsberger Burg diente vor allem zum Schutz vor Polen, wobei sie als Reak- tion auf den Hussitencinfall 1433 verstanden wird, auf den noch zurückzukommen sein wird. Zu fragen wäre, ob es sich bei diesen Burgen um repräsentative Anla- gen wie im Ordcnsland gehandelt hat. Da cs scheinbar keinerlei Quellen zum Aussehen der Bauwerke gibt, wird hierauf wohl keine Antwort gegeben werden können. Wir wissen nicht einmal, ob cs auf diesen Burgen Kapellen gegeben hat, womit ja die grundsätzliche Frage angesprochen wird, ob der Orden in der Neu- mark auch als geistlicher Orden spirituell aktiv wurde. Hierzu ist zu bemerken, dass trotz der Errichtung der besagten Ordensschlösser keine Komtureicn oder Kommenden eingerichtet wurden. Die Neumark wurde durch einen Vogt verwal- tet, der über Mannschaften aus Söldnern verfügte. Auf den Ordensschlössern residierten Hauptleute. Diese waren, wie der Vogt selbst, entsendete Ordensbrü- der. Im Übrigen scheint der Posten des Vogtes in der Neumark nicht sehr beliebt gewesen zu sein, denn mehrfach ist davon die Rede, dass die vom Hochmeister ausgesuchten Ordensbrüder gegen die Versetzung Protest erhoben. Die Neumark scheint also aufgrund dieser Befunde eher den Charakter eines ungeliebten Au- ßenpostens innegehabt zu haben, der ausschließlich aus strategischen Gründen unterhalten wurde. Seit der Dissertation Karl Heidenreichs von 1932, die sich mit dem Deutschen Orden in der Neumark beschäftigte, tritt das Nebeneinander, nicht das Miteinander beider Landschaften deutlich vor Augen, das sich auch im Ver- hältnis der Städte der Neumark und des Ordenslandcs zueinander zeigt, die in den fünf Jahrzehnten gemeinsamer Landesherrschaft offenbar keine engeren Bezie- hungen knüpften.4 3 Für Hinweise hierzu bin ich Dr. Christian Gahlbeck zu Dank verpflichtet. 4 Karl IlElDENREK’l 1. Der Deutsche Orden in der Neumark 1402-1455, Diss. Königsberg 1932. 304 Peter Kniivener
Jedoch kann man sich insgesamt des Eindrucks nicht erwehren, dass dieses Geschichtsbild auch zu einem guten Teil von der Rückschau geprägt ist, die be- reits vom Rückfall der Neumark an die Mark Brandenburg und vom Episodenhaf- ten der Ordensherrschaft ausgeht. Hätte sich die Gesamtsituation für den Orden im 15. Jahrhundert günstiger entwickelt, hätte alles ganz anders kommen können. Dass der Orden durchaus mehr mit der Neumark vorgehabt haben könnte, lässt sich in geringen Ansätzen erahnen. Die Karthause zu Schivelbein Ein eindrucksvolles und auf Dauer angelegtes Projekt war die Gründung des Karthäuserklosters „Gottesfriede“ bei Schivelbein, das der Hochmeister des Deut- schen Ordens Konrad von Erlichhausen 1441 in seinen Schutz nahm.5 Er stiftete die Grundausstattung des Klosters und verstand sich als Schutzherr. Auch in der Folgezeit versah er die Karthause in Notzeiten mit zusätzlichem Besitz. Erlichhau- sen (gest. 1449 in der Marienburg) wollte wohl in der Karthause begraben werden, zumindest sollte sein Andenken im Kloster gesichert werden,6 wie ein noch zu Beginn des 20. Jahrhundert vorhandener Grab- oder Gedenkstein mit seinem Na- men zeigt.7 Das Kloster wurde seitens des Ordens aber nicht ausschließlich als Stiftung des besagten Hochmeisters gesehen, sondern als Stiftung des Ordens selbst, denn die Karthause wurde auch von den nachfolgenden Hochmeistern gefördert.8 Für die Verbindungen des Klosters ins Ordensland ist es von Interesse, dass die Karthäuser auch Kontakte zu Marienburger Bürgern pflegten und sogar Besitz im Hochstift von Pomesanien erworben wurde.9 10 Leider ist der Bau mitsamt der Ausstattung vollständig verloren gegangen, doch immerhin blieb eine Be- schreibung der Anlage erhalten, die Johann Christoph Bekmann im frühen 18. Jahrhundert anfertigte. Er sah auch noch das Retabel in der Klosterkirche, dessen Verlust äußerst schmerzlich ist. Im Mittelteil befand sie die Madonna mit Kind, die auf Konrad von Erlichhausen hinabblickte, der im rechten Flügel kniete. Gegenüber im linken Flügel befanden sich kniende Karthäusermönche. Hinter dem Hochmeis- ter war zu lesen: „Conrat von Erlichhausen, Homeister Duchez Ordenz, Stifter des Klosters“1® 5 Dazu zuletzt Klaus Neitmann, Schivelbein, in: Heinz-Dieter Heimann, Klaus Neitmann und Winfried Schich mit Marlin Bauch, Ellen Franke, Christian Gahlbeck, Christian Popp und Peter Riedel (Hg.), Brandenburgisches Kloslcrbuch. Handbuch der Klöster, Stifte und Kommenden bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, 2 Bde„ Berlin 2007, S. 1073-1085. Erlichhausen war 1432-1441 Großkomtur und Oberster Marschall und 1441-1449 Hochmeister des Deutschen Ordens. Unter Erlichhausen konnte die Herrschaft des Ordens nach der Niederlage bei Tannenberg zeitweise konsolidiert werden. 6 Er wurde allerdings in der St. Annenkapelle der Marienburg begraben. 7 Neitmann (wie Anm. 5), S. 1080. Der Grabstein wird im Kunsldenkmälerinvcntar 1934 beschrie- ben, wobei die Namensinschrift schon nicht mehr lesbar war (Julius KOTHE (Bcarb.): Die Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Pommern. Dritter Teil: Der Regierungsbezirk Köslin, Bd. 111, Die Kreise Schivelbein, Dramburg, Neustettin, Bublitz und Rummelsburg, Stettin 1934, S. 24). 8 Ebenda, S. 1074. 9 Ebenda sowie S. 1077. 10 Ebenda, S. 1080. Die Neumark als Teil der „Terra sanctae Mariae“ 305
Neben dem Retabel hat der Hochmeister 1447 auch die Stiftung der notwendi- gen Vasa Sacra bei seinen Ordensbrüdern angeregt.11 Die Schivelbeiner Karthause ist also als Stiftungskomplex des Deutschen Or- dens in der Neumark kaum zu unterschätzen - man kann nur mutmaßen, was hier verloren gegangen ist. Gerne wüsste man, wie die praktische Umsetzung der Stif- tung geschah. Ob Bauleute aus dem Ordensland mit dem Auftrag betraut wurden, ob das Retabel und andere Ausstattungsstücke bei Künstlern aus dem Ordensland bestellt oder von lokalen Werkstätten geschaffen wurden. Insgesamt ist festzuhaltcn, dass die Denkmalüberlieferung nach der Zerstörung der Bauten des Ordens in der Neumark sehr zu wünschen übrig lässt, wenn es darum gehen soll, kulturelle und künstlerische Beziehungen herauszuarbeiten. Gleichwohl ist es nicht gerechtfertigt und im Hinblick auf das Verlorene geradezu verfälschend, die Neumark gänzlich auszusparen. Es soll daher anhand der erhaltenen Kunstwerke versucht werden, mögliche Bezüge greifbar aufzuzeigen. Retabel des „Löwenmadonnenstils“ Es sei dazu ein Blick auf das ausgehende 14. Jahrhundert gestattet, denn schon in dieser Zeit gab es Kunstwerke, die verwandt sind mit Werken des Ordcnslan- des. Zunächst wären die Retabel aus dem Kreis des Stils der Löwenmadonnen zu nennen. Die zugehörigen Werke bilden bekanntermaßen ein umfangreiches Kon- volut teilweise verblüffend ähnlicher Retabel und Skulpturen, was es schwer macht, schlüssige Werkgruppen voneinander abzugrenzen. Seit Karl Heinz Clasen wird vermutet, dass sich der Stil von Schlesien ausgehend vor allem nach Norden bis nach Finnland hin verbreitet hat.12 Einen zweiten Schwerpunkt hatte er im Ordcnsland. Eine akribische Zusammenstellung samt kritischer Bearbeitung liefer- te Zofia BiaHowicz-Krygierowa mit ihrer Monografie zur Schnitzerei in Polen im 14. Jahrhundert 1981.13 Darin führte sie auch drei Retabel in der Niederlausitz und der Neumark auf, nämlich diejenigen aus Bärfeldc/Smolnica (Kricgsverlust, Abb. 1), Schiedlo/Szydlöw, jetzt im Posener Nationalmuseum (Abb. 2) und Reichen- walde/Radziköw.14 Mittlerweile fanden sich aber auch westlich der Oder weitere Exemplare, so dass man von einer auffälligen Ballung sprechen kann. Es handelt sich um die Retabel und Skulpturen aus Steinsdorf, Neuzelle, beides südlich von Frankfurt an der Oder sowie um Löwenbruch und Rüdnitz bei Berlin.15 Da sich 11 libenda. 12 Karl Heinz CLASEN, Die mittelalterliche Bildhauerkunst im Deutschordensland Preußen. Die Bildwerke bis zur Mille des 15. Jahrhunderts. 2 Bde, Berlin 1939, S. 66ff. Der Begriff „Löwenma- donnenstil“ war schon früh umstritten, da er sich von einem ikonographischen Detail herleitel, aber einen prägnanten Siil meint. Dies hat seine Ursache darin, dass einige der Madonnen dieser Gruppe mitunter die qualitativ hochrangigsten - auf Löwen thronen. Heule wird die Bezeich- nung im Sinne eines Verabredungsbegriffes verwendet. 13 Zofia BlALLOWiCZ-KRYGIEROWA, Studia nad snycerstwem XIV wieku w polsce, 2 Bde., Poznan 1981. 14 libenda, Katalogband S. 38-40 und 42/43. 15 Zusammengestelli bei Peter KNÜVENER, Brandenburg, die Niederlausilz und Schlesien unter Karl IV. - Bemerkungen zu künstlerischen Verbindungen, in: Mateusz KAPUSTKA, Adrzej KOZIEL und Piotr OSZCZANOWSKI, Sl^sk i Czechy. Wspölne drogi sztuki (Schlesien und Böhmen. Gemeinsa- me Wege der Kunst, Festschrift für Jan Wrabec), Breslau 2007, S. 65-75, siehe in Kürze auch: Pe- ter KNÜVENER, Unbekannte Retabel und Skulpturen des spülen 14. Jahrhunderts in Brandenburg 306 Peter Kniivener
die Skulpturen dieser Retabel teilweise sehr ähneln, wäre cs nicht auszuschließen, dass dieselben Künstler verantwortlich gezeichnet haben. Zu vermuten wäre, dass diese aus Schlesien gekommen wären und dann in der aufstrebenden Stadt Frank- furt/Oder ansässig geworden seien. Für engere Zusammenhänge mit Schlesien sprechen Übereinstimmungen mit Skulpturen aus Stare Miasto/Altstadt bei Nams- lau in Schlesien. Nun weist aber gerade das Retabel aus Zitzmar in Westpommern, heute in der Stettiner Jakobikirche, bezüglich des Skulpturcnstils weitgehende Übereinstimmungen zu den märkischen Retabeln auf, wie der Vergleich der Steinsdorfer Madonna mit der Synthronosgruppe aus Zitzmar verdeutlicht. Das Zitzmarer Retabel steht in Pommern eher isoliert, wie schon der Blick auf die Verteilungskarte bei Biallowicz-Krygierowa verdeutlicht. Seit Clasen hat man es mit ordensländischen Werkstätten in Zusammenhang gebracht: „Alle Äußerungen des Löwenmadonnenstils in Norddcutschland und in den Ländern, die er nur auf dem Seewege erreichen konnte, müssen als Ausstrahlungen des Preußischen Raumes angesehen werden.“16 Auch Adam Labuda vertrat jüngst noch diese Im- portthese.17 Es ist nie in Betracht gezogen worden, dass der Formentransfer auch über die Mark Brandenburg stattgefunden haben könnte. Die Annahme einer Werkstatt in Frankfurt könnte eine derartige These stützen. Im Hinblick auf die Bedeutung der Oder als zentraler Handelswcg erscheint eine Verbreitung des Stils von Schlesien über Brandenburg nach Pommern plausibel. Doch damit hätte man nur ein neues Modell des Formentransfers, der insgesamt wohl deutlich komplexer gewesen sein dürfte, als bisher angenommen. Abb. 1: Bärfelde (Smolnica), Dorfkir- che, Flügelaltar, um 1380/90, Kriegs- verlust, Foto: Max Zeisig (Branden- burgisches Landesamt für Denkmal- pflege) und benachbarten Gebieten, in: Jiii Fajt und Andrea LANCER (Hg.): Kunst als Herrscbaitsinstru- menl unter den Luxemburgern (im Druck). 16 Clasen (wie Anm. 12), S. 104. 17 Adam S. Labuda, Das Meer im Blick - Expansion nach Norden, in: Jin l’AJ'f (Hg.): Karl IV. Kaiser von Gottes Gnaden. Kunst und Repräsentation des Hauses Luxemburg 1310-1437, Prag 2006, S. 400-415, hier S. 408. Die Neumark als Teil der „Terra sanctae Mariae“ 307
Abb. 2: Schiedlo (Szydlow), Dorfkirche, Flügelaltar, um 1380/90, jetzt Posen, Nationalmuseum, Foto: Nachlass Mirow, Landesgeschichtliche Vereinigung für die Mark Brandenburg Der Müncheberger Altar Dafür spricht auch das Beispiel des Retabels aus der Graudenzer Ordensburg, heute im Warschauer Nationalmuseum. Es ist eines der zentralen Werke der Male- rei im Deutschordensgebiet kurz vor 1400. Schon früh hat man die künstlerischen Voraussetzungen in der Malerei des in Böhmen tätigen Meisters von Wittingau (Trebon) erkannt, die heute kaum angczweifclt werden.18 Nahe verwandte Werke, gar von der Hand des herausragenden Malers, gibt es im Ordensland nicht - was auch zu der Vermutung führte, dass die Tafel importiert worden sei. Alfred Stan- ge, der sich für einen vermeintlichen niederdeutschen Einfluss stark machte, pub- lizierte die Malereien auf den Altarflügeln eines 1945 zerstörten Retabels aus dem brandenburgischen Müncheberg (Abb. 3-6).19 Es handelt sich um die Geburt und die Epiphanie. Vergleicht man sie mit den entsprechenden Szenen aus Graudenz, sind die Übereinstimmungen kaum zu leugnen. Freilich stammen die Tafeln nicht von demselben Maler und bleiben qualitativ hinter den Graudenzer Malereien zurück. Dennoch darf man sie nicht außer Acht lassen, wie es von der nachfolgen- den Forschung fast ausnahmslos geschah. Man machte sich auch gar nicht deut- 18 Zum Graudenzer Altar siche Alfred STANGE, Deutsche Malerei der Gotik. Zweiter Band: Die Zeit von 1350 bis 1400, Berlin 1936, S. 86ff.; Karl Heinz CLASEN, Der Graudenzer Altar der Marien- burg, in: Marburger Jahrbuch 1944, S. 111-128; Adam Labuda, Die Spiritualität des Deutschen Ordens und die Kunst. Der Graudenzer Altar als Paradigma, in: Zenon Hubert Nowak (Hg.), Die Spiritualität der Ritterorden im Mittelalter (= Ordines Militares - Colloquia Torunensia Historica VII), Thorn 1993, S. 45-73; Malgorzata KoCHANOWSKA-RlilCHE, Grudzi^dz (Graudenz), in: Adam S. Labuda und Krystyna Secomska (Hg.), Malarstwo gotyckie w Polsce (Gotische Malerei in Polen) Bd. 2, Warschau 2004, S. 178-180; Wilfried Franzen, Das Graudenzer Retabel, in: Fajt (wie Anm. 17), S. 418/419; Adam S. Labuda, Graudenzer Altar, in: Bruno Klein (Hg.), Go- tik. Geschichte der Bildenden Kunst in Deutschland Bd. 3, München u. a. 2007, S. 432. 19 Stange (wie Anm. 18), S. 91 f. 308 Peter Knüvener
lieh, wo Müncheberg eigentlich liegt: So schrieb Hilka Wildenhof in ihrer Frank- furter Dissertation zum Altar zur Zeit des Schönen Stils, Frankfurt 1974, Münche- berg läge im Ordensland.20 In der polnischen Forschung tauchte das Retabel mei- nes Wissens, bis auf eine kurze Erwähnung in einem Aufsatz von Adam Labuda, nicht auf/1 weshalb es hier beschrieben sei.22 Abb. 3: Müncheberg, Marienkirche (später Kreismuseum), Hochaltarretabel, um 1380/90, Kriegsverlust, Foto: Bildarchiv Foto Marburg Abb. 4: Müncheberg (wie Abb. 3), Schrein, Foto: Bildarchiv Foto Marburg 20 Hilka WlLDENHOI«; Der Wandel des Schnitzallarcs vom letzten Drittel des 14. Jahrhunderts bis zum Ende des weichen Stils, Diss. Frankfurt 1974, Kalalognummer 78. 21 Labuda 1993 (wie Anm. 18). 22 Zuletzt zum Müncheberger Retabel siehe Peter KNÜVENER, Kunst zwischen Posen und Berlin. Der Müncheberger Flügelaltar aus dem späten 14. Jahrhundert, in: Katja Bernhardt/Piotr Piotrowski (Hg.), Grenzen überwindend. Festschrift für Adam S. Labuda zum 60. Geburtstag, auf CD (14 Sei- len). Die Neumark als Teil der „ Terra sanctae Mariae “ 309
Abb. 5: Müncheberg (wie Abb. 3), Außenseite eines Altarflügels: Epiphanie, Foto: Brandenburgisches Landes- amt für Denkmalpflege Abb. 6: Müncheberg (wie Abb. 3), Außenseite eines Altarflügels: Geburt Christi, Foto: Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpfle- ge 310 Peter Knüvener
Der Müncheberger Altar war ein Triptychon mit geschnitzter Festtagsseite und gemalter Werktagsseite. Im Schrein befand sich die Marienkrönung zwischen Heiligen, in den Flügeln waren je drei weitere Heilige aufgestcllt.23 Das Retabel ist als direkter Nachfolger des Böhmischen Altars aus dem Branden- burger Dom anzusprechen. Dieses 1375 aufgestellte Retabel wurde, wie die Holz- untersuchungen ergaben, aus Böhmen importiert und dürfte mit Reliquienstiftun- gen Karls IV. in Zusammenhang gestanden haben (Abb. 7).24 Der Stil seiner Ma- lereien und Skulptur fand in der Mark weitgehenden Niederschlag, wie zahlreiche Denkmäler, darunter eben der Müncheberger Altar, bezeugen. Man könnte den Skulpturenstil dort mit den straff um die Körper gerafften Gewändern und den gespannten Falten als Reduktionsform der Formen des Böhmischen Altars be- zeichnen. Als Ort der Werkstatt kommt das nahe Frankfurt an der Oder in Frage, wo sich bis zum Kriege sogar noch eine stilistisch eng verwandte Skulptur erhal- ten hatte.25 In dieser Stadt, die von Karl IV. bekanntermaßen intensiv gefördert wurde, wie noch der Portikus der Marienkirche mit seinen Wappen belegt26, liefen offenbar viele künstlerische Fäden zusammen. Dies wird am Müncheberger Altar deutlich, dessen Epiphanie zahlreiche Übereinstimmungen mit einem Wandge- mälde im Böhmischen Libis aufweist.27 Die hier aufgezeigten Beziehungsgeflech- tc machen deutlich, wie verwurzelt die böhmische Kunst in der Mark war. Man kann von eingewanderten Werkstätten vor Ort ausgehen. Gleichwohl verfügen wir nur über einen Bruchteil des einst Dagewesenen: So ist aus Frankfurt an der Oder selbst mit Ausnahme des gezeigten ruinösen Apostels kein Retabel erhalten ge- blieben (Abb. 8). Es kann vermutet werden, dass diese Stadt eine nicht geringe Bedeutung in der Wcitcrvcrmittlung der böhmischen Kunst gespielt hat. Es stellt sich nun die Frage nach der Art des Zusammenhanges der Retabel in Graudenz und Müncheberg; doch gerade dies ist nicht zuletzt aufgrund des Ver- lustes des märkischen Retabels kaum noch zu klären. Handelt cs sich um Werke, die beide gleichermaßen in Böhmen wurzeln oder ist der Zusammenhang doch 23 Von dem seit dem Krieg verschollenen Retabel ist in Müncheberg ausschließlich das Relief eines Engels aus der Wimpergbekrönung vorhanden. 24 Grundlegend dazu Robert NISSEN, Die Plastik in Brandenburg a. H. von ca. 1350 bis ca. 1450, in: Jahrbuch für Kunstwissenschaft 1929, 61-99; Hannelore SACHS und Wolf-Dieter KUNZE, Der Böhmische Altar im Dom zu Brandenburg, in: Ernst Badstübner und Hannelore Sachs (Hg.), Denkmale in Berlin und Brandenburg, Berlin 1987, S. 171-87; Jin Fajt, Brandenburg wird böh- misch. Kunst als Herrschaflsinstrument, in: Ernst Badstübner, Peter Knüvener, Adam S. Labuda und Dirk Schumann (Hg.), Die Kunst des Mittelalters in der Mark Brandenburg. Tradition - Transformation - Innovation, Berlin 2008, S. 202-251; zu den dcndrochronologischen Untersu- chungen des Böhmischen Altars siehe Tilo Schöfbeck und Karl-Uwe Heußner, Dendrochronologi- sche Untersuchungen an mittelalterlichen Kunstwerken zwischen Elbe und Oder, in: Badstüb- ner/Knüvener/Labuda/Schumann (wie oben), S. 172-87. 25 Knüvener (wie Anm. 15), S. 66. 26 Fajt (wie Anm. 24), S. 221 ff. 27 Der bemerkenswerte Zyklus in dieser Kirche besitzt auch mit einem Wandgemälde in der Frank- furter Marienkirche sein Gegenstück. Es handelt sich um eine erst kürzlich entdeckte und leider sehr verblasste Darstellung der Apokalyptischen Madonna, die von der tiburtinischcn Sibylle und Kaiser Augustus flankiert wird (Dazu Jan RAUE, Böhmische und böhmisch beeinflusste Wandma- lerei im heutigen Brandenburg. Die Beispiele der Frankfurter Mondsichelmadonna und der Herz- berger Gewölbemalereien, in: Badslübner/Knüvener/Labuda/Schumann (wie Anm. 24), S. 261- 281). Ganz ähnlich, wenngleich seitenverkehrt, ist die Situation in Libis. Dazu Jin FAJT und Bar- bara Drake Boehm, Wenzel IV., 1361-1419. Hcrrschaflsrepräscntalion in den Fußslapfen des Va- ters, in: FAJT (wie Anm. 17) S. 461-81, hier bes. S. 469. Die Neumark als Teil der „ Terra sanctae Mariae" 31 1
enger? Spielte die Maik eine Rolle bei der Vermittlung des böhmischen Stils ins Ordensland? Abb. 7: Brandenburg Dom, ehemaliges Hochaltarretabel, sog. Böhmischer Altar, um 1375, Foto: Peter Knüvener Abb. 8: Frankfurt an der Oder, wohl ehemals Marienkirche, später Museum, Apostelskulptur, um 1370 (Kriegsverlust), Foto: Bildarchiv Foto Marburg 312 Peter Knüvener
Das Retabel aus Brausfelde aus der Sammlung des Märkischen Provinzialmuseums Aus der Folgezeit liegen Werke vor, die konkrete künstlerischen Verbindun- gen belegen oder zumindest wahrscheinlich werden lassen. Besonders bemer- kenswert sind die Skulpturen eines Retabels aus Braunsfelde/Bronowice bei Land- sberg/Warthe, heute in der Sammlung der Stiftung Stadtmuseum Berlin (sprich die Sammlung des Märkischen Museums, Inv. Nr. IV 3084, Abb. 9-12). Erhalten blieb ein Schrein28 mit einer thronenden Madonna, die von zwei Heiligen flankiert wird. Es zeigt sich, dass hier in der nördlichen Neumark ein Schnitzer am Werk war, der Hauptwerke unter den Schönen Madonnen29 gekannt haben wird, ver- gleicht man etwa die Physiognomie und den Körperbau des kräftigen Kindes. Vergleichen könnte man mit der Madonna etwa die Sitzmadonna aus der Teynkir- che in Prag.30 Dabei war der neumärkische Schnitzer durchaus einfallsreich, wie die eigenartige Disposition des Kindes auf einem kleinen Kissen - dafür konnte bislang kein Vergleich ausfindig gemacht werden - zeigt. Die Braunsfelder Skulp- turen erscheinen in der Mark zunächst künstlerisch nicht unbedingt fremd: Auf derselben Stilstufe stehen Werke wie die Skulpturen des Jüterboger Altars und Umkreis - also Skulpturen, die ihrerseits in der böhmischen Kunst ihre Vorausset- zungen haben (Abb. 13).31 Eine Entstehung in einem lokalen Atelier wäre damit im Hinblick darauf und auf das oben, im Zusammenhang mit dem Müncheberger Altar Ausgeführte überhaupt nicht abwegig. Die jüngst am Deutschen Archäologi- schen Institut Berlin durchgeführten Holzuntersuchungen zeigten aber, dass das Kiefernholz des Schreins am ehesten mit den Vergleichswerten aus dem Danziger Raum übereinstimmt, was eine Entstehung daselbst und damit einen Import in die Neumark denkbar macht.32 Künstlerisch ist dies durchaus vertretbar, gibt es doch in Danzig eine thronende Madonna, die der Braunsfelder Skulptur erstaunlich 28 Der Schrein ist vermutlich nachträglich - vielleicht im Museum - verändert, vermutlich verkürzt, worden. Das schon lange nicht mehr ausgestellte Retabel ist derzeit magaziniert. Die Restaurie- rung der leider teilweise durch Hylotox kontaminierten Skulpturen hat begonnen, es ist geplant, das Werk in Zukunft wieder auszustellen. Die weibliche Heilige ohne Attribut wurde bereits von Alexandra Böhme (Hochschule für Bildende Künste Dresden) gefestigt, gereinigt und teilweise von Hylotox befreit. 29 Etwa die Stemberger Madonna (Karl Heinz CLASEN, Der Meister der Schönen Madonnen. Her- kunft, Entfaltung und Umkreis, Berlin/New York 1974, S. 60ff.; Jin Fajt und Robert SüCKALE, Die Stemberger Schöne Madonna, in: FAJT (wie Anm. 17), S. 549) oder die Pilsener Madonna (Clasen (ebenda], S. 69ff.). 30 Milena BARTLOVÄ, Thronende Madonna der Prager Teynkirche, in: Fajt (wie Anm. 17), S. 563. 31 Maria DEITERS, Kunst um 1400 im Erzstift Magdeburg. Studien zur Rekonstruktion eines verlorenen Zentrums, Berlin 2006 (zugl. Diss. TU Berlin 2002), S. 1391E; Peter KNÜVENER, Zur Kunst des Klos- ters Zinna und anderer märkischer Zisterzienserklöster im Spätmittelalter, in: Dirk Schumann (Hg.), Sachkultur und Religiöse Praxis (= Studien zur Geschichte, Kunst und Kultur der Zisterzienser 8) Berlin 2007, S. 265-89. 32 Nach einem Zwischenbericht von Karl-Uwe Heußner vom 19.1.2008. Die Untersuchungen des Retabels - durchgeführt durch Steffen-Tilo Schöfbeck und Karl-Uwe Heußner - stehen im Zu- sammenhang mit der derzeit laufenden Katalogbearbeitung der Sammlung des Berliner Stadtmu- seums. Diese wird vom Autor durchgeführt und von der Getty-Foundation (Los Angeles) geför- dert. Problematisch ist allerdings, dass in Danzig (wie in anderen Seehansestädten auch) Holz in großem Stil aus dem Hinterland importiert wurde, was bei der Feststellung der Holzprovenienz problematisch ist. So besteht natürlich die Gefahr eines Zirkelschlusses, da der Einzugsbereich Danzigs bis in die nördliche Neumark reichen kann - wenngleich dies recht unwahrscheinlich ist. Die Neumark als Teil der „Terra sanctae Mariae“ 313
nahe steht: Es handelt sich um die Madonna im Nationalmuseum, für die eine Herkunft aus der Marienkirche angenommen wird (Inv. Nr. MNG/SD/57/Rz, Abb. 14). Die böhmischen Voraussetzungen dieser Figur wurden stets betont.33 Die Gesamtkomposition mit dem sich seitlich vorbeugenden, gedrungenen Christus- kind ist sehr ähnlich, ebenso der länglich-schmale Gesichtstyp der Madonna - sieht man einmal davon ab, dass das Kind in Danzig auf der linken Seite gehalten wird und die Komposition dadurch spiegelbildlich ist. Zwar wird man - auch aus technologischen Gesichtspunkten34 - wohl nicht davon ausgehen können, dass die Braunsfelder Skulpturen in derselben Danziger Werkstatt entstanden sind; doch dürfte ein enger Zusammenhang in Betracht kommen. Die Braunsfelder Figuren werden, ähnlich wie die Danziger Madonna, um 1420/30 zu datieren sein.35 Mit dem Retabel aus Braunsfelde liegt somit ein Hinweis für einen künstlerischen Austausch gehobenen Niveaus mit dem Ordenland vor. Abb. 9: Braunsfelde (Bronowice), Flügelaltar, Schrein, Stiftung Stadtmuseum Berlin (Sammlung des Märkischen Provinzialmuseums), um 1420, Foto: Peter Knüvener, siehe Farbtafel 24 33 CLASEN 1939, S. 161 f. stellt eine Verbindung zu den Schönen Madonnen her, während Monika JaküBEK-Raczowska, Die Einflüsse Böhmens auf die gotische Skulptur im Ordensland Preußen. Ein Überblick im Lichte der neusten Forschungen, in: Fajt/Langer (wie Anm. 15) die Nähe zum Meister der Prager Teynkirchenkreuzigung herausarbeilet. 34 So sind die Braunsfelder Figuren schnitzerisch nur grob ausgeführt und erfuhren durch die Fas- sung ihre plastische Vollendung (siehe etwa die Gestaltung der Haare), während die Danziger Ma- donna vom Schnitzer weiter ausgearbeitet wurde. 35 Der letzte vorhandene Jahrring am Schrein stammt von 1392, Waldkante ist nicht vorhanden, so dass über das Fälljahr des Baumes kein Urteil möglich ist. 314 Peter Knüvener
Abb. 10: Braunsfelde (wie Abb. 9): Madonna, Foto: Peter Knüvener Abb. 11: Braunsfelde (wie Abb. 9): Haupt einer heiligen (Barbara?), Foto: Peter Knüvener Abb. 12: Braunsfelde (wie Abb. 9): Jesuskind, Foto: Peter Knüvener Abb. 13: Jüterbog, Nikolaikirche, Madonna aus dem ehemaligen Hochaltarretabel, um 1430, Foto: Peter Knüvener Abb. 14: Danzig, Nationalmuseum, wohl ehemals Marienkirche, Madonna, um 1420, Foto: nach Clasen 1939 Die Neumark als Teil der „Terra sanctae Mariae" 315
Die Wandmalereien in Quartschen Wohl etwa gleichzeitig mit dem Braunsfelder Retabel wurde in der Kapelle der Johanniterkommende Quartschen/Chwarszczany unweit von Küstrin ein ans- pruchsvoller Wandmalereizyklus geschaffen. Die Malereien umlaufen alle Wände der Kapelle zwischen den schlanken Lanzettfenstern (Abb. 15-17 a, b). Im Lang- haus sind mächtige thronende Heiligenfiguren unter differenzierten und fabelhaft verschachtelten Architekturbaldachinen dargestellt. Dieses thronende Heiligenkol- legium ist als vorbildhafte Entsprechung der Ordensbrüder, die ihre Stundengebete in den Chorgestühlen unterhalb verrichteten, zu verstehen. An bevorzugter Stelle im Chor befinden sich zwischen den Fenstern Heilige Jungfrauen. Sie stehen und werden ebenfalls von Architekturbaldachinen bekrönt. Der Zyklus wirkt sehr einheitlich - einzig eine isolierte Christophorusdarstellung fällt aus dem Rahmen. Wie man aber wohl zu Recht angenommen hat, ist sie früher zu datieren - viel- leicht ins 14. Jh. - und wurde pietätvoll in den jüngeren, nach der vorherrschenden Meinung um 1410/20 zu datierenden Zyklus eingebunden.36 Abb. 15: Quartschen (Chwarsczcany), ehemalige Johanniterkirche, Wandmalereizyklus, um 1430, Foto: Peter Knüvener 36 Jerzy Domaslowski, Pomorzc Zachodnic i Ziema Lubuska, in: Jerzy Domaslowski, Alicia Karlowska-Kamzowa, Marian KORNIiCKl und Helena Malkiewiczöwna, Gotyckie malarslwo scienne w Polsce, Poznan 1984, S. 163-167, hier bes. S. 164; ders., Chwarszczany (Quartschen), in: LABUDA/SECOMSKA (wie Anm. 18), S. 27. 316 Peter Knüvener
Die Malereien haben eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Sie wurden Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt und nach der Freilegung retuschiert und über- malt. Im Kunstdenkmälerinventar Kreis Königsberg wurden sie publiziert.37 Nicht lange nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie übertüncht und daraufhin nur noch sporadisch genannt, bis sie 1996 wieder freigelegt und erneut Forschungsgegens- tand wurden, ohne dass sie jedoch erschöpfend behandelt worden wären. So wur- den sie mit den seit dem Krieg verlorenen Glasmalereien der Königsberger Ma- rienkirche in Zusammenhang gebracht, u.a., weil die Architekturbaldachine dort gewisse Ähnlichkeiten aufweisen sollen.38 Einerseits scheinen die Baldachine in Quatschen doch deutlich differenzierter zu sein, so dass sich ein direkter Vergleich nicht anbietet. Stilistisch sind die Glasmalereien, die aufgrund der Baugeschichte der Marienkirche ins frühe 15. Jahrhundert oder gar noch ins späte 14. Jahrhundert datiert werden können, vor die Quartschener Malereien zu setzen. So besitzen die Figuren durchaus noch eine Körperlichkeit, die Stoffe spannen sich um die Kör- per, sie sind plastisch. Die Heiligen in Quartschen wirken demhingegen substanz- los und werden von Gewändern umschwebt, die in große und weich schwingende Falten gelegt sind. Abb. 16 Quartschen (wie Abb. 15), thronender Apostel, Foto: Peter Knüvener 37 Friedrich SOLGER, Willy HOPPE, Georg VOSS (Bearb.), Die Kunstdenkmäler der Provinz Bran- denburg, Bd. 7,1: Kreis Königsberg (Neumark), Berlin 1928, S. 412-423. Hier werden die Male- reien in die Mitte des 14. Jahrhunderts gesetzt, was aufgrund der weich fallenden Gcwanddrape- ricn kaum denkbar erscheint. 38 Domaslowski (wie Anm. 36). SOLGER/HoPPE/Voss (S. 422) nannten eine Glasmalerei aus der Lübecker Katharinenkirchc sowie aus dem Schweriner Museum (Inv. Nr. 4646). Die Neumark als Teil der „ Terra sanctae Mariae “ 317
Abb. 17 a, b: Quartschen (wie Abb. 15), stehende Heilige, Foto: Peter Knüvener Die Glasmalereien der Marienkirche wurden seit Hoppe/Solger/Voss, den Be- arbeitern des Inventarbandes Kreis Königsberg, mit den Glasmalereien der Lübe- cker Burgkirche zusammengebracht. Diese weisen aber nur entfernte Ähnlichkei- ten auf, wie bereits Monika Böning bemerkte, die sich mit den Lübecker Scheiben auseinandersetzte.39 Zur Vorbildlichkeit Lübecks ist zu sagen, dass die Bearbeiter des Inventarbandes für sehr viele Skulpturen und Malereien nach Vergleichbarem in Lübeck suchten.40 Meines Erachtens sollten die gut dokumentierten Glasmale- reien unvoreingenommen untersucht werden. Die Quartschener Malereien haben mit den Glasmalereien hingegen wohl wenig zu tun, auch der Hinweis auf Lü- beck, von der jüngeren Forschung im Hinblick auf das zu den Glasmalereien Gesagte geäußert41, hilft nicht weiter. Es wäre grundsätzlich zu überlegen, wann die Malereien eigentlich ausgeführt worden sind. Im Hinblick auf die Stilstufe sind sie durchaus mit einem Zyklus in Strausberg bei Berlin vergleichbar, der durch Quellen und vor allem durch eine Inschrift fest datiert ist. Die Inschrift besagt, dass das Gewölbe mitsamt der Malereien 1448 fertiggestellt worden ist.42 Vergleicht man nun einzelne Heiligengestalten bezüglich der Stofflichkeit mitei- 39 Monika BÖNING, Die mittelalterlichen Glasmalereien aus der ehemaligen Dominikanerkirche in Lübeck, Diss FU Berlin 1994 (Microfiche 1996), S. 213. 40 Z. B. SOLGER/HOPPE/VOSS (wie Anm. 37), S. LIXff. und S. 51 ff. 41 Domaslowski (2004, wie Anm. 36), S. 27. 42 Die Strausberger Malereien sind eingehend restauratorisch untersucht worden, wobei sich rauss- tellte, dass sie nur sehr wenig übermalt sind. Hans BURGER, Die Gewölbemalereien im Chor der Pfarrkirche zu Strausberg, in: Brandenburgische Denkmalpflege 2/1992, S. 87-90. 318 Peter Knüvener
nander, lässt sich durchaus Verwandtes finden, ohne dass die Malereien freilich in einem näheren - werkstattmäßigen - Zusammenhang zu stehen brauchen (Abb. 18) 43 Abb. 18: Strausberg, Marienkirche, hl. Margaretha, Malereizyklus im Chorgewölbe fertiggestellt 1448, Foto: Peter Knüvener, siehe Farbtafel 25 Man muss es also zumindest in Erwägung ziehen, dass auch die Quartschener Malereien später als bisher angenommen ausgeführt wurden. Damit stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang, bzw. dem Anlass. Dazu ist ein Hinweis auf die wechselvolle Geschichte der 1430er Jahren angebracht, in der die Johanniter eine etwas zwiespältige Rolle gespielt haben. So wurde die Mark Brandenburg in den 1430er Jahren mehrfach von Hussitenzügen heimgesucht. In diesem Zusammen- hang gab es eine Annäherung des Deutschen Ordens an den Johanniterorden, da jener über einige bedeutende Burgen in der Neumark verfügte und einen wichti- gen Beitrag zum Schutz des Landes leisten konnte. Beim Hussitenzug 1433 ver- folgten die Johanniter jedoch eigene, gegen den Deutschen Orden gerichtete Ziele, indem sie im Angesicht des mit Polen verstärkten Hussitenheeres die Burg Zan- toch/Santok räumten und somit den Weg desselben in die Neumark freimachte. Es kam in der Folge zu schweren Verwüstungen, wobei gemäß einer Abmachung die Güter der Johanniter ausgespart wurden. Aufgrund dieses Verrates besetzte der Deutsche Orden noch im selben Jahr die Johanniterkommenden, darunter Quart- schen, für einige Jahre. Später hat sich das Verhältnis jedoch wieder entspannt und es kam zur Annäherung beider Orden.44 Es ist nicht abwegig, dass die Malereien 43 Die Draperieformen mit den schürzenarlig vor dem Leib herabhängenden und stark ondulierenden Gewanddraperien unterscheiden sich in Quarlschcn motivisch sehr von denen in Strausberg - dort dominiert das Motiv der Schüsselfalte. Im Ordcnsland finden sich Skulpturen mit ähnlichen Dra- perien wie in Quartschen, genannt seien eine heilige Barbara aus der Thorner Johanniskirchc (jetzt Pelplin, Diözesanmuseum) oder eine heilige Elisabeth in der Pfarrkirche St. Johannis in Marien- burg. Beide Kalksteinfiguren werden um 1385 datiert. 44 Christian Gai-ILBECK, Quartschen, in: Brandenburgisches Kloslcrbuch (wie Anm. 5), S. 991-1018. Die Neumark als Teil der „Terra sanctae Mariae" 319
in diesem Zeitraum entstanden, wobei es kaum zu belegen sein wird, dass der Deutsche Orden einen Anteil daran gehabt haben könnte. Immerhin gibt es aber ein ikonographisches Detail, das bisher übersehen wurde. So befindet sich unter den Heiligen im Chor eine Heilige mit einer Sonnenscheibe als Attribut (Abb. 17 b). Diese ist als Jutta von Sangerhausen zu identifizieren, eine aus dem Harzgebiet - eben aus Sangerhausen - stammende Frau, die sich wohl nach dem Vorbild Elisa- beths von Thüringen der Krankenpflege widmete. Sie ging auf Geheiß des Hoch- meisters Anno von Sangerhausen 1256 nach Preußen und lebte als Einsiedlerin in Kulmsee. Dort wurde sie nach ihrem Tod in der Kathedrale begraben.45 Nun ist die These verführerisch, im Auftreten der Heiligen in Quartschen einen Hinweis für die Propagierung der Heiligen durch den Deutschen Orden erblicken zu wollen. Die selige Jutta, die nie kanonisiert wurde, wird heute noch in Preußen verehrt. Allerdings gibt es bisher keine Hinweise, dass ihr Kult bis ins Mittelalter zurückginge geschweige denn vom Deutschen Orden propagiert worden wäre. Wie Hedwig Röckelein unlängst nachwies46, waren es die Franziskaner zu Zeiten der Gegenreformation, die die Verehrung Juttas forcierten. Dementsprechend gibt es im Ordensland auch keine bekannten mittelalterlichen Darstellungen von ihr, die als Vergleich dienen und darüber Aufschluss geben könnten, warum die Heili- ge in Quartschen abgebildet wurde. Resümee Es bleibt festzuhalten, dass die Forschung weder vor dem Dilemma der feh- lenden Quellen noch vor dem Mangel an bedeutenden Kunstwerken steht - nur fällt die Verknüpfung von schriftlicher Überlieferung und Kunstwerken bislang schwer. Allerdings kann hier in Zukunft noch einiges geleistet werden. Obwohl die Zusammenhänge sich bislang nur schemenhaft abzeichnen, spricht vieles da- für, dass die Neumark nicht wie bisher angenommen für den Orden gänzlich ab- seitig war. Sie sollte in Zukunft verstärkt in die kunsthistorischen Forschungen einbezogen zu werden. Hier konnten nur einige Fallbeispiele vorgeführt werden. Gerade die bildkünstlcrischen Werke in der Neumark - zum Teil von der langjäh- rigen Kustodin des Stettiner Nationalmuseums Zofia Krzymuska-Fafius erschlos- sen47 - sollten von der überregionalen Forschung wahrgenommen und neu - auch in technologischer Hinsicht - befragt werden. 45 Ekkehard SAUSER, Jutta von Sangerhausen, in: Friedrich Wilhelm und Traugott Bautz (Hg.), Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 18, Hamm 2001, Sp. 774. 46 Hedwig RÖCKELEIN, Jutta von Sangerhausen (um 1210-1260) - der gescheiterte Versuch einer Kanonisation?, in: Ludwig Modi u. Stefan Samerski (Hg.), Global-Playcr der Kirche? Heilige und Heiligsprechung im universalen Verkündigungsauftrag, Würzburg 2006 S. 126-156. 47 Dazu siehe besonders Zofia KRZYMUSKA-FAFIUS, Plastyka gotycka na pomorzu Zachodnim (Gotische Plastik in Weslpommem). Katalog zbioröw, Stettin 1962 sowie DIES., Einige Bemer- kungen über die Verbindungen der mittelalterlichen Skulptur von Westpommern und Branden- burg, in: Lothar Lambacher und Frank Matthias Kammei (Hg.), Die Mittelalterliche Plastik in der Mark Brandenburg. Protokollband des internationalen Kolloquiums vom 2. Bis 4. März 1989 in den Staatlichen Museen zu Berlin/Bodcmuscum, Berlin 1990, S. 108-114. 320 Peter Knüvener
Farbtafeln
Farbtafel 1: Mosaikmadonna der Schlosskirche der Marienburg, Archiv Foto Marburg, siehe Arnold, Maria als Patronin, Abb. 3
Farbtafel 2: Turm Davids, siehe Arnold, Maria als Patronin, Abb. 10 Farbtafel 3: Konventshaus der Marienburg, mit Madonnenfigur in der Ostnische der Schlosskirche (Ausschnitt aus der „Belagerung der Marienburg“, um 1480, aus dem Danziger Artushof), siehe Pospiezny, Marienburg - castrum et civitas, Abb. 2
Farbtafel 4: Marienburg, Kapitelsaal des Konventhauses, Wandmalerei mit der Darstellung der thronenden Königin Maria in Begleitung der Hochmeister, siehe Pospieszny, wie oben, Abb. 4 Farbtafel 5: Marienburg, Chor der Schlosskirche mit Wehrmauer, siehe Pospieszny, wie oben, Abb. 6 a
Farbtafel 6: Rabbula-Evangliar, Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, siehe Boesten-Stengel, Abb. 7 Farbtafel 7: Marienwerder, Domkirche, Chor, Wandmalerei, Maria mit Kind, siehe Krantz-Domaslowska , Der „Mariencharakter", Abb. 11
Farbtafel 8: Marienwerder, Domkirche, Mosaik über der Vorhalle, siehe Krantz-Domaslowska, wie oben, Abb. 16 Farbtafel 9: Königsberg Pr., Chor des Domes, Figur Mariens an der Südwand. Nach Clasen 1939, Abb. 40, siehe Raczkowski, Die Marienaussage, Abb. 6
Farbtafel 10: Das Jüngste Gericht mit der Marienkrönung, Apokalypsenkommentar des Heinrich von Hesler, siehe Dygdala-Klosiriska, Die apokalyptische Gottesmutter, Abb. 1 a
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Farbtafel 12: Kampf der Ordensritter gegen Gog und Magog, Apokalypsenkommentar des Heinrich von Hesler, siehe Dygdala-Klosiriska, wie oben, Abb. 2 Farbtafel 13: Marienburg, Großer Remter, Krönung Mariens, siehe Dygdala-Klosiriska, wie oben, Abb. 2
Farbtafel 14: Johannes schaut die Apokalyptische Frau, Torun, BUMK, Rps. 64/III, fol. 117rb, siehe Jagodzinski, „knecht und frowe", Abb. 8 Farbtafel 15: Pelplin, ehern. Zisterzienserkirche, Chorgestühl, Geburt Christi, siehe Wagner, das „Defensorium“, Abb. 3
Farbtafel 16: Kulm, St. Marien, Schlussstein mit Straußenvogel, siehe Jurkowlaniec, Straußeneier in Preußen, Abb. 2 Farbtafel 17: Schreinmadonna aus Elbing/Elblqg, siehe Radler, Schreinmadonnen, Abb. 5
Farbtafel 18: Danzig/Gdarisk, Marienkirche, Schöne Madonna in dem Priesterbruderschaftsaltar, siehe Jakubek-Raczkowska, Die „Schönen Madonnen“, Abb. 3 Farbtafel 19: Thorn/Torun, St. Johanneskirche, Ekstase der Maria Magdalena, siehe Jakubek-Raczkowska, wie oben, Abb. 6
Farbtafel 20 und 21: Die Nachbildung der Schönen Madonna auf der Moses-Konsole in St. Johannis zu Thorn und Schöne Madonna im Mittelschrein eines Wandelretabels in St. Nikolai zu Stralsund, siehe Kunkel, Die Stralsunder Junge-Madonna, Abb. 1 und 2
Farbtafel 22: Marburg, Elisabethkirche, Glasfenster, Rundmedaillon, siehe Müller, Die hl. Elisabeth, Abb. 13 Farbtafel 23: Marburg, Elisabethkirche, Glasfenster, Sterbeszene Elisabetzs, siehe Müller, wie oben, Abb. 14
Farbtafel 24: Braunsfelde (Bronowice), Flügelaltar, Schrein, siehe Knüvener, Die Neumark, Abb. 9 Farbtafel 25: Strausberg, Marienkirche, heilige Margaretha, Malereizyklus im Chorgewölbe, siehe Knüvener, wie oben, Abb. 18